Autonomie und Fürsorge in der Gerontopsychiatrie aus ärztlicher Sicht

Imago Hominis (2015); 22(1): 31-42
Thomas Reuster

Zusammenfassung

Im gerontopsychiatrischen Fachgebiet werden überwiegend Patienten mit Alterationen der kognitiven Fähigkeiten behandelt. Zunehmende krankhafte Veränderungen am biologischen Substrat, dem Gehirn, vermindern auch die Fähigkeit zur personalen Selbstbestimmung bis zum Ausfall derselben. Gegenüber dem medizinethisch aufgewerteten und juridisch prioritären Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung des Patienten gewinnt das Prinzip Fürsorge an Bedeutung; freilich soll es nicht paternalistisch überdehnt werden. In ärztlicher Perspektive ist Fürsorge verknüpft mit dem medizinischen Auftrag, Krankheiten zu behandeln. Dieser Auftrag darf nicht unterlaufen, aber auch nicht durch die Behandler willkürlich interpretiert werden. Respekt vor der Würde des Patienten gewinnt dabei eine besondere Bedeutung, die auszuloten ist. Die Beachtung von Würde ist im einschlägigen medizinethischen 4-Prinzipien-Ansatz nicht eigens vorgezeichnet. Deshalb sollte dieser Ansatz durch Inklusion des Würde-Prinzips erweitert werden.

Schlüsselwörter: Gerontopsychiatrische Patienten, Autonomie, Fürsorge, Würde

Abstract

Patients with alterations in cognitive ability dominate the field of geriatric psychiatry. Advancing pathological changes in the brain can also reduce the patient’s capacity for self-determination – to the extent that it can be completely compromised. The ethical priority of respecting a patient’s self-determination can be compromised further by the need to provide welfare, which can often assume a more patronising character. From a doctor’s perspective, the provision of welfare is related closely to the doctor’s primary mission of treating disease. It should be neither inadequate nor excessive. However, in such a situation, one can easily lose sight of maintaining respect for a patient’s dignity. A consideration of human dignity is not emphatically included within the usual ‘four-principles’ approach, which raises the question whether this approach needs to be extended by explicitly including such a dignity principle.

Keywords: old age psychiatry patients, autonomy, care, dignity


1. Einleitung

Die Psychiatrie des alten Menschen – Gerontopsychiatrie – birgt vielfältige und spezielle medizinethische Herausforderungen. Dabei handelt es sich nicht um eine spezielle Klasse ethischer Fragen. Einige aus der allgemeinen klinischen Medizin bekannte Schlüsselfragen sind in der Gerontopsychiatrie lediglich besonders häufig entsprechend der Zunahme bestimmter klinischer Störungsbilder, die positiv mit höherem Alter korrelieren bzw. im Alter prävalieren. Sie führen aber dadurch, dass sie Patienten in ihrer personalen Selbstbestimmung alterieren, zu speziellen medizinethischen Herausforderungen.

Die charakteristischen Störungsbilder in der Gerontopsychiatrie sind die ätiologisch unterschiedlichen, phänomenologisch jedoch ähnlichen Erscheinungsformen der sogenannten organischen Psychosyndrome, zu denen vorübergehende, meist aber chronische Bewusstseinsstörungen gehören, die sich vor allem durch Defizite in der zeitlichen, räumlichen, situativen und personbezogenen Orientierung auszeichnen (Tab. 1). Zu quantitativen Defiziten bei der Verarbeitung von Sinnesinformationen kommen qualitative Verzerrungen sowohl der Wahrnehmung (Halluzinationen) als auch des Denkens (wahnhafte Überzeugungen oder Deutungen) sowie Verhaltens- und Interaktionsstörungen hinzu. Vor allem durch die kognitiven Defizite ist die individuelle psychiatrische Behandlung besonders oft und besonders intensiv mit Problemen konfrontiert, die sich aus der Differenz einer Hochbewertung des Prinzips der Selbstbestimmung und ihrer faktischen Einschränkung durch Insuffizienz der neurobiologischen Voraussetzungen für den Arzt ergeben.

%
Affektive Erkrankungen v.a. Depressionen10 (17,8)
Angsterkrankungen2 (2,5)
Demenzen14
Psychotrope Substanzen2
Psychotische Störungen0,7
Tab. 1: Psychische Störungen im Alter, deutsche Allgemeinbevölkerung >70 J. (Berlin)1

2. Medizinethische Grundprinzipien

Als weltweit am stärksten konsentierte Zusammenstellung medizinethischer Prinzipien gilt derzeit der 4-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress.2 Er enthält neben den klassischen hippokratischen Elementen des nil nocere und bonum facere sowie dem Gerechtigkeitsprinzip erstmals die verbindliche Einführung bzw. Kanonisierung des Autonomie-Prinzips, welches schlechterdings besagt, dass das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten unbedingt zu respektieren ist. Im klinischen Kontext bedeutet dies vor allem, dass jede indizierte medizinische Maßnahme an einem Patienten nur mit dessen Zustimmung – rechtlich ausgedrückt: seiner informierten Einwilligung in diese Maßnahme – vorgenommen werden darf. Wirksam einwilligen kann aber nur, wer eine ausreichend klare Vorstellung der Maßnahme hat, in die er nach dem Willen der Ärzte einwilligen soll, d.h. wer auf dem Wege von Information und Aufklärung sich von ihr und ihren Konsequenzen eine im Wesentlichen zutreffende Vorstellung bilden kann. Nichts weniger verbirgt sich hinter dem einschlägigen Begriff des „informed consent“. Freilich lässt dieser Begriff allzu leicht vergessen, dass Informiert-worden-Sein und Verstanden-Haben zwei unterschiedliche Sachverhalte sind. Fritz Hartmann3 bevorzugte aus diesem Grund gegenüber dem Gebrauch des Terms „informierte Zustimmung“ den Ausdruck „einsichtige Zustimmung“, der die beiden letztgenannten Bedingungen erkennbar werden lässt. Er verwies im Übrigen darauf, dass im ärztlichen Gespräch nicht primär Information transportiert werden solle, die vom Empfänger dann allein zu verarbeiten ist, sondern dass es dabei um Verständigung gehe, den sprachlichen Vollzug von Gegenseitigkeit.4 Verständigung und Einsicht sind vor allem kognitive Leistungen, die in medizinischen und medizinethischen Kontexten meist vorausgesetzt werden und auch vorausgesetzt werden können. Doch finden sie an neuropsychologischen Funktionsstörungen ihre Grenze. Es entsteht an diesen Grenzen die Frage, welche mentalen (neuropsychologischen) Leistungen erforderlich sind, um zum Beispiel Einsicht in eine Pharmakobehandlung mit potentiell riskanten und komplexen Nebenwirkungen zu erzielen. Was heißt es tatsächlich, wenn von „capacities needed for competence“5 die Rede ist? Es müssen nicht nur kognitiv Wahrscheinlichkeiten kalkuliert, sondern auch emotionale Prozesse wahrgenommen und bewertet werden: Wie wird sich das gewünschte, wie ein unerwünschtes Ergebnis anfühlen, und zwar ganz speziell für den singulären Betroffenen? Im Schatten eines depressiven Erlebens sind solche Bewertungsprozesse oft schon per Diagnose mehr oder weniger verzerrt, und sie sind unrealistisch, eingeschränkt oder unmöglich bei (ausgeprägten) organischen Psychosyndromen, namentlich Demenzen. (Bei den klassischen Geisteskrankheiten, den Schizophrenien und Wahnstörungen, sind zwar die „Rechenleistungen“ des Gehirns erhalten, aber in einer ganz speziellen Weise in Unordnung geraten, sodass eine realistische, vernünftigen Erwägungen folgende Beurteilung von Tatsachen, Sachverhalten und Zuständen der Außen- und Innenwelt nicht mehr gelingt). Solche Beeinträchtigungen alterieren auch die weiteren formalen Kriterien Freiwilligkeit und kognitive Fähigkeit zur Urteilsbildung (Einwilligungsfähigkeit), welche notwendige Voraussetzungen für eine sinnvolle Beurteilung von Selbstbestimmung im klinischen Kontext sind. In Tab. 2 sind fünf formale, für den ärztlichen Umgang mit Selbstbestimmung relevante Voraussetzungen zusammengefasst.

Über solche Differenzierungen und Probleme hinweg bezeichnet Selbstbestimmung im medizinethischen und im juristischen Verständnis das Recht, selbst über sich zu bestimmen und somit nicht der Fremdbestimmung durch andere Menschen ausgesetzt zu sein. Zumindest rechtlich dominiert dabei die Abwehr von Fremdmacht, nicht der Aspekt der Selbstführung und dessen substanzielle Voraussetzungen, wie dies zum Beispiel das Autonomiekonzept Harry Frankfurts6 fordert. Selbstbestimmung im medizinethischen Sinn ist ein normatives Konzept.7

  • Indikation
  • Information
  • Verständnis
  • Freiwilligkeit
  • Einwilligungsfähigkeit
Tab. 2: Formale Voraussetzungen der Selbstbestimmung (Autonomie) des Patienten bezüglich medizinischer Maßnahmen

3. Die gerontopsychiatrische Situation – klinisch und medizinethisch

Da das Lebensalter einen erheblichen Risikofaktor darstellt nicht nur für bestimmte psychische, sondern auch und primär für organische Erkrankungen, sind psychische Störungen im Alter selten das einzige Gesundheitsproblem der Betroffenen. Sie treten von vornherein überwiegend in Kombination mit anderen, körperlichen Leiden auf. Sie werden durch ernste psychische Störungen, vor allem Depressionen, Schlafstörungen, Demenz und Wahnbildungen meist akzentuiert und kompliziert. Umgekehrt ist das Leiden an der psychischen Störung durch die körperlichen Beschwerden nicht nur verstärkt, sondern häufig auch selber phänomenologisch modifiziert. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass die medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapie der psychischen Störung durch die Kombination mit somatischen Erkrankungen oft limitiert wird. So ist die Psychopharmakotherapie des älteren, zumal des alten psychisch kranken Menschen besonders vorsichtig und zurückhaltend zu gestalten, dadurch jedoch ggf. nicht optimal effektiv. Die Orientierung allein an der Effektivität ist hier regelhaft ein riskanter Irrtum, der vor allem wenig erfahrenen Psychiatern unterläuft und der schnell dazu führt, dass die fürsorgliche Absicht, Gutes zu tun, umschlägt in ein apparentes oder inapparentes Schaden, etwa durch unerwünschte Wirkungen auf die Reizleitung des Herzens, eine cerebral relevante  Blutdrucksenkung, die Dekompensation gerade kompensierter Blutdruckwerte und anderes mehr.

4. (Geronto-)Psychiatrische Störungen als Katastrophen der Selbstbestimmung

Die eindrücklichsten und verstörendsten Zustandsbilder in der Psychiatrie sind floride Psychosen aus dem schizophrenen und affektiven Spektrum sowie schwere organische Psychosyndrome, insbesondere Demenzen. Diese Störungen alterieren in der Regel auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Doch verwirklicht sich diese Alteration nicht im Sinne eines kategorialen Umschlags, sondern einer dimensionalen Dynamik. Es ist daher eine grundsätzlich schwierige und deshalb auch höchst anspruchsvolle Herausforderung für den Psychiater, das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von autonomer Entscheidungsfähigkeit bezüglich medizinischer Maßnahmen (d. h. Einwilligungsfähigkeit) einzuschätzen. Dabei kommt es darauf an, die Einwilligungsfähigkeit im Verhältnis zur Komplexität der anstehenden Entscheidung angemessen zu taxieren, Fluktuationen derselben zu berücksichtigen und auch zu wissen, dass der Beziehungskontext zwischen Arzt und Patient, aber auch die durch das Pflegeteam vermittelte Atmosphäre bedeutsame Einflüsse darauf haben, wie ein Patient das ihm ärztlich Angeratene und therapeutisch für sinnvoll Erachtete zu verstehen mag. Es hängt also vieles davon ab, wieweit in einem besonderen Moment realistische oder unvollständige, verzerrte kognitive Operationen vorherrschen. Zudem kommt es auch auf den aktuellen Bewusstseinszustand an, in dem die Einwilligungsfähigkeit geprüft wird. Das ist z. B. dann von großer Bedeutung, wenn es gilt, einen Patienten für eine freiwillige Behandlung zu gewinnen oder zu einem freiwilligen Verbleib auf einer Station oder einem anderen verbindlichen Behandlungssetting. Doch bleiben oft unüberwindbare Grenzen; dann muss – valide – die Einwilligungsunfähigkeit festgestellt werden. Da die medizinische Gesamtsituation und die Therapie in der Gerontopsychiatrie insgesamt komplizierter als bei jüngeren Patienten sind, sind auch das Diagnostizieren und das Feststellen von Einwilligungsfähigkeit aufwändiger.8

Die Schwierigkeiten verändern sich charakteristisch und spitzen sich zu, wenn man das Feld der Gerontopsychiatrie genauer in den Blick nimmt. Gerontopsychiatrische Patienten leiden vorzugsweise an den psychischen und Verhaltensfolgen bestimmter geschädigter Areale des Großhirns, mithilfe dessen reduzierter Funktion gerade gegenläufig besondere altersassoziierte Herausforderungen wie der Verlust naher Bezugspersonen, Ortswechsel, Schwinden eigener Kompetenzen und Kräfte sowie die Anpassung des Selbstbildes an diese vielschichtig veränderte Situation zu bewältigen sind. Psychophysisch ist dies eine ungünstige Situation. Die häufigsten Störungen, an erster Stelle Demenzen, entwickeln sich fortschreitend. Die gewohnte Selbstverständlichkeit seines In-der-Welt-Seins entschwindet dem Betroffenen sukzessive und somit die Fähigkeit, sich selbst vernünftig – gerade auch in Bezug auf medizinische Fragen aus dem psychiatrischen und dem somatischen Bereich – zu bestimmen und zu positionieren.

Schnittmenge der meisten gerontopsychiatrischen Störungen sind kognitive und mnestische Defizite von teils erheblichem Ausmaß. Vollständige Verwirrtheit ist nicht selten. Aber auch bereits vor diesem Stadium einer schweren Demenz befinden sich die Patienten regelhaft auf einem gegenüber früher niedrigeren Funktionsniveau in Bezug auf die verstandesmäßige Erfassung und Beurteilung subjektiv und objektiv relevanter Sachverhalte und/oder das zumindest kurz- oder mittellange Behalten dieser. Soweit die Defizite bemerkt und im Selbsterleben unter der Rubrik „Versagen“ gebucht werden, fördert das Defizit-Bewusstsein eine resignative und depressive Einstellung und in der Folge die Verschärfung der störungsspezifischen Defizite. Daraus ergeben sich spiralartig fortgesetzt Trauer, Resignation und Depression sowie sozialer Rückzug. Mentale Defizite verschärfen sich, sie scheinen manchmal fixiert, ohne es tatsächlich zu sein.

5. Selbstbestimmung als dynamisches Vermögen und Funktion von Kommunikation

Aus der Liste von Einschränkungen bzw. Defiziten (Tab. 3) erhellt schon unmittelbar, dass Betroffene bereits im Alltag Unterstützung benötigen, weil sie Kompetenzen in Bezug auf ihre Lebensführung in signifikantem Ausmaß eingebüßt haben. In rechtlicher Hinsicht ergibt sich eine (kompensatorische oder vollständige) Vertretungsnotwendigkeit, die mit den einschlägigen Mitteln der privaten Vorsorgevollmacht oder der rechtlichen Betreuung (in Deutschland nach dem BGB) realisiert wird.9 Sie dienen auch in der klinischen Praxis dazu, indizierte therapeutische Maßnahmen, ggf. sogar zwangsweise – dann mit zusätzlicher betreuungsrichterlicher Genehmigung – zu legitimieren.

Mangelndes Sinn- und logisches Verständnis
  • Mangelndes Erinnerungsvergmögen
  • Mangelnde Entscheidungsfähigkeit
  • Vollständige Verwirrtheit im Stadium der schweren Demenz
Soziale und Verhaltensdefizite
  • Soziale Unsicherheit
  • betreffend Rollen-Stabilität
  • Kritikfähigkeit
  • Rücksichtnahme
  • Toleranz
Moralische Defizite
  • Taktgefühl
  • Schamgefühl
  • Würde-Bewusstsein betreffend fremde und eigene Würde
Kommunikationsprobleme
  • z. T. mit paradoxen Effekten
Verlust praktischer Fähigkeiten
  • Apraktische Störungen (z. B. Einschränkungen der Haushaltsführung, der Selbstversorgung oder der Körperhygiene)
Tab. 3: Psychische Defizite

Was das Handeln von Ärzten und Pflegenden betrifft, so ist vor jeder weiteren Diskussion klar, dass es nicht nur professionellen Standards genügen, sondern sich auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen muss. Dies ist basal. Es erscheint oft auch ausreichend. Doch liegt die ethische Messlatte für einen guten Umgang mit und eine gute Behandlung von gerontopsychiatrischen Patienten erheblich höher. Es reicht nicht, sie zwar leitlinien- und gesetzeskonform, aber tendenziell dennoch nur wie „menschliche Objekte“ fürsorglich zu behandeln. Hier schlägt durchaus auch in der Psychiatrie eine Tendenz zur Überbetonung des (in seinen Grenzen äußerst wertvollen) medizinischen Paradigmas durch. Es fordert, am biologischen Objekt Krankheitsprozesse zu detektieren und diese in therapeutischer Absicht zu manipulieren. Hinzu kommt neuerdings ein ökonomistisches Leistungsparadigma, das objektives technisches Handeln unterstützt.

Die genannten psychischen Leistungsdefizite entziehen sich aber tendenziell einer objektivierenden klinischen Feststellung. Sie werden erst in der empathisch motivierten und strukturierten Kommunikation apparent und sind – auch und gerade in der Gerontopsychiatrie – erstaunlich modulierbar.10 Eine solche anspruchsvolle Kommunikation ist aber weder im medizinischen noch im ökonomistischen Paradigma vorgesehen und findet gewissermaßen systemfremd und im Rahmen besonderen persönlichen Engagements des Arztes statt. Dann aber ist, was ein demenzerkrankter oder altersdepressiver Mensch wirklich noch vermag und was nicht, für den Arzt im lebendigen zwischenmenschlichen Umgang manchmal besser zu erkennen als in psychologischen Tests, die ohne explizite Motivation leicht zu falsch negativen Resultaten führen und ein unteroptimales Funktionsniveau abbilden. So konnten Vollmann et al.11 zeigen, dass anhand des MacCAT-T-Testes zur Abschätzung der Einwilligungsfähigkeit ein größerer Anteil Patienten als beeinträchtigt eingestuft wurde, als Psychiater dies aufgrund ihres klinischen Urteils getan hatten. Testweise Abbildung täuscht überhaupt eine Statik vor, die im Gegensatz zur Dynamik von Leistungsvermögen steht.12

Das Potential des Umgangs und seine Wirkung auf kognitive und emotionale Prozesse kann hier nicht weiter untersucht werden, es ist aber deshalb relevant, weil es auf das Problem der Selbstbestimmung in der Gerontopsychiatrie eine Perspektive eröffnet, worin die Verantwortung für die autonomen Potenzen eines von den genannten Defiziten betroffenen Patienten nicht nur dessen eigene Sache ist, sondern auch die seiner Ärzte und Pflegenden. Denn die Fähigkeit der Selbstbestimmung ist auch Funktion einer zugewandten, unterstützenden, geduldigen und professionell-therapeutischen Kommunikation.13

Das Funktionieren kognitiver Prozesse ist dynamisch und hängt nicht nur von physiologischen Gegebenheiten ab, sondern auch vom subjektiven Wohlbefinden und dem sozialen Begegnungserleben. Diese Faktoren können bewusst gestaltet werden und Voraussetzungen für einen Kontakt und für Entscheidungen auf einem vergleichsweise hohen kognitiven Funktionsniveau schaffen. Die Selbstverantwortung dieser Patienten benötigt die Verantwortung der signifikanten Anderen.

6. Fürsorge und Selbstbestimmung

Den faktischen mentalen Defiziten gerontopsychiatrischer Patienten (siehe Tab. 3), die eine personale Aktualisierungsminderung bedingen, steht – davon formal unberührt – das überhaupt hohe Gut der Selbstbestimmung gegenüber. Es ist ein allgemeines Gut und ein medizinethisches Leitprinzip und deshalb nicht vor der Tür einer gerontopsychiatrischen Station zu suspendieren. Das ist unstrittig. Das Problem liegt darin, auf dem Boden der Anerkennung dieses Gutes jedem Patienten formal das Recht auf Selbstbestimmung zuzuschreiben, es ihm aber nur nach Maßgabe seiner Möglichkeiten auch real zuzumuten. Wie mit einer therapeutischen Aufgabe darf er aus Sicht des Arztes damit ebenso wenig überfordert (und allein gelassen) wie unterfordert (und herabgewürdigt) werden. Obwohl die Balance von Autonomie und Fürsorge ein einschlägiger Topos der Medizinethik ist,14 sind die diesbezüglichen Entscheidungen der gerontopsychiatrischen Kliniker nach Erfahrung des Autors individuell auffallend verschieden. Auch lässt sich der Eindruck nicht abweisen, dass das Anliegen der modernen Medizinethik, Selbstbestimmung gegen alle Anfechtungen stark zu machen, in vergleichbarer Weise nicht auch das der Patienten ist. Empirische Daten für die in Rede stehende Patientengruppe fehlen. Nach der Erfahrung im klinischen Kontext wollen gerontopsychiatrische Patienten uns Ärzte dazu bringen, ihnen einen Teil ihrer konkreten, praktischen Selbstbestimmung abzunehmen, aber offenbar doch so, dass wir das, was sie dann (noch) sind, gleichwohl für achtenswert – und  sie derart für hilfsbedürftig halten. Sie wollen nicht beliebig dirigiert werden und nicht ausgeliefert sein. Sie wollen aber auch nicht mit einer Pflicht zur Selbstbestimmung belastet (und schon gar nicht terrorisiert) werden, von der sie meist schon seit einiger Zeit sukzessive haben Abschied nehmen müssen. Die Achtung ihrer Würde –nicht im Sinne einer Verantwortungs- oder Leistungswürde, sondern einer jedem Menschen zukommenden universalen „Mitgift-Würde“15 – muss aus gerontopsychiatrischer Sicht der Diskussion um die Bedeutung, Beanspruchung und Supposition von Selbstbestimmung vorausgehen.16 Eine weitergehende Reflexion und Spezifizierung des genannten Würde-Begriffes ist für die Belange der (Geronto-)Psychiatrie freilich wünschenswert. Stoecker17 hat dieser Diskussion jüngst einen wichtigen Impuls gegeben.

Ganz offensichtlich stehen für diese Patienten Unterstützung und Hilfe im Vordergrund. Das scheint klar, doch müssen Fragen der Würde, der Achtung, der Anerkennung, aber auch die Gefährdung derselben durch Ignoranz oder durch narzisstischen und institutionellen Missbrauch von Macht stets im Blick der therapeutischen Akteure bleiben. Was aber die Selbstbestimmung betrifft: Sie muss aus klinischer Sicht, wie andere verminderte Fähigkeiten auch, nicht nur als vorhanden oder nicht vorhanden bestimmt werden, sondern permanent und flexibel vor allem unter dem Aspekt der Subsidiarität. Dies wird zu selten bedacht. Dabei ist Subsidiarität nicht nur ein Kernbegriff theologischer Moraltheorie,18 sondern liegt auch den modernen Rehabilitations-Konzepten des Kompetenzmodells19 oder des Empowerments20 zugrunde. Subsidiarität steckt auch im Leit-Paradigma der Befähigung, das in der ICF - International Classification of Functioning, Disability and Health der WHO21 und im deutschen Sozialrecht explizit bedeutsam ist. Immer geht es dabei um den Primat der erreichbaren Selbständigkeit und wird angemessene Hilfe vor allem als Hilfe zu dieser Selbstständigkeit verstanden. Das lässt sich analog auch auf die faktische Selbstbestimmung beziehen. Soweit die je vorhandene Selbstbestimmung reicht, muss sie gelten, wo sie aber versagt, muss sie assistiert, supplementiert und substituiert werden. Oppenheimer22 spricht von „mutual agreement“.

Das Leit-Paradigma der Befähigung ist ursprünglich an den einsichtigen und einsichtsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft orientiert; es macht Sinn, dass es bei dieser Gruppe einen unbedingten Akzent auf die Förderung von Eigenkompetenz setzt. Demgegenüber geht es bei den gerontopsychiatrisch schwerer betroffenen Personen um eine spezielle Gruppe, die in der Theoriebildung und -verbreitung ausgeblendet erscheint. Das ist wenig überraschend, denn hier sind der Verbesserung von Befähigungen und Kompetenzen enge Grenzen gesetzt. Für diese wachsende Anzahl von Patienten, die jahrzehntelang über alle Fähigkeiten zur Selbstbestimmung verfügt haben und jetzt in einem kritischen „Zustand danach“ sind, müssen nicht nur klinische, sondern auch gute moralische Behandlungsstrategien etabliert sein. Davon sind wir aus klinischer Sicht noch entfernt.

7. Selbstbestimmung, Person und Würde

Wenn personale Selbstbestimmung der Grund- und Hauptwert zeitgemäßer Lebensführung ist,23 dann ist Demenz die biografische Katastrophe, weil genau jene spezifischen geistigen Vermögen/Funktionen suspendiert sind, die ermöglichen, was Personsein ausmacht; dazu gehört wesentlich ein Bewusstsein der eigenen Geschichte.24

Einschränkungen (bis zum scheinbaren Verlust) des Personseins haben objektive (man wird anders behandelt) und subjektive Folgen (man verliert sich als selbstgewisse Identität und als Urheber bewusster und vernünftiger Akte). Für eine ethische „Lebens-Wert-Diskussion“, die von einer engen, nämlich an mentale Leistungen gebundenen Konzeption von Personsein ausgeht, entsteht hier eine Versuchung, Fürsorge zu relativieren und konsequenterweise auch eine soziale Exklusion der Betroffenen in Kauf zu nehmen – letztlich sogar in einem weiteren Schritt auch den (wenigstens) freiwilligen Lebensverzicht.25 Selbst die Tötung solcher Nicht-mehr-Personen ist dann ethisch nicht mehr unstrittig verboten.26

Aus ärztlicher Sicht, d. h. unter Beachtung der Verpflichtung auf die ebenso tradierte wie in der Berufsordnung aktualisierte (undifferenzierte) Erhalt-des-Lebens-Formel, sollte im gerontopsychiatrischen Kontext daher weniger mit der Selbstbestimmungs- und Personen-Argumentation operiert werden, sondern stärker zumindest mit jener (universellen, unbedingten „Mitgift“-) Würde, die alles, was ein menschliches Antlitz hat,27 auszeichnet und unverfügbar macht. Aus solcher Würde kann die Verpflichtung abgeleitet werden, den Anderen auch bei schwindender Selbstverfügung wertschätzend und achtsam zu behandeln – immer und bis zuletzt als Subjekt menschlicher Würde, akzidentell freilich als entscheidungsunfähig oder – eingeschränkt.

Ist es aber so einfach? Ergibt sich diese Verpflichtung gewissermaßen automatisch? Und: Was genau soll eine Mitgift-Würde denn schützen? Wie soll ihretwegen mit einem demenziell-verwirrten Menschen konkret umgegangen werden? Was sollte in einer speziellen Situation möglichst getan oder unterlassen werden? Und: Inwiefern ist ein der Selbstbestimmung nicht mehr mächtiger Mensch überhaupt Subjekt menschlicher Würde? Solange solche Fragen nicht klar beantwortet sind, zieht die medizinethische Diskussion der Würde allzu leicht den Vorwurf auf sich, sie sei „hopelessly blurred“.28 Tatsächlich liegt bis heute, wie Schaber29 zutreffend beklagt, eine ausgearbeitete und vor allem breit konsentierte Würde-Konzeption nicht vor. Deshalb stehen auch diese heuristischen Überlegungen unter dem Vorbehalt des Vorläufigen.

Nimmt man zunächst die universelle und juristische Würde-Konzeption als Basis, dann lässt sich eine Ethik der gegenseitigen Beziehungen („Beziehungsethik“), wie sie ursprünglich von Gilligan30 als Care-Ethik konzeptualisiert wurde, gerade für den therapeutischen Umgang mit an Demenz und ähnlichen Zuständen Erkrankten sinnvoll darauf aufsetzen. Das In-Beziehung-Sein (Relatedness) der Patienten als ein aus der Care-Ethik stammender Kernbegriff beschreibt eine reale Erfahrung aller mit gerontopsychiatrischen Menschen engagiert Arbeitenden, auf der auch medizinische und pflegerische Entscheidungen beruhen. Doch müssen Relatedness und Würde der Patienten aufeinander bezogen werden, um jene nicht nur als pur soziale, relationale und fürsorgliche Erfahrung zum subjektiven Hauptkriterium ethischer Urteile werden zu lassen; Ethik kann auf allgemeine Geltungsansprüche schließlich nicht verzichten. Erst nach dem Durchgang durch eine objektive Wertediskussion kann die sozialpsychologisch und klinisch so fundamentale Existenzform, aufeinander bezogen zu leben, mit guten Gründen auch ethisch als entscheidungsrelevant anerkannt werden. Vor allem wehrte diese Diskussion der Gefahr einer ethisch zu Recht diskriminierten Bevormundung im Rahmen willkürlich interpretierter Fürsorge auch und gerade dann, wenn Beziehungen extrem asymmetrisch (geworden) sind und mit einseitiger Abhängigkeit einhergehen. Ein durch das Würde-Prinzip gezähmter Paternalismus erscheint mir in diesen Situationen aber hilfreicher als ein legalistischer Autonomie-Enthusiasmus.

Freilich ist der Begriff der Würde für das spezielle klinische Handeln nicht unmittelbar fruchtbar; er verbietet prima facie nur Ignorieren und ignorantes (Nicht-)Handeln. Der Würde-Begriff muss weiter ausdifferenziert und im Einzelfall interpretiert werden.31 Würde ist aber zumindest der Anspruch darauf, z. B. auch im Falle fortgeschrittener Demenz mit voller Wahrnehmungsintensität und Präsenz der „helfenden Anderen“ beachtet und als Mensch individuell „beantwortet“, vor allem aber weder ignoriert noch exkludiert zu werden.

Dieser Gedanke wird tragfähiger, wenn man ihn auf den moralischen Status bezieht, der z. B. in der Konzeption Forsts32 den Anspruch auf Würde begründet: dass eine Person an andere Forderungen stellen darf. Spricht man einer Person diesen Anspruch ab, verletzt man ihre Würde. Auch wenn sie wie bei fortgeschrittener Demenz ihre Geltungsansprüche nicht mehr selber ausflaggen kann, darf nicht zugelassen werden, dass sie nichts mehr gilt; dies wäre die Negation eines zentralen Elementes von Würde. Tatsächlich kann ein an fortgeschrittener Demenz Erkrankter keine Ansprüche mehr stellen; er kann sie nicht denken, nicht formulieren und nicht vertreten. Was er ein Leben lang konnte, kann er jetzt nicht mehr. Er ist jemand, der diese (und andere) Fähigkeiten verloren hat. Die Möglichkeit, eine naturbestimmte, aber spezifisch menschliche Fähigkeit zu verlieren, ist Teil der conditio humana; sie kann auch als eine mögliche Eigenschaft gelesen werden, die nur ein Mensch besitzen kann und die ihn (neben anderen Eigenschaften) spezifisch ausweist. Für Martha Nussbaum33 kommt Würde jedem menschlichen Wesen zu, das irgendeine der typisch menschlichen Fähigkeiten besitzt, dabei keineswegs nur rationale. Es bietet sich meines Erachtens nun mit Blick auf die Gerontopsychiatrie an, auch das Verlieren einer naturbedingten, aber spezifisch menschlichen Fähigkeit anthropologisch auszuzeichnen; schließlich kann es sachlich und logisch nur unter Voraussetzung und Anerkennung eines vorgängigen Besitzes gedacht werden. Aus einer solchen grundsätzlichen Auszeichnung resultiert für jemanden, der die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verloren hat, ein ähnlicher Status, wie man ihn von emeritierten Würdenträgern kennt, die ihr bedeutendes Amt nicht mehr ausüben; auch sie sind durch das „Gehabthaben“ ihrer speziellen Würde in einem positiven Sinn stigmatisiert. (Vorsorglich sei angemerkt, dass natürlich in Fällen früh erworbener schwerer Intelligenzmängel, welche die Selbstbestimmung ebenfalls signifikant einschränken, auf andere Weise für Würde zu argumentieren ist.) Für die Würdezuschreibung sollte diese Situation: spezifisch menschliche Fähigkeiten gehabt zu haben und sie als vormals kompetenter Mensch jetzt verloren zu haben, eine Verstärkung der Hindernisse bedeuten, einem Betroffenen Menschenwürde abzusprechen. „Verstärkung“ meint, dass zur basalen, allgemeinen Mitgift-Würde eine weitere „Absicherung“ hinzukommt, indem einerseits Aspekte sowohl des allgemeinen moralischen Status als auch einer anthropologischen Würdekonzeption, wie sie Nussbaum vertritt, im Sinne der gezeigten „Perfekt-Perspektive“ berücksichtigt werden, die zu verstehen helfen, was es heißen soll, mit einem desorientierten, der Welt und sich selbst gegenüber hilflos gewordenen Menschen fürsorglich umzugehen und dabei seine Würde zu achten. Die klinische Realität zeigt, dass die Gefahr einer bloßen fürsorglichen Verwaltung, die auch die Reste des emotionalen und kognitiven Potentials eines solchen Patienten ausblendet, sehr konkret ist, weil Bequemlichkeit und Zeitersparnis beim helfenden Personal infolge der fehlenden Kraft des Gegenübers leicht die Überhand gewinnen. Ein klares ethisches Konzept, das dem Imperativ der Mitgift-Würde die Möglichkeit feinerer Orientierung an die Seite stellt, ist als moralischer Wegweiser nötig.

Dass „die Helfer“ im konkreten Fall mittels realer Formen der Beziehung (z. B. am Leitfaden eines Relatedness-Verständnisses) ihr würdeverpflichtetes Helfen angemessen umsetzen müssen, ist klar. Schulung, kollegiale Intervision und Supervision sind dabei hilfreich und ggf. auch notwendig. Das wert-schätzende Handeln der Helfer ist im Übrigen eine Funktion und Implikation ihrer eigenen Würde, was darauf beruht, dass Würde ein grundsätzlich gegenseitiges Konstrukt ist:34 Respektiere ich die Würde des selbstführungslos gewordenen Menschen nicht, so verspiele ich auch meine eigene Würde. Genauer: Ich verspiele nicht nur meinen Würdeanspruch als potentiell Gleichbetroffener zu einem anderen Zeitpunkt, sondern hic et nunc auch meine eigene Würde sowohl vor mir selbst als auch in den Augen anderer. Würde ist formal nicht ohne Gegenseitigkeit denkbar und im realen Zusammenleben bzw. im Umgang miteinander nicht ohne Solidarität anzuerkennen.

8. Der 4-Prinzipien-Ansatz und seine Grenzen

An dieser Stelle der Überlegungen wird deutlich, dass der unter 2. erwähnte Vier-Prinzipien-Ansatz in der Gerontopsychiatrie nicht weit genug reicht. Gerade weil die vier Prinzipien unter dem Primat des Prinzips der Achtung der Selbstbestimmung im ärztlichen Umgang mit an Demenz Erkrankten gestresst werden, reichen sie nicht aus, um die Erfordernisse/den Spielraum einer zeitgemäßen, moralisch guten klinischen Praxis zwischen Autonomie und Abhängigkeit auszuleuchten. Man kann und darf die Augen nicht verschließen vor der tatsächlichen Katastrophe des Verlustes der Fähigkeit, sich und sein Handeln (weiterhin) vernünftig zu bestimmen. Es hilft auch nichts – diese Tendenz eignet der Stellungnahme des deutschen Ethikrates,35 die Defizite schönzureden, auch wenn wissenschaftliche Literatur dazu aufgeboten wird, die m. E. erstaunlich unbekümmert auch auf schwere Stadien der Demenz extrapoliert wird. Immerhin ist bereits unmittelbar nach Diagnosestellung einer demenziellen Erkrankung die Geschäftsfähigkeit bezweifelbar, weil diese Diagnose eo ipso kognitive Leistungsdefizite impliziert.36

Wenn aber die reale Selbstbestimmung erheblich vermindert ist oder fehlt (nicht nur juristisch, sondern naturalistisch-klinisch), dann fehlt dem Inhalt und dem Motiv des Prinzips „Achtung der Selbstbestimmung“ der Boden, denn es ist ja der selbstbestimmten Kranken wegen eingeführt worden, um ihrer Selbstbestimmung die entsprechende Achtung durch ihre behandelnden Ärzte zu sichern. Fehlt aber der Achtung ihr achtungswürdiger Gegenstand, weil die Selbstbestimmung nicht (mehr) geleistet werden kann, fällt nach dem 4-Prinzipien-Ansatz der ethische Schwerpunkt auf Fürsorge und Nichtschaden, aber auch auf das Prinzip der gerechten Verteilung medizinischer Güter, die jeweils nach der aktuellen Situation von Bedarf und Verfügbarkeit bestimmt werden muss. Es ist zu vermuten, dass neben dem objektiven klinischen Bedarf auch die Vorhandenheit oder vielmehr Nichtvorhandenheit von Selbstbestimmung in die Allokationsentscheidung einfließt. Das dürfte nicht im Sinne von Childress und Beauchamp37 sein. Auch nicht die reale Gefahr, dass Fürsorge im Sinne von „Objekt-Verwaltung“ geschieht. Doch haben diese Autoren paradigmatisch die Gruppe nicht-dementer Kranker im Auge. Dementsprechend findet ihr Ansatz im Bereich schwerer psychischer, vor allem kognitiver Defizite seine Grenze. Diese Grenze scheint mir im Allgemeinen nicht genügend bedacht. Vielmehr wird der Ansatz für die gesamte Medizin (außer für ernste Notfallpatienten) universalisiert. So wird dann in der Diskussion gerontopsychiatrischer Probleme die Argumentation unerschütterlich auf den Erhalt der Selbstbestimmung solange wie möglich oder ein optimistisches Deuten auch reduzierter Selbstbestimmung38 gelenkt. Damit werden aber klinische Realitäten schwerwiegender Hilflosigkeiten, vor allem massiver Verwirrung und Verwirrtheit, die mit Selbstbestimmung allenfalls im Sinne eines buchstäblich natürlichen (also unfreien) Willens kompatibel sind, ignoriert bzw. faktisch abgeblendet. Dies kann man ironisch so zuspitzen: Wohin unsere Prinzipien nicht reichen, dort müssen wir ethisch schweigen (oder die reale Situation umdeuten). Deutlich wird jedenfalls: der Vier-Prinzipien-Ansatz lässt uns im Bereich der Gerontopsychiatrie spürbar im Stich.

Vor dem Hintergrund dieses Befundes scheint es mir naheliegend, die explizite Erweiterung der Vier Prinzipien um das Prinzip „Würde“ (zumindest im allgemeinen Kant’schen und Verfassungssinn) zu diskutieren. Damit ist zwar zum inhaltlichen Umgang des Arztes mit dem Patienten noch wenig gesagt (wie im Falle der anderen Prinzipien auch), aber es ist von vornherein Vernachlässigung, Erniedrigung und Fremdwillkür ethisch der Boden entzogen. Würde ist auf ihre gegenseitige Anerkennung angewiesen; sie ist universalisierbar im Kantschen Sinn wie die vier anderen Prinzipien auch. Sie sollte den etablierten 4-Prinzipien-Kanon ergänzen.

9. Zusammenfassung

Vorstehende Überlegungen sind aus der Begegnung medizinethischer Reflexion und gerontopsychiatrischer Praxis entstanden. Sie basieren auf der Anerkennung der krankheitsbedingten graduellen Verluste von kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen und ihrer Korrelate im Erleben betroffener Patienten. Selbstbestimmung setzt solche Kompetenzen unausgesprochen voraus. Durch die Überschätzung von Autonomie und Selbstbestimmung kommt es zur medizinethischen Unterbelichtung einer besten hilfreichen Praxis im gerontopsychiatrischen Feld. Es bleibt dann bestenfalls die Forderung, dass subsidiär Reste der Selbstbestimmung in geduldiger unterstützender Kommunikation einerseits gefördert und assistiert werden; andererseits ist sie, wo tatsächlich nötig, auch rechtzeitig zu substituieren. Doch der als klinisch-ethischer Standard etablierte Vier-Prinzipien-Ansatz ist im Bereich der Gerontopsychiatrie nicht weitreichend genug, weil das Fürsorgeprinzip zwar bei Ausfall der Selbstbestimmung in Anspruch genommen werden soll, es aber (zu) beliebig bleibt, in welcher Art (z. B. naiv paternalistisch-verfügend oder respektvoll-wertschätzend) das geschieht. Die Ergänzung dieses etablierten Firstline-Wertekanons durch das Prinzip „universelle Würde“ als Schutz vor Entwürdigung durch willkürliche Fürsorge sollte diskutiert werden. Fürsorge soll sich im Übrigen immer an das reale Mehr oder Weniger von Entscheidungskompetenz flexibel anpassen und soll im Felde von Bezogensein geschehen.

Referenzen

  1. Mayer K. U., Baltes P. B. (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie, Akademie Verlag, Berlin (1996)
  2. Beauchamp T., Childress P., Principles of biomedical ethics, 4th edn., Oxford University Press, New York (1994)
  3. Hartmann F., Patient, Arzt und Medizin, Beiträge zur ärztlichen Anthropologie, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen (1984)
  4. ebd.
  5. Buchanan A. E, Brock D. W., Deciding for others: the ethics of surrogate decision-making, Cambridge University Press, Cambridge (1990)
  6. Frankfurt H., Freiheit und Selbstbestimmung, Akademie Verlag, Berlin (2001)
  7. vgl. z. B. DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.), Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN, Der Nervenarzt (2014); 85(11): 1419-1431
  8. z. B. Helmchen H., Kanowski S., Lauter H., Ethik in der Altersmedizin, Kohlhammer, Stuttgart (2006); Zapotoczky H. G., Fischhof K. P. (Hrsg.), Handbuch der Gerontopsychiatrie, Springer-Verlag, Wien/ New York (1996)
  9. ausführlich und praxisnah Zimmermann W., Vorsorgevollmacht Betreuungsverfügung Patientenverfügung für die Beratungspraxis, Erich Schmidt Verlag, Berlin (2007)
  10. Holthoff V., Reuster T., Schützwohl M. (Hrsg.), Ergodem. Häusliche Ergotherapie bei Demenz, Thieme, Stuttgart/ New York (2013)
  11. Vollmann J., Kühl K. P., Tilmann A., Helmchen H., Einwilligungsfähigkeit und neuropsychologische Einschränkungen bei dementen Patienten, Nervenarzt (2004); 75: 29-35
  12. vgl. Hacker W., Allgemeine Arbeitspsychologie: Psychische Regulation von Wissens-, Denk- und körperlicher Arbeit, 2. Aufl.. Huber, Bern (2005)
  13. vgl. für den psychotherapeutischen Bereich Tress W., Erny N., Patientenautonomie – ein dynamisches Konzept, Psychotherapie im Dialog (2009); 10(4): 291-301
  14. z. B. Helmchen H., Kanowski S., Lauter H., siehe Ref. 8
  15. Höffe O., Medizin ohne Ethik? Suhrkamp, Frankfurt am Main (2002)
  16. ähnlich aus pflegeethischer Sicht: Neumann E.-M., Pflegeethik, in: Helmchen H., Kanowski S., Lauter H., Ethik in der Altersmedizin, Kohlhammer, Stuttgart (2006), S. 310-359
  17. Stoecker R., Philosophie der Menschenwürde und die Ethik der Psychiatrie, PsychiatPrax (2014); 41, Supplement 1: 19-25
  18. Nell-Breuning O. von, Das Subsidiaritätsprinzip, in: Münder J., Kreft D. (Hrsg), Subsidiarität heute, Votum Verlag, Münster (1998), S. 173-184; Schramm M., Subsidiäre Befähigungsgerechtigkeit durch das Solidarische Bürgergeld, in: Straubhaar T. (Hrsg.), Bedingungsloses Grundeinkommen und solidarisches Bürgergeld – mehr als soziologische Konzepte, University Press, Hamburg (2008), S. 177-218
  19. Olbrich E., Kompetenz im Alter, Zeitschrift der Gerontologie (1987); 20: 319-330
  20. z. B. Theunissen G., Plaute W., Handbuch Empowerment und Heilpädagogik, Lambertus, Freiburg i. Br. (2003)
  21. WHO (World Health Organization), Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (2013), www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2013/index.htm (letzter Zugriff am 25. 01. 2014)
  22. Oppenheimer C., Ethics in old age psychiatry, in: Bloch S., Chodoff P., Green S. A. (eds.), Oxford University Press, New York (1999), S. 317-343
  23. Bieri P., Wie wollen wir leben? Residenz Verlag, St. Pölten (2011)
  24. Quante M., Person, 2. Aufl., De Gruyter, Berlin/ Boston (2012); Bittner G., Bin „ich“ mein Erinnern? in: Bittner G. (Hrsg), Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Königshausen & Neumann, Würzburg (2006), S. 57-70
  25. Gerhardt V., Sondervotum, in: Deutscher Ethikrat, Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme (2012) www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/demenz (letzter Zugriff am 23. 02. 2015)
  26. Singer P., Praktische Ethik, 3. Aufl., Reclam, Stuttgart (2013)
  27. Fichte J. G., Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Werke I, 3 (Hrsg. Lauth R., Jacob H.), Frommann-Holzboog, Stuttgart (1966), S. 291-460
  28. Macklin R., Dignity is a useless concept, British Medical Journal (2003); 327: 1419-1420
  29. Schaber P., Menschenwürde, Reclam, Stuttgart (2012)
  30. Gilligan C., In a different voice, Harvard University Press, Cambridge (1982); vgl. Brucker C. M., Moralstrukturen, Grundlagen der Care-Ethik, Deutscher Studien-Verlag, Weinheim (1990)
  31. vgl. Stoecker R., siehe Ref. 17
  32. Forst R., Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2005); 53(4): 589-596
  33. Nussbaum M., Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Harvard University Press, Cambridge (2006)
  34. Bieri P., Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, Hanser, München (2013)
  35. Deutscher Ethikrat, siehe Ref. 25
  36. vgl. Zimmermann W., siehe Ref. 9
  37. Beauchamp T., Childress P., siehe Ref. 2
  38. auch eine andere Selbstbestimmung ist Selbstbestimmung, Deutscher Ethikrat, siehe Ref. 25

Anschrift des Autors:

Priv.-Doz. Dr. med. habil. Thomas Reuster
Institut für Geschichte der Medizin, TU Dresden
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Städtisches Klinikum Görlitz gGmbH
reuster.thomas(at)klinikum-goerlitz.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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