Würde und Autonomie in der geriatrischen Langzeitpflege

Imago Hominis (2012); 19(1): 15-25
Doris Pfabigan

Zusammenfassung

Die Achtung der Würde und Autonomie wird in verschiedenen Gesetzen, in den Leitbildern der Organisationen sowie in unterschiedlichen Pflegetheorien immer wieder eingemahnt. Was darunter jedoch genau zu verstehen ist, bleibt weitgehend im Dunkeln. Das Forschungsprojekt „Würde und Autonomie im Kontext geriatrischer Langzeitpflege“1 widmete sich diesen gesellschaftlichen Fragen. Dabei wurden die Begriffe Würde und Autonomie theoretisch aufgearbeitet und durch die Sichtweise hilfsbedürftiger alter Menschen, deren Angehörige sowie Pflege- und Betreuungspersonen anschaulich gemacht und konkretisiert. Zentrale Ergebnisse des Projekts sowie Herausforderungen für die Praxis sollen im folgenden Artikel dargestellt werden.

Schlüsselwörter: Würde, Autonomie, Ethik, geriatrische Langzeitpflege

Abstract

Ensuring dignity and autonomy is claimed by lawmakers, organisational mission-statements and care theories. The precise meaning of these goals however remains opaque. The research project “Dignity and Autonomy in the Context of Geriatric Long-term-Care” elaborates this problem by analysing the terms theoretically and illustrating the point of view of people in need of care, their relatives and caretakers. Major findings of the project as well as challenges to practical care are described in the article below.

Keywords: Dignity, Autonomy, Ethics, Geriatric long-term-care


Theoretischer Hintergrund

Menschenwürde gehört zu den schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffen der Moralphilosophie. Welchen Status und welche Bedeutung die Menschenwürde besitzt und wie sie begründungstheoretisch definiert werden kann, darüber herrscht in der philosophischen Debatte jedoch weitgehend Uneinigkeit. Hat uns die Natur oder Gott mit würdebegründenden Eigenschaften ausgestattet, ist es die Fähigkeit zur moralischen Autonomie, die der Menschheit einen unvergleichlichen moralischen Wert verleiht? Ist jeder Mensch Träger der Würde oder nur der „normale“ „erwachsene“ Mensch, der zukunftsbezogene Wünsche hat und über „Ichbewusstsein“ verfügt?2 Wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, hängt davon ab, welches Bild des Menschen und welches Verständnis von Ethik vorausgesetzt werden.

Der hier vorgeschlagenen Deutung der Menschenwürde liegt ein Ethikverständnis zugrunde, das als Ausgangspunkt moralischer Rücksichtnahme die geteilte Verletzlichkeit, die gemeinsame Körperlichkeit, aber auch unsere Sehnsucht nach einem gelingenden Leben bestimmt.3 Um den Umständen gerecht zu werden, dass der Mensch in ständiger Spannung zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit lebt4 und dass er seiner Naturhaftigkeit sowie der damit verbundenen Bedürftigkeit nicht entkommen kann, ist ein Würdeverständnis gefordert, das diese Dimensionen des Menschseins berücksichtigt.

Verletzbar ist der Mensch nicht nur durch seine leibliche Verfasstheit, die ihn als Bedürfniswesen auszeichnet, sondern auch weil die menschliche Existenz einen dialogischen Charakter besitzt.5 Das bedeutet, dass personale Identität nur im Kontext von Intersubjektivität entwickelt und bewahrt werden kann und der Mensch dabei auf die Anerkennung durch andere angewiesen ist. Personale Identität auszubilden und zu erhalten, stellt insofern eine anthropologische Grundaufgabe des Menschen dar, als es dabei immer um eine Passung zwischen subjektivem „Inneren“ und gesellschaftlichem „Außen“ geht und erst dadurch eine „Selbstverortung“ des Subjekts ermöglicht wird.6

Die motivationale Kraft personaler Lebensführung liefert die Selbstachtung, die den Kern der Identität bildet. Selbstachtung hat zwei Seiten. Die sichere Überzeugung, dass die eigenen Vorstellungen darüber, was im Leben wichtig ist, es wert sind, verwirklicht zu werden, macht das Selbstwertgefühl aus. Das Selbstvertrauen speist sich aus der Sicherheit, die Fähigkeiten zu besitzen, diese Absichten so weit wie möglich verwirklichen zu können.7 Wird die Selbstachtung durch Vorenthalten von Anerkennung oder Missachtung untergraben, so geht die motivationale Lebenskraft verloren: „[N]ichts [scheint] der Mühe wert, oder wenn etwas wertvoll erscheint, dann fehlt der Wille sich dafür einzusetzen. Alles Streben und alle Tätigkeit wird schal und leer, man versinkt in Teilnahmslosigkeit und Zynismus.“8 Sich selbst als achtenswerte und wertgeschätzte Person ansehen zu können, muss also als sozial-anthropologisches Grundbedürfnis anerkannt werden.

Selbstachtung bildet damit die allgemeine und basale Voraussetzung für gelingende Identitätsbildung und der Möglichkeit, im eigenen Lebensentwurf aufzugehen. Die innere Werthaltung der Selbstachtung muss als Würde nach außen verkörpert werden und fände ohne kultivierbare Naturseite der Person keinen Gegenstand. Der Leib fungiert somit als lebendiger und sichtbarer Träger der Würde.9 Wird die sozial vermittelte Selbstachtung mit der Leiblichkeit verknüpft, ist ein Kriterium gewonnen, das sich auf den ganzen Menschen bezieht – von seiner Geburt bis zu seinem Tod.10 Der Achtungsanspruch bleibt bestehen, auch wenn die kognitiven Fähigkeiten verloren gehen.

Die Tatsache, dass Selbstachtung nicht unabhängig von intakten Anerkennungsverhältnissen ist und zudem als innere Einstellung nach außen hin verkörpert werden muss, macht sie so „antastbar“ durch physische als auch psychische Verletzungen und bedarf umfangreicher Sicherungen.

Auch wenn die hier vorgeschlagene Bedürfniskonzeption der Menschenwürde nicht durch die Fähigkeit zur moralischen Autonomie begründet wird, so kommt ihr trotzdem eine hohe Bedeutung zu. Damit die innere Werthaltung der Selbstachtung nach außen dargestellt werden kann, bedarf es eines gewissen Ausmaßes an Freiheit. Zudem muss bedacht werden, dass das Selbstverständnis, eine selbstbestimmte Person zu sein, vom moralischen Gefühl der Selbstachtung motiviert und begleitet wird. Darüber hinaus erzeugt dieses Selbstverständnis den Wunsch, für diese Fähigkeiten auch geschätzt zu werden.11 Sinn und Bedeutung personaler Autonomie stehen damit in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach dem So-sein-wollen der jeweiligen Person, der Frage danach, welchen Lebensplan sie verfolgt und wie sie diesen verwirklichen will. Ein reines Möglichkeitskonzept von Freiheit, wie es verschiedene negative Freiheitsideen liefern, greift insofern zu kurz, als es übersieht, dass es manchen Personengruppen nicht nur an Gelegenheit fehlt, ihre Selbstbestimmung zu realisieren, sondern sie auf direkte Unterstützung angewiesen sind.12 Um selbstbestimmt leben zu können, bedarf es immer eines Zusammenspiels subjektiver und objektiver Bedingungen. Zu den subjektiven Faktoren gehören beispielsweise die Fähigkeit, Ziele und Projekte überhaupt auszubilden, sich gegenüber den eigenen Wünschen kritisch verhalten zu können sowie Autonomie als Habitus, als schätzenswerte Haltung. Beispiele für objektive Voraussetzungen sind gesellschaftliche Bedingungen, die frei sind von systematischer Repression, Manipulation und Täuschung sowie der Respekt der Privatsphäre der Person.13

Da gerade die Gruppe der älteren Menschen in der nachberuflichen Phase ihres Lebens und bei Pflegebedürftigkeit von der öffentlichen Daseinsvorsorge abhängig sind, bestimmen die von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen den Handlungsspielraum der älteren Menschen wesentlich. Die Sicherstellung der Selbstbestimmung in dieser Lebenslage stellt damit eine komplexe rechts- und sozialpolitische Aufgabe dar und bedarf über den Rechtskontext hinausgehend weiterer Unterstützungsangebote.14

Wie kann nun die Schutzfunktion und der Gestaltungsauftrag, welche bei der theoretischen Konzeption der Menschenwürde impliziert sind, handlungspraktisch umgesetzt werden? Um die abstrakten Begriffe Würde und Autonomie mit real erfahrenen Inhalten zu füllen und sie so einer wirklichkeitsnahen und problembezogenen Auseinandersetzung innerhalb des Kontextes der Langzeitpflege zugänglich zu machen, wurden in leitfadengestützten Interviews Sichtweisen und Erfahrungen pflegebedürftiger Menschen (18 Personen) und deren Angehörigen (7 Personen) erhoben. Sodann wurde in Gruppendiskussionen mit professionell pflegenden, betreuenden und behandelnden Personen danach gefragt, ob sich deren Sicht eines selbstbestimmten und würdevollen Alterns mit jener der pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen deckt. Ein zentraler Fokus in den Gruppendiskussionen galt den Bedingungen, die gegeben sein müssen, um einen würdevollen Kontext für alle Beteiligten in der geriatrischen Langzeitpflege zu schaffen.

Würde und Autonomie aus der Sicht von pflegebedürftigen Personen und deren Angehörigen

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zeigen deutlich auf, wie sehr im Bereich der geriatrischen Langzeitpflege, für die eine Asymmetrie der Beziehungen charakteristisch ist, die Selbstachtung der BewohnerInnen/KlientInnen gefährdet ist.

Wie schwierig es für auf Pflege und/oder Betreuung angewiesene Menschen ist, an einem akzeptablen Selbstbild festzuhalten, wird schon dadurch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass in dieser Lebenssituation meist der Großteil des Umfelds fehlt, das üblicherweise Anerkennung spendet. Auch wenn beinahe alle pflegebedürftigen GesprächspartnerInnen Kontakte zu Angehörigen pflegen, so wurde sichtbar, dass BewohnerInnen darüber hinaus über wenig wirklich befriedigende soziale Beziehungen verfügen. Aber auch pflegebedürftige Menschen, die zu Hause leben, können mit der Ablehnung und dem Unverständnis ihrer Umwelt konfrontiert sein. Dazu kommt der Verlust der unterschiedlichen Rollen, in denen sich der Mensch in seiner Unvertretbarkeit und Besonderheit wahrnehmen kann. Die Möglichkeiten, abwechselnd in verschiedene Rollen oder Welten einzutauchen und sich somit von der anderen zu erholen, gehen mit dem Einzug in die Institution der Altenpflege verloren. Die neue und oft einzige Rolle des Bewohners, der Bewohnerin ist obendrein so stark mit Vorurteilen belegt, dass der Einzelne seine eigene Individualität nur sehr bedingt und unter sehr großen Anstrengungen einbringen kann. Die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber dem „nutzlosen, störenden, aufhaltenden“ (PA2, 228)15 alten Menschen, „dem bestenfalls eine Meinung, aber kein Recht auf Selbstbestimmung zugestanden wird“ (PA2, 3), bleiben nicht ohne Einfluss auf institutionelle geriatrische Langzeitpflege. Die Aussagen einer Befragten wie „Pflegekräfte lassen einem das Alter nicht spüren“ (DP5, 500) verweisen darauf, dass es keineswegs als selbstverständlich angesehen wird, alten Menschen mit Achtung und Respekt zu begegnen.

Zu den genannten Umständen, die eine Identitätsbewahrung im Alter erschweren, kommt hinzu, dass die Menschen, die institutionell gepflegt und betreut werden, häufig Unterstützung bei jenen Verrichtungen benötigen, welche in unserer Gesellschaft normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Im Falle der Pflegebedürftigkeit werden sonst übliche Distanzen überschritten und schambesetzte Körperteile berührt. Gerade diese spezifischen Bedingungen machen in ganz besonderer Weise ein achtungsvolles Kommunizieren und Handeln notwendig.

Im Fokus der achtsamen Zuwendung gilt es, in Pflege- und Betreuungssituationen zunächst das wahrzunehmen, worin die Menschen einander gleich sind, nämlich in ihrem moralischen Status sowie als Rechtsperson. Jeder Mensch hat den grundlegenden Anspruch auf Umgangsformen und Kommunikationsstile, welche ihn trotz aller bestehenden Ungleichheit als „Gleichen unter Gleichen“ ansprechen.16 Den pflegebedürftigen Menschen als grundsätzlich gleichgestellt zu betrachten, beinhaltet den in den Interviews immer wieder geäußerten Aspekt des Ernstnehmens, der alle Facetten der Geringschätzung ausschließt. So also beispielsweise zum „Kindergartenkind“ (PA2, 5), „Objekt“ (DA3, 521) zur „Pflegenummer“ (DA3, 442), zu degradieren.

Thomas Steinforth hebt hervor, dass der Effekt der eigenen Werthaftigkeit wesentlich verstärkt wird, wenn dieses Ernstnehmen auch und immer wieder als Gleichbehandlung erfolgt. Umgekehrt wird der negative Effekt für die Selbstachtung maßgeblich verstärkt, wenn beispielsweise BewohnerInnen erleben, dass sie weniger ernst genommen werden als die Personen ihrer Umwelt.17 Ein Gesprächspartner erzählt von einem derartigen Erlebnis und stellt es in Verbindung mit seiner Vorstellung von Würde.

„Gut, da haben wir ein Problem gehabt, auch Würde bitte, die eine Schwester war extrem nett, von den zweien, die mir herausgeholfen haben und hat gesagt, sie holt gleich die Kollegin und kam in kürzester Zeit zurück: Sie ist beschäftigt. Nach 10 Minuten, als sie wieder vorbeiging, hab ich sie wieder gebeten, sie möge die Kollegin holen und mir helfen, das ging insgesamt 4-mal. Beim vierten Mal kam diese Schwester und hat mich angeschnauzt, was wollen Sie eigentlich, ich hab andere Patienten auch. Da hab ich nur zu ihr gesagt: Bin ich kein Patient?“ (DPH8, 66)

Ernst nehmen als Gleichbehandlung bedeutet für die InterviewpartnerInnen, die diesen Aspekt zur Sprache bringen, dass man in einem Gespräch nicht übergangen oder überhaupt übersehen werden darf. Eine Gesprächspartnerin, die diesbezüglich negative Erfahrungen gemacht hat, hat dies wie folgt ausgedrückt: „Ja, sagen wir so, wie hier oft … dass sie einen gar so … also links liegen lassen.“ (DP10, 819)

Der Mangel an Respekt, der sich im Übersehen-Werden zeigt, mag vordergründig vielleicht weniger aggressiv erscheinen als eine direkte Beleidigung. Dass es sich in beiden Fällen um eine Demütigung handelt, aber jeweils unterschiedliche Gefühle ausgelöst werden, hat Tzvetan Todorov deutlich herausgestellt: Die Verwerfung, die sich in der direkten Beleidigung ausdrückt, ist zwar schmerzlich und oftmals schwer zu ertragen, kann aber „weggesteckt“ oder „wegdiskutiert“ werden. Dagegen macht uns das Gefühl, völlig unbeachtet zu sein, glauben, dass wir von der Liste der Lebenden gestrichen seien, „und das schnürt uns die Kehle zu“.18 Achtung setzt Beachtung voraus: Übersehen und überhört zu werden, sich als unfähig zu erleben, die eigene Präsenz auszudrücken, sind Missachtungserfahrungen, die in den Gesprächen immer wieder als Würdeverletzungen thematisiert wurden. Das Ignorieren wird dahingehend interpretiert, dass man als Mensch gilt, dessen Anwesenheit nichts zählt.

Aus den Schilderungen der Befragten geht hervor, dass das Gefühl, als relevante AkteurIn betrachtet und geschätzt zu werden, unter anderem dadurch bestätigt und gestärkt wird, wenn Pflege- und Betreuungspersonen ihnen mit Zurückhaltung, Taktgefühl und Höflichkeit begegnen. Diese Umgangsformen drücken Respekt aus, schützen aber auch vor dem Zunahe-Treten einer fremden Person und damit auch vor Entblößung, Erniedrigung und Demütigung. Eine der pflegebedürftigen InterviewpartnerInnen spricht an, dass sie sich nur dann behaupten kann, wenn ihr Respekt gezollt wird. Wird ihr dieser vorenthalten, besteht keine Möglichkeit, sich zu verteidigen, und es bleibe ihr nur mehr der Rückzug (DP12, 174). Diese Aussage macht deutlich, dass Respekt der Schutzmantel ist, der den Abstand zwischen den Personen markiert. Dieser Abstand muss gewahrt werden, um die „individuelle Sphäre“19 des Einzelnen zu schützen. Derartige Formen der Achtungsbezeugung öffnen zusätzlich einen Spielraum, in dem die Würde in einer nach eigenem Dafürhalten angemessenen Form zum Ausdruck gebracht werden kann. Sich angemessen und so darstellen und kleiden zu können, wie es der eigenen Individualität entspricht, wurde von den Befragten als wesentlicher Aspekt genannt, der zum Gefühl der eigenen Würde beiträgt.

„Man sagt zwar, das ist eine oberflächliche Würde. Die Würde hat man trotzdem, aber für mich gehört das einfach zusammen. Weil das ist ein Teil von mir, das ist ein essenzieller Teil von mir.“ (DA1 331)

Sein Äußeres zu pflegen, sich so zu kleiden, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht, wird von den InterviewpartnerInnen auch als Möglichkeit gesehen, beachtet zu werden. Dass die Kleidung ein Begegnungsfeld zwischen fremden Blicken und dem eigenen Willen darstellt, streicht auch Todorov heraus. Deshalb kommt ihr im Streben nach Anerkennung eine besondere Bedeutung zu. Kleidung ermöglicht einer Person, sich im Verhältnis zu anderen zu bestimmen. Eine Person wählt ihre Kleider nach Maßgabe der anderen. „Wer dagegen keine Kontrolle mehr über seine Kleidung ausüben kann […], fühlt sich den anderen gegenüber gelähmt, seiner Würde beraubt.”20 Auch die Pflegewissenschaftlerin Gröning erläutert in Bezugnahme auf Goffman (1973), dass es zur Identitätsausrüstung der Person gehört, selbst entscheiden zu können, wie sie anderen Menschen gegenübertritt. Wird einer Person diese Möglichkeit verwehrt, so wird es ihr schwer fallen, an einem akzeptablen Selbstbild festzuhalten, was einer Erschütterung ihrer Identität gleichkommt.21

Das Gefühl der eigenen Würde steht für die GesprächspartnerInnen in einem engen Bedeutungszusammenhang mit dem Sich-ernst-genommen-Fühlen, was Beachtung voraussetzt, die Anerkennung der Person als Gleiche unter Gleichen sowie Benehmen, Zurückhaltung und Taktgefühl. Werden diese Formen des „ordentlichen Umgangs“ (DAH2, 40) missachtet, wird die Person nicht ernst genommen, „dann hat man schon manches Mal das Gefühl, man ist nur irgendwer“ (PP2, 78). Nicht nur irgendwer zu sein, sondern als individuelle Person anerkannt, respektiert und auch wertgeschätzt zu werden, und zwar mit all seinen Stärken und Schwächen und in seinem gesamten Gewordensein, wird als weiterer Aspekt eines ernstzunehmenden Umgangs genannt:

„Würde heißt, dass man mich als Person anerkennt. Dass man mich als die Person, die ich bin, auch wahrnimmt, auch mit meinen nicht so feinen Eigenheiten. Also das würde ich schon ganz stark als Würde bezeichnen. Dass man mich als Person anerkennt, ernst nimmt, ja auch gern hat, aber auch dass man sich mit mir auseinander setzt, sich mit mir auf Auseinandersetzungen einlässt und mich trotz dieser Auseinandersetzungen respektiert.“ (DA1, 432)

In diesem Zitat wird noch einmal deutlich, wie sehr wir als Menschen auf die zustimmende Reaktion unserer Mitmenschen angewiesen sind. Nur dann, wenn wir in unseren Beziehungen unterschiedliche Anerkennungsformen wie Achtung, Respekt und Wertschätzung erfahren, können wir das Gefühl entwickeln und aufrechterhalten, uns als achtenswerte und wertgeschätzte Person sehen zu können.

Damit sich eine Beziehung entfalten kann, in der die Würde der pflegebedürftigen Menschen zum Ausdruck gebracht werden kann, bedarf es ganz wesentlicher Elemente der Fürsorge. Die Aussagen der Gepflegten und deren Angehörigen bestätigen, dass Fürsorge und Selbstbestimmung weder als einander nachgeordnete noch als sich gegenseitig ausschließende Konzepte angesehen werden können, sondern einander bedingen. Fürsorgliches Handeln in Verbindung mit fachlicher Kompetenz trägt zur Stärkung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens der Pflegebedürftigen bei und macht es in vielen Fällen erst möglich, dass auch diese Menschen ihre Selbstbestimmung realisieren können. Die befragten pflegebedürftigen Personen erfahren sich dann als selbstbestimmt, wenn sie über Wahlmöglichkeiten sowie über Entscheidungsautonomie bezüglich der Bestimmung ihres Eigenwohls verfügen. Selbst entscheiden zu können, was man will und wie man etwas haben will, ist wiederum eng verbunden mit dem Bedürfnis nach Kontrolle über sich und die Situation und betrifft die Kontrolle über geistige und körperliche Integrität ebenso wie das Vorhandensein einer Privatsphäre und den Einfluss auf materielle Gegebenheiten.

In den Interviews wurde oftmals thematisiert, dass es aus unterschiedlichen Gründen schwierig ist, eigene Bedürfnisse, Wünsche oder Vorstellungen zur Geltung zu bringen. In diesem Zusammenhang kann mit Ferber22 und Brandenburg23 eingebracht werden, dass die Entscheidungsfähigkeit einer Person umso mehr angezweifelt wird, je höher ihr Pflegebedarf ist und zudem noch häufig infrage gestellt wird, wenn der getroffene Entschluss für die Umgebung unbequem ist und die Routine der Langzeitpflege stört. Wie schwierig es ist, sich gegen die Routine durchzusetzen – „es gibt ganz viele Schwestern, Pfleger […], die zumindest versuchen ihm seinen Willen aufzudrücken“ (DPH7, 433) – oder gegen herrschenden Normierungsdruck zu handeln, wird immer wieder angesprochen:

„Der hat sein Dings, der muss nach seinem Buch die Zeiten abarbeiten oder irgend etwas und die Unterschrift machen und dann kann er nicht Rücksicht nehmen, ob der grad aufgelegt ist oder nicht […] da wird keine Rücksicht darauf genommen. Selbstbestimmung geht nicht in einem Heim.“ (DPH9, 609)

Eine wichtige Erkenntnis, die aus der Befragung gewonnen wurde, ist, dass es auch jenen Menschen, die sich prinzipiell im Pflegeheim gut aufgehoben fühlen, schwerfällt, Änderungswünsche vorzubringen. Befürchtet wird, dass sich das Vorbringen eigener Bedürfnisse und Vorstellungen nicht mit einer harmonischen Beziehung zu den Pflege- und Betreuungspersonen vereinbaren lässt.

„Ich würde einmal verändern, später essen und nach dem Essen zusammensetzen und irgend ein Spiel spielen oder so plaudern, aber nicht dass man schon um sieben ins Bett gehen muss, leider. Das würde ich verändern. Aber ich kann’s ja nicht. Und ich würde es auch nicht sagen, weil vielleicht ist die Stationsschwester dann böse auf mich. Man weiß es ja nicht, wie man bei die Leut’ ankommt. Also ich lass nichts über sie kommen. ‚Frau [Name], wenn Sie ein Anliegen haben, kommen Sie zu mir, oder wenn ich Ihnen helfen kann, helfe ich Ihnen‘, also sie ist sehr, alle eigentlich alle, aber zum Schluss, wenn ich mit dem komme, ist sie vielleicht böse. Das will ich nicht, dass sie böse ist auf mich, ich will mit jedem gut auskommen.“ (DP4, 166)

Hier kann aus theoretischer Sicht eingebracht werden, dass sich anzupassen und sich zu bescheiden auch als eine Möglichkeit gesehen werden kann, sich Anerkennung zu verschaffen: „Meine bloße Übereinstimmung mit den Regeln wirft mir ein – zumindest positives – Bild meiner selbst zurück; also existiere ich.“24 Doch von der Mehrheit der GeprächspartnerInnen werden Erlebnisse des Vorenthaltens von Möglichkeiten der Selbstbestimmung immer wieder als Situationen der Nicht-Achtung und des Empfindens der Entwürdigung thematisiert. Damit ist es auch nicht verwunderlich, dass Personen, die solche Erfahrungen als Missachtung zur Sprache bringen, die damit verbundenen negativen Empfindungen ganz ähnlich beschreiben, wie sie sich auch bei der Bedrohung ihrer Würde einstellen: Hier geht es um Gefühle wie Empörung, Trauer, Rückzug, das Gefühl der Wertlosigkeit und der Verlassenheit, Resignation und Todeswunsch. Dass das Leben ohne Würde nicht mehr lebenswert sei, wurde in den Gesprächen oftmals thematisiert. Wie massiv diese hier nur beispielhaft angeführten Missachtungserfahrungen verletzen können, kommt im folgenden Zitat sehr klar zum Ausdruck:

„Nein, das ist kein Leben mehr, ich würde es gerne ändern, aber ich weiß nicht wie. Ich sitze dann nur ganz hilflos da und denke nach. Denke nach, was könnte ich machen, dass es anders wird und beginn es dann wahrscheinlich auch verkehrt. Ich weiß es nicht. Ich werde dann leicht hysterisch, ja ich weiß nicht, wie ich mich wehren soll und „ah!”, beginn ganz einfach herumzuschreien, wo es eigentlich nichts zu schreien gibt. Ich weiß nicht, schreit der Körper dann?“ (DPH7, 504)

Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass sich Missachtungserfahrungen ebenso negativ auf Identität und die Integrität der betroffenen Menschen auswirken wie körperliche Erkrankungen oder Schädigungen auf ihr physisches Leben. Damit ist klar, dass die Wahrung der Würde und Autonomie der pflegebedürftigen Menschen kein nachgeordneter Luxus ist, um den man sich kümmern kann, wenn Grundpflege und körperbezogene Prophylaxen durchgeführt sind, falls noch Zeit bleibt. Wertschätzendes und respektvolles Verhalten sowie hinwendende Fürsorge stützen ganz wesentlich die motivationale Lebenskraft der pflegebedürftigen Menschen.

Aspekte eines würdigenden Lebens- und Arbeitskontextes 

Die Gruppendiskussionen machen deutlich, dass die Vorstellungen der Pflege- und Betreuungspersonen darüber, welche Aspekte würdebewahrend und welche würdeverletzend sind, ein hohes Maß an Deckung mit jenen der pflegebedürftigen Personen und deren Angehörigen zeigen. Sichtbar wurde ebenfalls, dass die TeilnehmerInnen deutlich wahrnehmen, in welch vielfältiger Weise die Würde im Alter bedroht ist und wie bedeutsam eine mitfühlende Haltung den gepflegten Menschen gegenüber ist. Welche Bedingungen müssen nun aus Sicht der Pflege- und Betreuungspersonen erfüllt sein, um einen würdigenden Lebens- und Arbeitskontext zu schaffen, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Praxisgestaltung?

Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Pflege- und Betreuungspersonen ihre Arbeitsorientierung, die nach wie vor auf der grundlegenden Sorge um das Wohlergehen der pflegebedürftigen Menschen basiert, aufrechterhalten können, wurde als eine der zentralen Bedingungen genannt. Dieses normative Selbstverständnis, sich als gute Pflege- und Betreuungsperson sehen zu können, verlangt danach, auch im Arbeitskontext „mit gutem Gewissen in den Spiegel reinschauen können“ (GD2, 1501) und „zu mir stehen können und zu meinen Entscheidungen“ (GD2, 1498).

Jane Lawless zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass die Pflegenden ihre Würde mit der der PatientInnen verflochten erleben. Können die Bedürfnisse eines Patienten nicht erfüllt werden und entsteht dadurch eine würdeverletzende Situation, sind Pflegepersonen bereit, sich aufzuopfern und zusätzlichen Aufwand zu betreiben, um die Würde von PatientInnen zu erhalten. Möglich ist diese Strategie aus Sicht der Autorin nur kurzfristig. Wird der zusätzliche Aufwand der Pflegepersonen nicht anerkannt bzw. kritisiert oder seitens der Organisation eine noch höhere Arbeitsleistung gefordert, gerät die Selbstachtung der Pflegepersonen ins Wanken.25 Auch die Pflegeethikerin Ann Gallagher stellt deutlich heraus, dass die Selbstachtung der Pflegenden beeinträchtigt wird, wenn ihre Werte nicht in nachvollziehbarer Weise respektiert werden. Die Folge ist, dass ihre Fähigkeit abnimmt, die Würde von PatientInnen, deren Angehörigen und der KollegInnen zu achten.26

Als weiterer wichtiger Aspekt wurde die Notwendigkeit der Selbstsorge eingebracht. Was es zu meistern gilt, ist der schwierige Balanceakt zwischen Mitgefühl, dem sich Einlassen auf die KlientInnen/BewohnerInnen, und Abgrenzung zu vollbringen:

„Anzuerkennen, aber nicht darunter zu leiden. Das heißt, für mich ist es schon sehr wichtig, für mich selbst als Pflegekraft, hier Abgrenzung zu finden. Das heißt, gewisse Dinge zu tolerieren, aber nicht bis zur Selbstaufgabe. Also auch „Nein“ sagen zu können.“ (GD2, 129)

Die Selbstsorge stellt einen bedeutsamen Faktor für das Aufrechterhalten der Selbstachtung und des damit verbundenen Selbstwertgefühls dar. Selbstfürsorge impliziert die Fähigkeit, gegenüber Überforderung sensibel zu bleiben, eigene Bedürfnisse zu berücksichtigen und Belastungen richtig einschätzen zu können. Wird die Verantwortung jedoch alleine den Pflege- und Betreuungspersonen zugeschrieben, bedeutet dies außer Acht zu lassen, dass die Bedingungen, unter denen Menschen in helfenden Berufen tätig sind, in einem erheblichen Maß deren seelische Gesundheit beeinflussen können. Die Möglichkeit zu schaffen, Fürsorge und Sorge um das Selbst tragen zu können, muss nicht zuletzt als solidarische Aufgabe gesehen werden.27

Eine hohe Bedeutung kommt im Zusammenhang von Würde im Arbeitsalltag der Wertschätzung durch die KollegInnen und der ArbeitgeberInnen zu. Nur wenn Wertschätzung und Respekt im Umgang miteinander eine Rolle spielen, sind Pflegende in der Lage, diese Erfahrungen bei pflegebedürftigen Personen weiterzugeben:

„Bei uns im Haus und überhaupt im ganzen Haus auf der Station, wo wir zum Großteil mit dementen Menschen arbeiten, da hat Wertschätzung und Respekt zwischen den Kollegen auch einen sehr großen Wert, weil nur wenn’s da funktioniert, dann können wir das auch weiter übertragen.“ (GD2, 1587)

Im direkten Austausch sehen die Teilnehmer-Innen eine Möglichkeit, einander Wertschätzung entgegenzubringen. Gespräche unter KollegInnen haben aber auch entlastende Funktion, eröffnen neue Entscheidungsmöglichkeiten, fördern die Arbeitsautonomie sowie die Sicherheit im Handeln: „Und es gibt mehr Sicherheit, nicht? Mehr Sicherheit für meine Person und mehr Sicherheit in der Sache, dass die richtig getan wird.“ (GD2, 1005)

Die Rahmenbedingungen für einen Austausch zwischen KollegInnen, mit Vorgesetzten oder mit professioneller Hilfe in der Supervision werden im Wesentlichen von der Organisation geprägt: Nur wenn eine Reflexion über die Gestaltung oder Bewältigung von Arbeitssituationen als Teil professioneller Kompetenz gesehen wird und dafür ausreichend zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen, wird diese auch stattfinden. Sind diese Möglichkeiten strukturell verankert, werden sie nicht nur als Entlastung erlebt, sondern auch als Würdigung der Pflege- und Betreuungspersonen und deren Tätigkeit.

In den Gruppengesprächen wird deutlich, wie enorm wichtig es ist, dass die erbrachten Leistungen der Pflege- und Betreuungspersonen seitens der Organisation gewürdigt werden, „wenn man einmal positives Feedback kriegt und man hört, das habt ihr jetzt mal gut gemacht, das ganze Team, das ist mehr wert, wie wenn’s eine Gehaltserhöhung gibt.“ (GD1, 860) Ebenso wird es als Ausdruck des Respekts gedeutet, wenn Vorgesetzte die Anforderungen und Belastungsmomente ernst nehmen und in schwierigen Situationen konkrete Unterstützung anbieten „und nicht: ,Das ist dein Job, den hast du zu machen, egal wie.’“ (GD1, 814)

Die Anerkennung dessen, dass Pflege- und Betreuungsarbeit spezielles Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten voraussetzt, drückt sich auch in passenden Fortbildungsangeboten aus. Fehlen diese Formen des Respekts und der Wertschätzung seitens der Organisation, hat dies negative Auswirkungen auf unterschiedlichsten Ebenen: Pflege- und Betreuungspersonen verlieren ihrerseits die Fähigkeit, die Würde der Gepflegten zu wahren. Ebenso zeigen die Ergebnisse einer Langzeitstudie, die von einem Forschungsteam der Universität Pennsylvania durchgeführt wurde, dass ein signifikanter Zusammenhang besteht zwischen Burnout und dem Respekt, den Pflegepersonen von der Organisation wahrnehmen. Die höchsten Burnout-Werte zeigen die Personen, die sowohl ihre Autonomie als auch den ihnen entgegengebrachten Respekt als besonders niedrig einstuften.28

Herausforderungen für die Praxisgestaltung

Wenn nun aus den Forschungsergebnissen hervorgeht, dass Pflege- und Betreuungspersonen zwar deutlich wahrnehmen, wie verletzlich pflegebedürftige Menschen hinsichtlich ihrer Würde sind und wie wichtig der Respekt ihrer Autonomie ist, stellt sich natürlich die Frage, wie es zu den Missachtungserfahrungen kommt, von denen pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige so eindrücklich berichten. Vielleicht lässt sich diese Kluft damit erklären, dass an derartigen Gruppendiskussionen vor allem Personen teilnehmen, die besonders engagiert und dementsprechend sensibel sind. Nun kann aber dieser Deutung entgegengehalten werden, dass auch groß angelegte Studien nachweisen, dass das berufliche Selbstverständnis von Pflege- und Betreuungspersonen nach wie vor an der Sorge um das Wohlergehen der hilfsbedürftigen Menschen orientiert ist.29 Diese Orientierung stellt ein enormes Potential dar, über das die Gesellschaft verfügt. Die Herausforderungen, die sich für Institutionen der geriatrischen Langzeitpflege stellen, sind nicht nur dafür zu sorgen, dass nur geeignete und gut ausgebildete Personen angestellt werden, sondern auch, dass Pflege- und Betreuungskräfte ihre ethische Motivation und ihr empathisches Arbeitsverständnis nicht verlieren.

Eine würdevolle Pflege und Betreuung, die durch anteilnehmende Fürsorge geprägt ist, kann nur dann realisiert werden, wenn es entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen gibt. Sind die Organisationsstruktur und der Ablauf so gestaltet, dass sie sich vorrangig am Primat der Ökonomie orientieren, so führt das dazu, dass wesentliche Wünsche und Bedürfnisse der pflegebedürftigen Menschen unberücksichtigt bleiben und ihr Recht auf Selbstbestimmung untergraben wird. Darüber hinaus wird verhindert, dass Pflege- und Betreuungspersonen empathisch auf BewohnerInnen/KlientInnen eingehen können und stattdessen eher dazu neigen, Würdeverletzungen zu übersehen, nicht zuletzt um dem Arbeitsdruck zu entkommen.

Die Förderung einer Kultur des mitmenschlichen Umgangs, die eine Entwicklung aller Beteiligten ermöglicht, verlangt danach, den Subjektcharakter sowohl der pflege- und betreuungsbedürftigen Personen als auch der PflegerInnen anzuerkennen. Erst durch das Einbringen der Subjektivität der Pflege- und Betreuungspersonen können würdevolle Situationen geschaffen werden. Das dem Primat der Ökonomie folgende Paradigma, Pflege- und Betreuungsarbeit nach standardisierten und rein instrumentellen Aspekten auszurichten, degradiert dagegen beide zum Objekt, die Pflegenden und die Gepflegten. Um diese Situation zu vermeiden, wäre es ein wichtiger Schritt, Erfahrungen von sinn- und bedeutungsvollem Handeln und Beziehungen zu ermöglichen. Das würde bedeuten, Qualitätsmanagementmaßnahmen nicht auf Formqualität zu beschränken, sondern ausgehend von den Leitprinzipien Würde und Autonomie, für den Umgang mit alten pflegebedürftigen Menschen und auch mit den MitarbeiterInnen Kriterien einer Begegnungsqualität zu verankern.

Die Aussagen der InterviewpartnerInnen machen sichtbar, dass das Pflegeheim ein Ort ist, an dem Gefühle wie Angst, Scham, Aggression und andere belastende Emotionen bewältigt werden müssen, und zwar seitens der alten Menschen, aber auch jener, die pflegen und betreuen. Fürsorgliche Anteilnahme an Menschen zu nehmen, die „gezeichnet” und ein Spiegelbild des eigenen möglichen Schicksals sind, ist eine enorme psychische und soziale Leistung.30 Diese Leistung anzuerkennen und die verstehende Zuwendung von Gefühlen müssen Eingang in den Qualitätsdiskurs im Kontext der geriatrischen Langzeitpflege finden. Diesem Prozess müsste eine realistische Diskussion über Wert- und Zielkonflikte vorausgehen, der in und zwischen allen Hierarchieebenen zu führen ist, nicht zuletzt deshalb, um Spannungsfelder und Widersprüche sichtbar zu machen und möglicherweise auch zu entschärfen.

Die Organisationen dabei zu unterstützen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in diesem Bereich nachhaltig zu verbessern, muss als gesamtgesellschaftlicher Auftrag wahrgenommen werden und ist ohne Wohlwollen und Solidarität gegenüber den pflegebedürftigen Menschen und jenen, die pflegen, nicht realisierbar.

Referenzen

  1. Das Projekt wurde am Institut für Philosophie der Universität Wien gemeinsam mit der Pflegewissenschaftlerin Patricia Kacetl durchgeführt und vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung gefördert. ethik.univie.ac.at/angewandte-ethik/pflegeethik/projekt-wuerde-und-autonomie
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  8. siehe Ref.
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  12. Tugendhat E., Die Kontorverse um die Menschenrechte, in: Gosepath St., Lohmann G. (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1998), 58: 48-6
  13. Rössler B., Bedingungen und Grenzen von Autonomie, in: Pauer-Studer H., Nagl-Docekal H.  (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit und Autonomie, Oldenbourg, Wien (2003), 350:327-35
  14. Ferber Ch., Selbstbestimmung im Alter – eine Herausforderung für die Gesellschaftspolitik (2006), in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Recht und Würde im Alter, Richterwoche Saalfelden. 9. bis 13 Mai 2005, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien/Graz (2005), 22f: 19-3
  15. An den verwendeten Buchstaben der Codierung lässt sich erkennen, ob es sich um Aussagen von Gepflegten oder von Angehörigen handelt und ob die pflegebedürftige Person zuhause gepflegt und betreut wird. Der erste Buchstabe weist die Interviewerin aus, der zweite (P) steht für die Person, die institutionell gepflegt wird. Steht als zweiter Buchstabe ein „A”, so bedeutet das, dass es sich um eine Aussage einer Angehörigen handelt. Ist in der Buchstabenkombination zudem ein „H” enthalten, so wird die pflegebedürftige Person bzw. Angehörige zuhause gepflegt und betreut. Die Codierung GD steht für Gruppendiskussion
  16. Steinforth Th., Selbstachtung, Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Hahn H. (Hrsg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Universitätsverlag, Weimar (2005), 110:104-12
  17. Steinforth Th., siehe Ref. 1
  18. Todorov T., Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Wagenbach, Berlin (1995), S. 10
  19. Simmel G., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Duncker und Humbolt, Berlin (1992), S. 39
  20. Todorov T., siehe Ref. 18, S. 9
  21. Gröning K., Entweihung und Scham. Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen, Mabuse, Frankfurt/Main (2001), S. 3
  22. Siehe Endnote 14, S. 2
  23. Brandenburg H., Autonomieförderung durch Pflegende in der Langzeitpflege?, in: Huber, M. et al. (Hrsg.), Autonomie im Alter. Leben und Altwerden im Pflegeheim – Wie Pflegende die Autonomie von alten und pflegebedürftigen Menschen fördern, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover (2005), S. 2
  24. Todorov T., siehe Ref. 18, S. 9
  25. Lawless J., Dignity in the Work Lives of Clinical Nurses, Masterthesis, Victoria University of Wellington (2009), S. 11
  26. Galagher A., Dignity and respect for Dignity – Two Key Heath Professional Value: implications for Nursing Practice, Nursing Ethics (2004); 11(6): 592:587-59
    1. Küchenhoff J., Die Fähigkeit zur Selbstfürsorge – die seelischen Voraussetzungen, in: Küchenhoff J. (Hrsg.), Selbstzerstörung und Selbstfürsorge, Psychosozial, Gießen (1999), 147:147-16
  27. Ramarajan L., Barsade S., What makes the job tough? The influence of organizational respect on burnout in the human services (2006), knowledge.wharton.upenn.edu/papers/1327.pdf (letzter Zugriff am 23.1.2012
  28. Hasselhorn H. et al., Berufsausstieg bei Pflegepersonal. Arbeitsbedingungen und beabsichtigter Berufsausstieg bei Pflegepersonal in Deutschland und Europa (2005), www.baua.de/de/Publikationen/Uebersetzungen/Ue15.pdf (letzter Zugriff am 23.1.2012
  29. Rosenmayr L., Schöpferisch altern. Eine Philosophie des Lebens, LIT, Wien/Berlin (2007), S. 217

Anschrift der Autorin:

Mag. Dr. Doris Pfabigan
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft
Institut für Philosophie, Universität Wien
Universitätsstr. 7, A-1010 Wien
doris.pfabigan(at)univie.ac.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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