Über die Achtung des persönlichen Gewissens in der pluralistischen Gesellschaft. Kommentar zu einer Erklärung der Glaubenskongregation

Imago Hominis (2003); 10(2): 67-71
Enrique H. Prat

In der pluralistischen multikulturellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist die Politik dazu berufen, in allen aufkommenden gesellschaftsrelevanten Fragen einen Konsens zu finden, der das Zusammenleben ermöglicht. Jeder Konsensfindung geht eine Debatte voraus, die gleichsam ethischer wie politischer Natur ist. Die Debatte wird also auf zwei Ebenen geführt, die miteinander eng verflochten sind, aber jeweils ihre eigene Rationalität, Dynamik und Austragungsort haben. Während in der Politik letztlich der Konsens das handlungslegitimierende und -rechtfertigende Ziel ist, muss in der Ethik die Wahrheitssuche an die erste Stelle treten. Wenn die Tatsache, dass es letztlich praktischpolitisch um den Konsens geht, so verstanden wird, dass es irrelevant sei, die Wahrheit zu suchen, geht der kulturelle Pluralismus in einen ethischen Relativismus über.

Es gibt viele regelungsbedürftige Grundfragen, die deshalb große politische Relevanz haben, weil sie vor allem von individualmoralischer Bedeutung sind. Es sind jene Fragen, die den einzelnen auch in seinem Gewissen betreffen und daher nicht allein durch gesellschaftlichen Konsens gelöst werden können. Da sind Fragen des Lebensrechts wie Abtreibung, Euthanasie, Achtung der Rechte des menschlichen Embryos, Klonung; es geht aber auch um Fragen der Familie, wie etwa die Gewährleistung des Schutzes und der Förderung der Rechte der Familie, die auf der monogamen Ehe zwischen Personen verschiedenen Geschlechts gründet und die in ihrer Einheit und Stabilität gegenüber den modernen Gesetzen über die Ehescheidung zu schützen ist. Des weiteren die Achtung und Förderung des Rechts der Eltern, in der Erziehung ihrer eigenen Kinder frei zu entscheiden, der soziale Schutz der Minderjährigen und viele andere Fragen.

Gerade in den Fragen der Lebensethik wie auch allgemein in der akademischen bioethischen Argumentation ist die Tendenz immer stärker geworden, pragmatisch die Richtigkeit von Thesen durch ihre Konsensfähigkeit zu begründen. Zwischen mehreren miteinander konkurrierenden Thesen wird jener der Vorrang eingeräumt, die den größeren Konsens erzielt. Im Zusammenhang mit der Abtreibung und der Euthanasie behauptet Hoerster zum Beispiel, dass, um einem Individuum der menschlichen Spezies das Recht auf Leben zuzuerkennen und den Schutz seines Lebens tatsächlich zu gewähren, dieses Individuum selbst ein Überlebensinteresse signalisieren muss. Diese Position soll allen anderen gegenüber vorrangig sein, weil sie einen allgemeinen Konsens erzielen kann. Dass dieser „vermeintliche“ Konsens de facto noch nicht erreicht wurde – so Hoerster1 – müsse darauf zurückgeführt werden, dass es für die Entwurzelung von stark verankerten, aber überholten Vorurteilen Jahrzehnte brauche. Harris, Dworkin, Singer, Rawls – die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden – verwenden ebenfalls den Konsens als Methode. Die modernen konsensethischen Ansätze (Habermas, Rawls u. a.) interessieren sich nicht so sehr für das Gute, den zentralen Begriff der Ethik, sondern vor allem für das (formal) Richtige, das letztlich die Wahrheitsfrage erspart. Die klassische Ethik ihrerseits sucht auch den Konsens, aber auf indirektem Wege. Sie geht von der Konsensfähigkeit der Wahrheit aus, d. h., es wird angenommen, dass in der Verfolgung ihres eigentlichen Zieles, nämlich der Findung und der Begründung der sittlichen Wahrheit, sich der Konsens einstellen muss.

Während in der Politik der Konsens Staat und Gesetzgebung legitimiert, kann er in der Moral höchstens ein Zeichen für die soziale und politische Geltung der Norm sein, welche die moralische Legitimation letztlich von woanders beziehen muss. Das übersehen die modernen konsensethischen Theorien: Sie übertragen das im politischen Bereich geltende demokratische Prinzip auf den moralischen Bereich und statuieren damit den Konsens als die moralisch legitimierende Instanz. Daraus resultiert ein unbefriedigender moralischer Minimalismus, ein Werte zersetzender Relativismus und letztlich eine Pervertierung der Toleranz.

Über die Grundwerte des Staates

Gegen diesen Relativismus wendet sich eine gegen Ende des letzten Jahres veröffentlichte Erklärung der Glaubenskongregation, die „zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ Stellung nimmt. Die Diagnose ist klar: „Heute kann man einen gewissen kulturellen Pluralismus feststellen, der mit der Theorie und Verteidigung des ethischen Pluralismus deutliche Zeichen an sich trägt, die den Verfall und die Auflösung der Vernunft und der Prinzipien des natürlichen Sittengesetzes anzeigen. In Folge dieser Tendenz ist es leider nicht unüblich, dass in öffentlichen Erklärungen behauptet wird, der ethische Pluralismus sei die Bedingung für die Demokratie“ (Nr. 2).

Der „Demokratiekult“ ist heute tatsächlich soweit gediehen, dass man vielfach übersieht, dass die Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie nicht garantieren kann2. Die Demokratie lebt von Werten und moralischen Einstellungen, die sie respektieren muss aber selber weder schaffen noch sichern kann. Kardinal Ratzinger hat dies auch in Bezug auf den demokratischen Staat sehr anschaulich in folgenden sechs Thesen formuliert:

„1. Der Staat ist nicht selbst Quelle von Wahrheit und Moral. (…)

2. Das Ziel des Staates kann aber nicht in einer bloßen inhaltlosen Freiheit liegen; um eine sinnvolle und lebbare Ordnung des Miteinander zu begründen, braucht er ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist. Andernfalls wird er, wie Augustinus sagt, auf die Stufe einer gut funktionierenden Räuberbande herabsinken, weil er wie diese nur vom Funktionalen her bestimmt wäre und nicht von der Gerechtigkeit, die gut ist für alle.

3. Der Staat muß demgemäß das für ihn unerlässliche Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Gute von außerhalb seiner selbst nehmen.

4. Dieses „Außerhalb" könnte günstigstenfalls die reine Einsicht der Vernunft sein, die etwa von einer unabhängigen Philosophie zu pflegen und zu hüten wäre. Praktisch aber gibt es eine solche reine, von der Geschichte unabhängige Vernunftevidenz nicht. (…)

5. Als am meisten universale und rationale religiöse Kultur hat sich der christliche Glaube erwiesen, der auch heute der Vernunft jenes Grundgefüge an moralischer Einsicht darbietet, das entweder zu einer gewissen Evidenz führt oder wenigstens einen vernünftigen moralischen Glauben begründet, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann.

6. Demgemäß kommt dem Staat – wie wir schon sagten – das, was ihn wesentlich trägt, von außen zu, nicht aus einer bloßen Vernunft, die im moralischen Bereich nicht ausreicht, sondern aus einer in historischer Glaubensgestalt gereiften Vernunft.“3

Ein Demokratieverständnis also, das im Namen der Freiheit und der Toleranz von den Bürgern einen ethischen Pluralismus abverlangt, operiert mit inhaltsleeren Begriffen von Freiheit und Toleranz und verwickelt sich selbst in unlösbaren Widersprüchen. Die Erklärung der Glaubenskongregation (Nr. 3) zeigt einen solchen Widerspruch auf. Die Bürger fordern für Ihre moralischen Entscheidungen eine totale Autonomie, die der Gesetzgeber einerseits respektiert wissen will. Anderseits aber beschließt der Staat oft auch Gesetze (z. B. über Abtreibung, künstliche Befruchtung, Experimente mir Embryonen usw.) „die von den Prinzipien der natürlichen Ethik absehen und kulturellen oder moralischen Einstellungen nachgeben, die mehr oder weniger in Mode sind, als ob alle möglichen Auffassungen über das Leben den gleichen Wert hätten“ (Nr. 2). Wie wird der Widerspruch scheinbar gelöst? Indem „mit irrtümlicher Berufung auf den Wert der Toleranz von einem guten Teil der Bürger – auch von den Katholiken – gefordert (wird), darauf zu verzichten, am sozialen und politischen Leben der eigenen Länder gemäß der Auffassung über die Person und das Gemeinwohl mitzuwirken, die sie als menschlich wahr und gerecht ansehen und die sie durch die legitimen Mittel umsetzen möchten, welche die demokratische Rechtsordnung allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft in gleicher Weise zur Verfügung stellt.“ (Nr. 2). Das ist aber eine höchst intolerante Lösung.

Das Dokument der Glaubenskongregation will nicht jenen Pluralismus in Frage stellen, der auf der legitimen Freiheit der Bürger ruht, unter den politischen Meinungen, die mit dem natürlichen Sittengesetz vereinbar sind, jene auszuwählen, die gemäß dem eigenen Urteil den Erfordernissen des Gemeinwohls besser gerecht wird. Es muss aber auf der anderen Seite klargestellt werden, dass die politische Freiheit nicht in der relativistischen Idee gründet, gemäß der alle Auffassungen über das Wohl des Menschen dieselbe Wahrheit und denselben Wert besitzen, „sondern in dem Umstand, dass die politischen Aktivitäten von Fall zu Fall auf die ganz konkrete Verwirklichung des menschlichen und sozialen Wohles hinzielen, und zwar in einem genau umschriebenen geschichtlichen, geographischen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Zusammenhang. Von der konkreten Verwirklichung und den verschiedenen Umständen hängen im Allgemeinen die unterschiedlichen Einstellungen und Lösungen ab, die allerdings moralisch annehmbar sein müssen.“ (Nr. 5). Der Christ ist gehalten, berechtigte Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge anzuerkennen. Zugleich ist er gerufen, sich von einer Auffassung des Pluralismus im Sinn eines moralischen Relativismus zu distanzieren, die für das demokratische Leben selbst schädlich ist. Dieses braucht wahre und solide Fundamente, das heißt ethische Prinzipien, die auf Grund ihrer Natur und ihrer Rolle als Grundlage des sozialen Lebens nicht verhandelbar sind.

Laizität: der politische Missbrauch eines Begriffes

Manchmal wird Laizität als Kampfbegriff gegen Religion benutzt, indem eine Argumentation oder These aus der öffentlichen Debatte mit dem Hinweis disqualifiziert und letztlich ausgeschlossen wird, indem sie als religiös begründet oder motiviert abgetan wird. Diesem Hinweis ist in der bioethischen Debatte der letzten Jahren um Abtreibung, Euthanasie, oder Lebensrecht des Embryos laufend zu begegnen, in dem katholische Philosophen, Ärzte oder Politiker diskriminiert werden, weil ihr Eintritt für Werte und Positionen, die in keiner Weise konfessionell sind, fälschlicher Weise als rein religiös begründet hingestellt werden.

Die römische Erklärung stellt richtig, dass Laizität als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen, nicht aber gegenüber der moralischen Sphäre verstanden werden darf (Nr. 6). Außerdem haben Katholiken das Recht und die Pflicht „wie alle anderen Bürger aufrichtig um die Wahrheit zu suchen und die moralische Wahrheit über das gesellschaftliche Leben, die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Ehrfurcht vor dem Leben und die anderen Rechte der Person mit legitimen Mitteln zu fördern und zu verteidigen. Die Tatsache, dass einige dieser Wahrheiten auch von der Kirche gelehrt werden, mindert nicht die bürgerliche Berechtigung und die Laizität des Einsatzes derer, die sich darin wiederfinden, und zwar unabhängig davon, welche Rolle die rationale Suche und die vom Glauben kommende Bestätigung bei der Anerkennung dieser Wahrheiten durch den einzelnen Bürger gespielt haben. Laizität bedeutet nämlich in erster Linie Respekt vor jenen Wahrheiten, die der natürlichen Erkenntnis von dem in der Gesellschaft lebenden Menschen entspringen, auch wenn diese Wahrheiten zugleich von einer bestimmten Religion gelehrt werden, weil es nur eine Wahrheit gibt. Es wäre ein Irrtum, die richtige Autonomie, die sich die Katholiken in der Politik zu eigen machen müssen, mit der Forderung nach einem Prinzip zu verwechseln, das von der Moral- und Soziallehre der Kirche absieht“ (Nr. 6).

Die Schlussfolgerung dazu ist ziemlich klar und schlüssig: „Wer im Namen des Respekts vor dem persönlichen Gewissen in der moralischen Verpflichtung der Christen, mit dem eigenen Gewissen kohärent zu sein, ein Zeichen sehen möchte, diese politisch zu disqualifizieren und ihnen die Berechtigung abzusprechen, in der Politik entsprechend ihren eigenen Überzeugungen bezüglich des Gemeinwohls zu handeln, würde einem intoleranten Laizismus verfallen. Diese Einstellung leugnet nicht nur jede politische und kulturelle Relevanz der christlichen Religion, sondern auch die Möglichkeit einer natürlichen Ethik. So würde der Weg zu einer moralischen Anarchie eröffnet, der mit keiner Form einem legitimen Pluralismus gleichgesetzt werden könnte. Die Herrschaft des Stärkeren über den Schwachen wäre die offenkundige Folge dieser Einstellung. Die Marginalisierung des Christentums würde darüber hinaus nicht den zukünftigen Entwurf einer Gesellschaft und die Eintracht unter den Völkern fördern, sondern die geistigen und kulturellen Grundlagen der Zivilisation selbst bedrohen“ (Nr. 6).

Mut zur Wahrheit hat seinen Preis

Das Dokument fordert von den Katholiken, sich nicht von der Intoleranz mancher einschüchtern zu lassen und mutig für die Wahrheit einzutreten. Sie dürfen auch nicht wegen der eventuellen politischen Aussichtlosigkeit eine in der moralischen Wahrheit begründete Position aufgeben, um das zu befürworten, was falsch, aber absehbar konsensfähig ist. Johannes Paul II. hat mehrmals während seines Pontifikats unterstrichen, dass jene, die direkt in den gesetzgebenden Versammlungen tätig sind, die klare Verpflichtung haben, sich jedem Gesetz zu widersetzen, das ein Angriff auf das menschliche Leben ist. „Für sie, wie für jeden Katholiken, ist es nicht erlaubt, sich an einer Meinungskampagne für solche Gesetze zu beteiligen oder sie mit der eigenen Stimme zu unterstützen. Das hindert nicht daran – wie Johannes Paul II. in der Enzyklika Evangelium vitae für den Fall lehrte, in dem eine vollständige Abwendung oder Aufhebung eines bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre –, dass es einem Abgeordneten, dessen persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt wäre, gestattet sein könnte, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern.“ (Nr. 4).

In der Postmoderne stößt die immer aktuelle Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“ nicht unbedingte auf Interesse. Wozu denn? Nach jahrtausendlangen Reflexionen scheint die Frage nicht gültig lösbar. Pragmatisch gesehen reicht für das friedliche Zusammenleben der Konsens aus. Ist das eine Errungenschaft? Für viele ja, wenn nunmehr niemand mehr – weder der christliche Märtyrer noch Sokrates –für die Wahrheit sterben muss. Es ist sogar als Fundamentalismus verpönt. Für andere – für die Christen ebenso wie für Sokrates – ist die Antwort „nein“, weil es sich nur für die Wahrheit zu leben und sterben lohnt. Es wird also einmal mehr übersehen, dass es ohne Wahrheit auch keine wahre Freiheit gibt. „Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde“, hat Johannes Paul II. geschrieben. „In einer Gesellschaft, in der man die Wahrheit nicht verkündet und nicht danach strebt, sie zu erlangen, wird auch jede Form echter Freiheitsausübung beseitigt und der Weg zu einem Libertinismus und Individualismus eröffnet, der dem Wohl der Person und der ganzen Gesellschaft schadet.“ (Nr. 7)

Referenzen

  1. Kongregation für die Glaubenslehre: Lehrmäßige Note zu einigen Fragen der über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, Rom, 24. November 2002
  2. Hoerster N., Abtreibung im säkularen Staat, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1995) und Sterbehilfe im säkularen Staat, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1998)
  3. Böckenförde E.W., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1991), S. 112
  4. Ratzinger J., Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Herder Verlag, Feiburg (1993), S. 87-89

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, Imabe-Institut
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