Theorie des Wissens im Kontext naturwissenschaftlicher Modelle. Eine epistemologische Untersuchung anhand der aktuellen Debatte um die Evolutionstheorie

Imago Hominis (2007); 14(2): 137-149
Markus F. Peschl

Zusammenfassung

Wissen ist kein homogenes Phänomen. Ausgehend vom jeweiligen Gegenstand(-sbereich) des Wissens lassen sich unterschiedliche Komplexitäts- und Abstraktionsstufen des Wissens identifizieren: Obgleich die Realität eins ist, jedoch in dieser Einheit eine Vielfalt an Erscheinungsformen und Eigenschaften in sich birgt, entstehen aus dieser Vielfalt eine Vielzahl an Dimensionen des Wissens. Diese sind das Resultat der Art und Weise, wie die Realität befragt wurde. Jede Dimension der Realität spiegelt sich in einer Ebene des Wissens wider. Die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen solch einer Untersuchung sind weit reichend – sie erstrecken sich bis hin zu den fundamentalen Fragen des Ursprungs des Universums, des Lebens, des Seins und der Evolution. Vor allem für den Bereich der Naturwissenschaften (im Speziellen der Frage der Evolution) ergeben sich aus diesen Überlegungen der Theorie des Wissens interessante Implikationen: Sie hinterfragen die (naturwissenschaftlichen) Modelle nicht so sehr, sondern versuchen, diese in einen größeren Kontext zu stellen.

Schlüsselwörter: Wissenschaftstheorie, Theorie des Wissens, Philosophie, Naturwissenschaften, Epistemologie, Evolutionstheorie, Wissen

Abstract

Knowledge is not a homogeneous phenomenon. Although the phenomenon which we are interested in appears to be a unity we discover that we can differentiate various levels according to the way we are studying and exploring this phenomenon. This paper introduces various levels in reality and develops corresponding forms of knowledge in the epistemological domain. They extend over a wide epistemological spectrum ranging from data, information, over theories from the natural sciences, (philosophical) knowledge, to wisdom and mystical knowledge. It turns out that, if one takes seriously the whole range of forms of knowledge as well as the level of meaning and of being, this has major implications for our understanding of scientific knowledge in general and the theory of evolution in particular. It will be shown that without having to leave the realm of “rational knowledge/thought” it is possible that the natural sciences (e. g., the theory of evolution) both receive their proper recognition and are assigned to their proper status in the larger context of the wide spectrum of forms of knowledge.

Keywords: epistemology, philosophy of science, evolution, natural sciences, philosophy, knowledge


„Geist hat es kraft seines Wesens mit dem Ganzen der Realität zu tun, er ist im Grunde gar nichts anderes als die auf das Allgesamt des Wirklichen gerichtete Beziehungskraft, fähig und darauf angelegt, in Kontakt zu kommen und Kontakt zu halten mit allem, was überhaupt ist. „Geist haben“, „ein geistbegabter Mensch zu sein“ besagt vor allem: capax universi zu sein, fassungskräftig und empfänglich für das Totum der Welt; nicht, wie das Tier, eingesperrt in das Ausschnittmilieu „Umwelt“, sondern existierend im Angesicht der Gesamtwirklichkeit, vis-á-vis de l´univers…

… dass ein geistiges Wesen und also auch der Mensch seine wahren Möglichkeiten darin realisiere, dass er des Ganzen der Wirklichkeit ansichtig wird und sich zu ihm hin ausdrücklich öffnet. Die Hervorbildung des eigentlich und unterscheidend Menschlichen, mit einem anderen Wort: wirkliche Bildung des Menschen, geschieht einzig insoweit, als solche Konfrontierung mit dem Totum des Seienden ausdrücklich in Gang gebracht wird.“ (Josef Pieper)1

Spielen die Wissenschaftstheorie und die Theorie des Wissens in den heutigen Debatten der Naturwissenschaften (und hier stehen die Fragen der Evolution, der Genetik etc. in einem besonderen Fokus) noch eine Rolle? Warum ist eine philosophische Herangehensweise in diesen Fragen einerseits so maßgeblich und bleibt andererseits im (natur-)wissenschaftlichen Alltag so wenig berücksichtigt? Wie sieht die Relation zwischen naturwissenschaftlichem, philosophischem und theologischem Wissen aus?

Will man den Anspruch naturwissenschaftlicher (und philosophischer) Aussagen und Modelle verstehen, muss man den größeren epistemologischen Kontext, in dem diese Aussagen stehen, analysieren. Es genügt weder, nur die (kognitiven) Operationen, die an der Entstehung des Wissens beteiligt sind, zu untersuchen, wie es etwa die Cognitive Science oder naturalisierte Epistemologie tut;2 noch ist eine rein klassisch wissenschaftstheoretische Herangehensweise ausreichend.3 Auf einer grundlegenderen Ebene stellt sich die epistemologische Frage, auf welche Aspekte der Realität sich die Aussagen, theoretischen Konstrukte, Modelle etc. beziehen. Mit dieser Frage eröffnet sich ein ganzes Spektrum in der Unterscheidung der verschiedenen Niveaus des Wissens, welche sich sowohl auf die Struktur der Realität als Ausgangspunkt des Wissens als auch auf die Gegebenheiten des (menschlichen) kognitiven Systems als Erzeuger dieses Wissens stützt. Die folgende Unterscheidung4 beruht also auf der Frage: Was ist das Objekt resp. was ist der Aspekt der Realität, auf das resp. den sich die jeweilige Form des Wissens bezieht? Stellt man sich diese Frage, so eröffnet sich ein epistemologisches Spektrum ausgehend von Daten und Fakten über Information, (wissenschaftliches) Wissen und Erkenntnis, bis hin zu der Weisheit und Formen des mystischen Wissens.

1 Die materielle Dimension der Realität und deren Korrelate im epistemologischen Raum

1.1 Daten und Fakten

Die Begriffe Daten und Fakten werden meist synonym verwendet. Daten/Fakten beinhalten jenes „Wissen“, welches sich am Ort der Erhebung, der Registrierung, des ersten Kontaktes mit der Realität ergibt: also jenes Wissen, welches z. B. in einem Rezeptorpotential, im „nackten Wert“ eines Messgerätes etc. repräsentiert wird. Es ist also Wissen, das an Rezeptoren, Sensoren, Messgeräten etc. aus dem ersten Kontakt mit der Realität generiert wird. Als Beispiel denke man etwa an die Zahl, die bei der Messung der Spannung auf einem Voltmeter angezeigt wird – jedoch nur die Zahl ohne die dazugehörige Maßeinheit (z. B. Volt); i. e. der „nackte Messwert“.

Was ist der Gegenstand von Daten/Fakten, auf welchen Aspekt der Realität beziehen sie sich? Daten referieren auf den quantitativen Wert einer bestimmten Dimension eines Objekts/Phänomens (z. B. dessen Quantität in der elektromagnetischen Schwingung, dessen taktile oder akustische Quantität). Sie geben Auskunft über das Wieviel, die Quantität einer bestimmten (sensorischen) Qualität, ohne dabei über diese Qualität Auskunft zu geben.

Normalerweise geht man davon aus, dass Daten/Fakten epistemologisch neutral sind: i. e., sie spiegeln einen bestimmten Zustand der Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne Verzerrung wider. Bereits ihre etymologischen Abstammungen weisen jedoch auf ein Phänomen hin, welches uns in der Diskussion um die Frage des Wissens bereits des Öfteren begegnet ist:

(a) „Daten“: kommt aus dem Lateinischen und stammt von dem Verb „dare“ (= geben, darbieten, anbieten); „datum“ ist das Partizip Perfekt Passiv und bedeutet daher „gegeben". Daten sind also etwas Gegebenes, das, was uns von der Realität „angeboten" wird, das, was gegeben ist…

(b) „Fakten“: stammt von dem lateinischen Wort „facere“ (= machen, tun, herstellen); „factum“ bedeutet also etwas, was gemacht ist.

Bereits die Wahrnehmung ist alles andere als ein passiver Prozess der Abbildung der Realität auf die Strukturen des Wissens.5 Dies gilt natürlich auch für diesen Kontext. Daten entstehen bei der ersten Kontaktaufnahme mit der Realität, z. B. bei der Transduktion oder in einem Messprozess. Aus der Wissenschaftstheorie oder der Cognitive Science geht hervor, dass das Messgerät oder der Sensor maßgeblich an der Form und Struktur der erzeugten Daten/Fakten beteiligt ist. Es ist gerade die Aufgabe dieser Systeme, die Umweltzustände in eine Form zu transformieren, welche für das repräsentationale System „les-/verstehbar“ und verarbeitbar sind. Durch den Sensor wird also nicht nur der Ausschnitt der Realität ausgewählt, sondern auch die Art und Weise, wie diese wahrgenommen wird. Das impliziert, dass die Idee einer Abbildung oder Neutralität der Daten/Fakten zugunsten folgender Überlegung aufgegeben oder zumindest hinterfragt werden muss: Einerseits gibt die Realität etwas vor (= „datum“) und andererseits macht der Prozess der Transduktion, der Wahrnehmung oder der Messung etwas aus diesem Gegebenen (= „factum“). Es geht also um die Frage, inwieweit diese Prozesse aktiv und verzerrend in den Prozess der Wissensgenerierung eingreifen und inwieweit sich in den Daten/Fakten noch die Struktur resp. der Zustand der Realität wiederfindet.

Abgesehen von dieser epistemologischen Schlüsselfrage stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass Daten für sich genommen eigentlich ohne jegliche Bedeutung sind: im Grunde stellen sie – von außen besehen – eine Ansammlung zusammenhangloser Reihen von Quantitäten/Zahlen dar, die für sich genommen völlig kontext- und bedeutungslos sind. Aus den Daten selber sind der Bezug und die Referenz auf einen bestimmten Aspekt der Realität nicht ersichtlich, weshalb ihnen keinerlei Semantik zugewiesen werden kann.

1.2 Information

Eine Ebene weiter in der Komplexitätshierarchie des Wissens findet sich das Konzept der Information.6 Information ist eine Form von Wissen, welche Daten/Fakten in einen Kontext setzt. In anderen Worten, Daten werden zu Information, wenn man sie in den Kontext einer Theorie oder eines Bedeutungshintergrundes stellt, also, wenn man ihnen z. B. eine Maßeinheit zuweist und ihnen damit eine Bedeutung gibt. Dem durch eine Zahl dargestellten Faktum wird beispielsweise durch das Hinzufügen der Maßeinheit „kg“ die Bedeutung einer Masse zugewiesen. Dadurch wird auf einer semantischen Ebene wieder die ursprüngliche Qualität (z. B. Masse, Tonhöhe, Spannung etc.) des gemessenen oder wahrgenommenen Ausschnittes der Realität eingeführt — dies geschieht freilich nur in der intentionalen Dimension; die Information trägt natürlich nicht die „reale“ Qualität z. B. einer Masse oder elektrischen Spannung in sich, sondern bezieht sich nur auf diese Qualität, die sich ausschließlich in der Realität befindet. Information hat also die Quantität der Qualität eines Phänomens oder Ausschnittes der Realität zum Gegenstand.

Der größte Teil dessen, was uns heute z. B. im Internet oder in Büchern als „Wissen“ verkauft wird, sind im Grunde nur Informationen: eine Sammlung von Daten, die sich dadurch, dass sie in einen theoretischen Kontext gestellt werden, als Wissen ausgeben (seien es historische, naturwissenschaftliche oder Informationen anderer Natur). An diesem Punkt ist man jedoch noch weit entfernt von der Dimension des Sehens von Zusammenhängen, einer kompetenten Bewertung, des Verstehens oder gar einer tiefen Einsicht in die Realität (siehe die folgenden Ebenen des Wissens). Genau dieses künstlich herbeigeführte und genährte Missverständnis ist einer der Gründe für ein immer flacher werdendes Denken und Verständnis der Dinge in der gegenwärtigen „intellektuellen Lage der Gesellschaft“. Wir haben es mit einer unvorstellbaren Anhäufung von Informationen zu tun, der jeglicher Zusammenhang, jegliche Einordnung oder Struktur, und vor allem jegliche Bewertung oder tiefere Bedeutung fehlt. In den meisten Fällen fehlt den Rezipienten/innen dieser Informationen darüber hinaus die Erfahrung und die Rückgebundenheit an die Realität, um diese Informationen in kompetenter und intellektuell souveräner Weise einordnen oder bewerten zu können. Die Folgen im pädagogischen Bereich sind einfach zu identifizieren und werden bereits in vielen Bereichen sichtbar: Es geht mehr oder weniger explizit ausgesprochen nicht mehr um das tiefere Verstehen von Dingen, Ursachen und Zusammenhängen, sondern hpts. um das automatisierte Reproduzieren (= „Auswendiglernen“) von Informationen.7 Diese sind einerseits vergleichsweise billig vermittelbar (z. B. via einfacher Formen des eLearning8 etc.) und andererseits einfach evaluierbar (z. B. über Multiple-Choice-Tests) – der-/diejenige, der/die das beste Gedächtnis hat, hat die besten Chancen…

1.3 (Naturwissenschaftliche) Theorie

Genau dieses Manko an Unstrukturiertheit wird auf der Ebene wissenschaftlicher Theorien aufgegriffen: Informationen sind im Grunde relativ wertloses Wissen, da (a) deren Bedeutungsgehalt relativ begrenzt ist und (b) es keine tiefere Einsicht (z. B. in Form von Ursachen) in eine Realität erlaubt, (c) weil es zusammenhanglos ist, (d) weil es keine Bewertung abgibt und (e) weil es über Muster, Regelmäßigkeiten, Trends oder die Dynamik der Realität keine Auskunft gibt. All dies sind jedoch Minimalkriterien, welche man für die einfachsten Operationen des Überlebens von jeder Art des Wissens erwarten würde.

Wissenschaftliche Theorien sind eine Form von Wissen, welches Informationen und Daten zueinander in Beziehung setzt. Informationen werden aktiv zu abstrakteren Einheiten und Strukturen verarbeitet und zusammengesetzt (vgl. auch den Prozess des Erkenntnisgewinnes):

(i) verschiedene Informationen werden zueinander in Beziehung gesetzt (unterschiedliche Modalitäten, Quellen, Messgrößen, von unterschiedlichen Zeitpunkten und Orten etc.)

(ii) Anwendung induktiver Verfahren der Verallgemeinerung, Statistik etc.

(iii) Konstruktion von Klassen und Kategorien

(iv) Einführung/Konstruktion zeitlicher und räumlicher Ordnungen

(v) Extraktion und Konstruktion von Mustern, raum-zeitlichen Regelmäßigkeiten aus den vorliegenden Informationen

(vi) Operationalisierung der entstandenen Wissenseinheiten in Form von (wissenschaftlichen) Theorien

(vii) Formulierung der Wissenseinheiten in einem standardisierten formalen Format oder System (z. B. der Mathematik, der Logik, eines Algorithmus, eines terminologischen Systems etc.)

(viii) Bewertung dieser theoretischen Konstrukte bezüglich ihrer epistemologischen Qualität (z. B. Generalität, Prognosegenauigkeit etc.)

Als Beispiele für diese Form von Wissen kann man jede (naturwissenschaftliche) Theorie/Modell oder Alltagstheorie („folk theories“), welche Zusammenhänge zu erklären bzw. zu verstehen und vorherzusagen versucht, heranziehen. Der Gegenstand, auf welchen sich (wissenschaftliche) Theorien beziehen, ist jener Ausschnitt der Realität, der in erster Linie mit ihrem Funktionieren zu tun hat. I. e., diese Art des Wissens gibt vor allem über die Funktionsweise und die (materiellen) Zusammenhänge der untersuchten Realität Auskunft: Es geht um Zusammenhänge, Regelmäßigkeiten und die Verhaltensdynamik, welche in Form von „Erklärungen“ oder kognitiv nachvollziehbaren Mechanismen als Theorie oder Modell dargestellt werden. Theorien handeln in erster Linie von dem „unsichtbaren“ oder nicht direkt (i. e. mit den Sinnesorganen) zugänglichen materiellen Bereich der Realität. Theorien haben das Ziel, genau jenen „unsichtbaren“ Bereich so weit „sichtbar“ (im Sinne von verstehbar oder intellektuell handhabbar) zu machen, dass man mittels Prognosen und gezielter Manipulation mit und in diesem erfolgreich operieren und kooperieren kann. Es geht in erster Linie um die Beschreibung, Prognose und Manipulation der Verhaltensdynamik des jeweiligen Ausschnittes der Realität.

Als Beispiel stelle man sich etwa eine wissenschaftliche Erklärung oder ein Modell eines Kühlschranks vor: Sie/es gibt uns in erster Linie darüber Auskunft, wie dieser funktioniert, wie die Ursache-Wirkungszusammenhänge zu verstehen sind, welche Materialien (z. B. Kühlflüssigkeit, Isoliermaterialien etc.) zum Einsatz kommen usw. Über die „Finalität“ oder das „Warum“ eines Kühlschranks wird man in einer wissenschaftlichen Theorie zumeist nichts finden – dies betrifft einen anderen Aspekt der Realität des Kühlschranks, welcher im wissenschaftlichen Wissen nahezu keine Berücksichtigung findet resp. finden darf (siehe nächster Abschnitt). Dies gilt freilich nicht nur für Kühlschränke, sondern in gleicher Weise für viel komplexere und umfassendere Bereiche wie etwa jenen der Entstehung der Arten, der Entstehung des Universums etc.

Im Allgemeinen haben (wissenschaftliche) Theorien die abstrakte Form einer Regel oder einer Implikation: Wenn die Prämisse wahr ist, so folgt daraus eine bestimmte Conclusio; wobei die Prämisse z. B. ein bestimmter Zustand s der Realität ist, der einem Einfluss x ausgesetzt wird und aus dem – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – ein Verhalten oder Übergang in den Zustand t des beobachteten Systems folgt. Mit diesem Wissen kann man also die Verhaltensdynamik physischer Systeme im Rahmen einer gewissen Wahrscheinlichkeit prognostizieren und in weiterer Folge bei Kenntnis der dahinter liegenden Mechanismen in diese Dynamik auch gezielt eingreifen (z. B. Gentechnik, jede Form eines Experiments etc.). Mit der Erzeugung qualitativer und genauer Prognosen oder erfolgreicher Eingriffe in die Dynamik der Realität ist natürlich noch nicht sehr viel über den Grad der „Wahrheit" dieses Wissens ausgesagt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass es in bestimmten Situationen mehr oder weniger gut funktioniert, weshalb man in diesem Kontext auch von dem vom Konstruktivismus geprägten Konzept der funktionalen Passung oder der Viabilität spricht.9 Eine Theorie „passt — vergleichbar wie Schlüssel und Schloss — funktional in die Realität“. Es ist klar, dass wir es hier in erster Linie mit einem Wissen zu tun haben, welches einem funktionalistischen Paradigma folgt und welches primär auf Handlung und Effizienz (und nicht so sehr auf den „kontemplativen Aspekt“ und das Verstehen) ausgerichtet ist. Die pädagogische Konsequenz dieser Form des Wissens wird in vielen Fällen an den Universitäten und vor allem an Fachhochschulen praktiziert: Bei dieser Form des Wissens geht es vornehmlich um die Vermittlung von „Rezepten" und das Erlernen, diese in den richtigen Situationen anzuwenden… Wissen wird zu einem Instrument und technologischen Mittel des Problemlösens/der Problembewältigung reduziert. Im Grunde handelt es sich beim Einsatz dieses Wissens um einen ziemlich unkreativen Prozess,10 da nur bereits Erprobtes zur Anwendung kommt, dieses bestenfalls optimiert wird11 und mögliche radikal neue Aspekte der Realität zumeist außen vor bleiben. Außerdem findet in dieser Form des Wissens nur die materielle Dimension der Realität Berücksichtigung – alle anderen Dimensionen und Aspekte der Realität bleiben völlig unberührt.

2 Der Überstieg zur nicht-materiellen Dimension

Die nun folgenden Ebenen des Wissens (resp. der Realität) führen eine radikale Unterscheidung ein: Sie nehmen eine Dimension in den Blick, welche über das rein materielle Substrat hinausweist – eine Dimension, welche der Realität eigentlich erst ihre Bedeutung gibt und welche den (geistigen) Fähigkeiten des Menschen erst gerecht werden.

2.1 Wissen/Erkenntnis (im eigentlichen Sinne)

Obgleich (wissenschaftliche) Theorien über einen hohen Grad an Mächtigkeit, Effizienz und Detailwissen verfügen und vor allem das Programm der (Natur-)Wissenschaften höchst erfolgreich ist, haftet an all diesen Theorien bei genauerer Betrachtung ein „schaler Nachgeschmack“ des intellektuellen Mangels: So bleibt etwa in all den bisherigen Formen des Wissens die Frage nach der Bedeutung oder Finalität der Realität nahezu unberücksichtigt. Wissen oder Erkenntnis (im eigentlichen Sinne) unternimmt den qualitativen Sprung weg von der Materialität hinein in die geistige Dimension der Realität: Erkenntnis/Wissen hat neben der materiellen vor allem die nicht-materielle Dimension der Realität zum Objekt. Das Materielle wird natürlich nicht ausgeschlossen, aber es ist nur ein Sprungbrett in die Domäne des Geistigen, welches der Noblesse der menschlichen Kognition am ehesten entspricht.

Diese geistige Dimension betrifft die Bedeutung, die Determination, die intelligible Form, das Wesen, die Finalität etc. einer Realität. Es bedarf einer intellektuellen und kognitiven Anstrengung und konstruktiver Aktivität, diese Dimension der Realität zu erschließen, da sie sich unseren Sinnesorganen nicht direkt präsentiert. Ein Tisch trägt diese Dimensionen (z. B. seiner Bedeutung oder seines Zwecks) nur implizit in sich – diese müssen erst durch aktive Operationen des Denkens erschlossen, konstruiert, erfahren und überprüft werden. Vor allem die Frage nach dem „Was“, nach dem Wesen und nach der Finalität einer Realität spielen auch in der Alltagskognition eine zentrale Rolle: Die Zuschreibung von Bedeutungen, von Zielen etc. passiert in den meisten Fällen völlig automatisch, ist aber essentiell und nicht selbstverständlich. Auf dem wahrgenommenen Tisch liegt normalerweise kein Kärtchen, auf dem steht „Ich bin ein Tisch und ich habe das Ziel, dass du etwas auf mir ablegen kannst“ – auch wenn dies so wäre, so würden wir mit unseren Sinnesorganen nur dessen Materialität und materielle Muster wahrnehmen, niemals direkt die Bedeutung der Schriftzeichen. Unser gesamtes qualitatives Verstehen der Realität baut jedoch auf dieser Form des Wissens (i. e., die Bedeutung, intelligible Form etc.) auf.

Zur Illustration dieser Form des Wissens erinnere man sich etwa an die Erfahrung eines „Aha-Erlebnisses“, in dem man in einem Moment ein bestimmtes Phänomen zu verstehen beginnt und sich der Realität besonders „nahe“ weiß. Der Unterschied zu den vorhergehenden Formen des Wissens lässt sich an folgendem Beispiel demonstrieren: In einem Fall stelle man sich einen guten Freund oder den/die Partner/in vor (z. B. ihre Größe, Augenfarbe, körperliche Details etc.); im anderen Fall denke man an genau diese Person. Der Unterschied besteht darin, dass man im ersten Fall vor allem die körperlichen/materiellen Merkmale z. B. in Form von Bildern oder sensiblen Erinnerungen vor seinem inneren Auge hat. Im zweiten Fall wird diese Person zwar vielleicht auch in ihren Merkmalen auftauchen, aber darüber hinaus wird man sie in ihrer Gesamtheit und in dem, was/wer er/sie ist, denken. In gewisser Weise wird der „Kern“ dieses Menschen gegenwärtig, die Person – dies geht viel tiefer als nur die physischen Eigenschaften oder die Verhaltensweisen etc. (vgl. Daten, Information, Theorie).12 Natürlich lassen sich diese beiden Bereiche in der Ausübung des Denkens nicht voneinander trennen – diese Unterscheidung lässt sich nur in der Analyse machen; sie ist aber wesentlich, da sie eine neue Dimension des Wissens aufzeigt, welche einem zentralen Bereich der Realität Rechnung trägt.

Da dieser nicht-materielle Bereich den Sinnesorganen nicht direkt zugänglich ist, muss er durch eine Eigenaktivität und Operationen des Denkens erschlossen und (re-)konstruiert werden. Der Prozess des Fragens13 und des aktiven und zugleich offenen Zugehens auf die Realität spielen in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Es geht darum, mit Hilfe des Fragens und der aktiven Erforschung in die Realität einzudringen und ihren (geistigen) Kern zu erkunden. Die Entdeckung der Bedeutung/Determination, ihrer Finalität und ihres Wesens sind das Ziel dieser kognitiven Operationen. Erst das Wissen auf dieser (geistigen) Ebene befriedigt den Verstand und lässt ihn zur Ruhe kommen, wenngleich auch klar ist, dass dieser Erkenntnisprozess prinzipiell kein Ende kennt, da die Realität das Wissen über die Realität immer übersteigt — auch wenn das Wissen noch so profund, detailliert, wissenschaftlich etc. ist. Es bedarf permanent eines neuen Zugehens auf die Realität, um diese noch besser und noch tiefer zu erkennen. Dies wird besonders deutlich, wenn man es mit der wahrscheinlich komplexesten und reichhaltigsten Realität, die wir kennen, zu tun hat: dem Menschen. Das Ziel all dieser intellektuellen Bemühungen besteht darin, die jeweils untersuchte Realität „von innen her“ kennen zu lernen, mit anderen Worten, über die materielle Dimension hinaus in das Innere der Realität einzudringen und diese nicht mehr materielle Dimension zu erforschen und ans Tageslicht zu fördern. Das ist im Grunde die Aufgabe des philosophischen, oder allgemeiner, des geisteswissenschaftlichen Arbeitens.14

Uns muss jedoch bewusst sein, dass diese Form des Wissens sehr fragil ist. Es lässt sich nur schwer in Sprache fassen, da es häufig um Dinge geht, die über das sprachlich Beschreibbare hinausgehen und sehr stark an die direkte Erfahrung mit der Realität gebunden sind. Es ist ein Charakteristikum dieser Form des Wissens, dass man – besonders, wenn es um die Frage des tiefen Verstehens einer Realität geht – dieses Wissen niemals fest in der Hand hat; in diesem Sinn kann man Wissen nicht „besitzen“; man muss es daher auch immer wieder neu für sich selber entdecken und erschließen. Dies impliziert auch, dass sich dieses Wissen nicht in derselben Weise vermitteln lässt wie etwa Informationen oder wissenschaftliche Theorien. Der/die Lehrende muss den/die Studierende/n quasi an der Hand nehmen und ihn/sie führen. Den Weg der Entdeckung dieser Dimension der Realität und der Erkenntnis muss die jeweilige Person jedoch in jedem Fall selber zurücklegen.

Vor allem die Philosophie, die Geisteswissenschaften, die Kunst und die Metaphysik sind auf dieser Ebene des Wissens angesiedelt. Aus dieser Perspektive relativiert sich auch die Vormachtstellung naturwissenschaftlicher Theorien und naturwissenschaftlichen Wissens: Im Bereich der Effizienz, Anwendung und Technologie sind sie unbestritten eine unbedingte Notwendigkeit. Aus der Sicht der in diesem Abschnitt präsentierten Ebene des Wissens resp. der Erkenntnis in einem philosophischen Sinne kann naturwissenschaftlichen Theorien keineswegs der Primat eingeräumt werden. Epistemologisch hängen sie immer von dieser Ebene ab und sind immer relativ zu dieser. Der Primat des Wissens/der Erkenntnis gegenüber (naturwissenschaftlichen) Theorien lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren: Die Gentechnik hat ein äußerst detailliertes Wissen um die genetischen Prozesse und Mechanismen des Lebendigen und des Menschen im Speziellen entwickelt. Im Kontext des Klonens oder der Evolutionstheorie jedoch reichen diese Kenntnisse nicht mehr aus, da es im Grunde um eine andere Frage geht; nämlich um die Frage: „Was ist der Mensch?“ Dies ist eine Frage, die sich mit den Mitteln der Naturwissenschaften – wenn überhaupt – nur an der (materiellen) Oberfläche beantworten lässt. Hier sind die Mittel der Philosophie und Metaphysik gefragt, welche Orientierung in diesen schwierigen ethischen Problemen bieten können, da sie über die materiellen Eigenschaften ihrer Gegenstände hinausschauen und versuchen, zu ihrem Wesen vorzudringen.

2.2 Weisheit

Ist die Dimension des Wissens und der Erkenntnis im Alltagskontext des „normalen Menschen“ noch ständig präsent, so ist dies bei der Weisheit meist nicht mehr der Fall. Diese Form des Wissens versucht den Urgrund der Realität und der Dinge zu ergründen und ist damit in der Metaphysik (im aristotelischen Sinn15) und der natürlichen Theologie angesiedelt. In der Weisheit geht es um die Entdeckung der ersten Ursachen und der (ersten) Prinzipien. So steht etwa die fundamentale Frage „Woher kommt das Sein?“ am Anfang eines intellektuell steilen Aufstiegs zur philosophischen Entdeckung eines ersten Wesens oder eines ersten Prinzips, welches der Urgrund für alles, was existiert, ist. Hier handelt es sich jedoch noch nicht um theologische Ansätze oder eine Frage des Glaubens, sondern um eine streng philosophische und intellektuelle Recherche, die darauf basiert, dass man mit dem Denken und Fragen immer weiter und tiefer zu gehen versucht und sich nicht mit Erklärungen wie z. B. der Urknalltheorie „abspeisen“ lässt.16 Dieses penetrante Weiterfragen des Verstandes kann natürlich einige Konsequenzen im Sinne von „unangenehmen“ Einsichten nach sich ziehen, wie z. B. die Abhängigkeit des Seins, also auch meines eigenen Seins von einem ersten Sein oder – wie es die religiösen Traditionen nennen – von Gott. Wie man damit umgeht, ist eine Frage der Theologie. In unserem Kontext ist jedoch wichtig festzuhalten, dass diese Einsicht keineswegs nur eine Glaubensfrage oder Ansichtssache ist, sondern eine Frage der intellektuellen Redlichkeit (i. e., welche Fragen lasse ich zu und welche klammere ich aus welchen Gründen auch immer aus).

Es ist daher kein Wunder, dass diese Art des Wissens sehr häufig im Umfeld religiöser Traditionen vorzufinden ist. Darüber hinaus – und das scheint interessant – ist die Weisheit trotz ihres manchmal hoch abstrakten Charakters in höchstem Maße konkret, da sie meist von sehr konkreten Eigenschaften der Realität handelt. Sie ist daher nicht nur auf Menschen mit hohem intellektuellem Niveau beschränkt, sondern findet sich oft auch bei so genannten „einfachen Menschen“; ihre Qualität des Wissens liegt darin, dass sie „sehr nahe entlang der Realität“ denken. Die Weisheit erfordert einen Lebensstil, der der Realität im höchsten Maße zugewandt ist und am besten als „kontemplativ“ bezeichnet werden kann. Nur so ist es möglich, in jene Dimensionen der Realität vorzudringen, welche diese „intellektuellen Geheimnisse“ von sich preisgibt.

2.3 Mystisches Wissen

Über diese Art des Wissens lässt sich am wenigsten sagen, da sie in den meisten Fällen etwas ist, was geschenkt wird oder was man z. B. in einer Vision empfängt. Ein Charakteristikum ist wohl, dass man mystisches Wissen nicht von sich aus erzeugen kann. Vieles, was in den religiösen Traditionen z. B. der Heiligen des Christentums oder auch aus den östlichen religiösen Traditionen überliefert ist, fällt in diese Kategorie des Wissens – man muss sich aber immer bewusst sein, dass es sich dabei um eine in Sprache vermittelte Version dessen handelt, was die jeweilige Person in einer sehr persönlichen, intimen und existentiellen Erfahrung erlebt hat und damit immer nur ein matter Abglanz dessen ist, was es ursprünglich war. Aus diesem Grund kann dieses Wissen meist nur in poetischer Sprache (z. B. hl. Johannes vom Kreuz, hl. Katharina v. Siena etc.), in Bildern oder Analogien vermittelt werden.

Wenn man von Formen und Ebenen des Wissens spricht, wäre es nicht redlich, diese Form des Wissens auszuklammern. Mystisches Wissen ist ein Phänomen, welches evident ist und welches sich in der einen oder anderen Form in fast allen Kulturen findet.

2.4 Alternative Herangehensweisen an die Frage des Wissens

Die hier vorgestellte Unterscheidung der Arten des Wissens hat ihren Ursprung in den unterschiedlichen Dimensionen der Realität, also in dem Objekt, worauf sich die jeweilige Wissensart bezieht. Darüber hinaus gibt es natürlich eine Menge alternativer Möglichkeiten, wie man Wissen klassifizieren kann.17

Ohne in einen Kulturpessimismus verfallen zu wollen, muss man konstatieren, dass durch den Primat des Positivismus und der Naturwissenschaften ebenso wie durch eine Überflutung an ungeordneter Information sich im Bereich des Wissens eine gewisse Inflation breit gemacht hat. Wissen oder Weisheit (in obigem Sinn) – früher Domänen der Universitäten – ist an diesen Institutionen immer seltener zu finden. Bestenfalls wird man mit Rezeptwissen, Information und Optimierung der Wissensgewinnung im Bereich wissenschaftlicher Theorien konfrontiert. Ein Großteil der Forschungspolitik und der Fördergelder für Forschung und Lehre geht in technologische Felder und Anwendungsforschung. Damit einher geht die „Wissensfalle“, nämlich der „schleichende Verlust der Intelligibilität resp. der Verlust der Sehnsucht nach der Intelligibilität“: i. e., die Frage nach dem „Was“ ist nahezu zu einer „Unfrage“ geworden und wird oft als Hemmschuh für die Entwicklung und Forschung vor allem in den Naturwissenschaften verstanden.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Ebenen des Wissens um eine Unterscheidung handelt – eine Unterscheidung, welche unserem Denken eine Orientierungshilfe in der Komplexität des Wissens anbietet. In der Analyse können diese Ebenen meist recht klar unterschieden werden – in der Ausübung sind diese Ebenen immer miteinander vermischt und erscheinen als eine Einheit (z. B. in der Erkenntnis der Bedeutung eines Phänomens sind immer Daten und Informationen über den jeweiligen Aspekt der Realität involviert; in gewisser Weise sind sie die materiellen Träger der Bedeutung und damit eine unverzichtbare Voraussetzung, dass man deren Bedeutung oder Finalität erst verstehen kann).

3 Zusammenschau und Relevanz für die moderne (Natur-)Wissenschaft

Auf die Ausgangsfrage der Rolle der Wissenschaftstheorie und der Theorie des Wissens in den Naturwissenschaften und in aktuellen naturwissenschaftlichen Debatten zurückkommend ergibt sich aus obigen Überlegungen folgendes Bild, welches in Abb. 1 graphisch dargestellt ist: Wenn wir als Beobachter/innen mit einem Phänomen konfrontiert sind, so stehen wir einerseits vor einer einheitlich erscheinenden Realität und andererseits erschließt sich diese Realität in einer epistemologischen Vielfalt (vgl. Abschnitte weiter oben). Wir stehen also vor dem Paradoxon der Einheit in der Vielfalt und der Vielfalt in der Einheit. Beide sind das Resultat unserer kognitiven Operationen, welche einerseits Unterscheidungen auf das Phänomen projizieren und andererseits durch ebendieses Phänomen in gewissem Maße determiniert sind. Einerseits verfügt der untersuchte Gegenstand über eine eigene Struktur und andererseits wird diese durch kognitive Prozesse der Konstruktion und Unterscheidung erzeugt. Abb. 1 versucht das Resultat dieser Interaktion in Form eines Schichtmodells darzustellen; die Schichten bezeichnen einerseits Schichten der Realität und entsprechen andererseits über weite Strecken den Ebenen des Wissens aus obigen Abschnitten. In gewisser Weise wird die Realität resp. das untersuchte Phänomen „Schicht für Schicht“ mit Hilfe intellektueller Operationen abgetragen und freigelegt.

3.1 Von der Wahrnehmung zur (Natur-)Wissenschaft

Die äußerste Schicht der Realität ist jene, die unseren Sinnen direkt zugänglich ist; mit anderen Worten, diese kann mit Hilfe der Sinnesorgane wahrgenommen werden und betrifft die „äußere materielle Erscheinung“ des Phänomens, dessen sensible Qualitäten, wie z. B. Farbe, Geruch etc. In obiger Wissenstypisierung entspricht diese Schicht den Ebenen der Daten und Information. Das Instrument, welches zur Gewinnung dieses Wissens eingesetzt wird, ist die sensible Wahrnehmung (i. e. der Transduktionsprozess und die primäre neuronale Verarbeitung18).

Wie wir gesehen haben, geht die (natur-)wissenschaftliche Herangehensweise einen Schritt weiter und lässt die verborgene materielle Dimension der Realität zum Vorschein kommen. Mittels Messgeräten und Methoden der (Natur-)Wissenschaften gibt das Phänomen eine innere Schicht von sich preis, welche sich dem direkten Zugang durch die Sinne entzieht. Diese Ebene der Realität betrifft deren Funktion(-ieren), das Wie und die inneren Mechanismen, welche zum (sensibel) beobachteten Verhalten führen. Das ist genau jene Ebene, welche die (Natur-)Wissenschaft als Untersuchungsgegenstand hat. Das resultierende Wissen gibt in Form von Mechanismen, Modellen und Erklärungen Auskunft über die materielle Basis, Quantitäten, deren Relationen und das Funktionieren des untersuchten Phänomens. Dieses Wissen ist das Resultat eines hypothesengeleiteten Theorienkonstruktionsprozesses, in welchem ein offensives und „invasives“ Vorgehen (in Form der epistemologischen Projektion) dominant ist.

3.2 Von der Intelligibilität zum Wesenskern und seinem Ursprung

Einen Schritt weiter im Abtragen der Schichten der Realität geht die philosophische Herangehensweise19 an ein Phänomen: Wie bereits weiter oben festgestellt, überschreiten wir hier eine Schwelle zur Qualität; i. e., wir verlassen den Bereich des Materiellen und treten in die Domäne des Nicht-Materiellen/Geistigen ein. In dieser Schicht haben wir es mit der Bedeutung und Intelligibilität des untersuchten Gegenstandes zu tun. Die Frage nach dem „Was“ (i. e. causa formalis, „das, was es ist“) steht in diesem Bereich im Vordergrund. Dies ist eine Qualität, welche die untersuchte Realität nur implizit in sich trägt und welche erst durch unsere kognitiven Operationen des Fragens und der intellektuellen Penetration herausgeschält resp. konstruiert werden muss. Diese Dimension ist nicht-materiell und qualitativ; sie betrifft sozusagen die „Tischheit“ eines Tisches. Dies ist die klassische Herangehensweise der meisten Geisteswissenschaften und im Speziellen der Philosophie.

Gehe wir einen Schritt weiter, so enthüllt uns die Realität ihr Innerstes: Weiteres Fragen und die Anwendung philosophischer und analytischer Methoden lässt uns zum „Wesenskern“ des untersuchten Gegenstandes vordringen. Mit anderen Worten, in diesem Schritt geht es um die Entdeckung der Existenz, des Seins der Realität. In der Terminologie der klassischen Metaphysik20 handelt es sich um die Entdeckung der Substanz. Die Eigenschaften und die Qualitäten des konkreten Seins und des Seins im Allgemeinen21 stehen in dieser Domäne im Vordergrund des Interesses. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass diese Schicht der Realität nicht nur die am schwierigsten zu Erschließende ist, sondern dass sie auch das Fundament für alle anderen Schichten darstellt. I. e., will man ein tiefes Verstehen des untersuchten Gegenstandes erlangen, wird man nicht umhinkommen, sich die Mühe zu machen, in diese Schicht der Realität einzudringen. Erst die Kenntnis dieser Dimension ermöglicht uns ein profundes Verstehen und eine umfassende Sicht auf das, was wir z. B. in einem naturwissenschaftlichen Modell oder Experiment zu erklären oder vorherzusagen versuchen.

Der letzte Schritt (im Eindringen in die Realität) ist eine Konsequenz aus der Entdeckung des Seins des untersuchten Gegenstandes: Er ergibt sich fast zwingend aus dem konsequenten Weiterfragen, nämlich nach der Ursache, der Herkunft oder nach dem (ultimativen) „Woraufhin“ des Seins (des konkreten Gegenstandes und des Seins im Allgemeinen). Dies führt uns in den Bereich der natürlichen Theologie, in dem wir noch nicht in der Domäne des Glaubens angelangt sind, sondern in gewisser Weise an der Spitze unseres Denkens. Auch hier enthüllt uns die Realität eine neue Dimension: Einfach durch ihr Sein verweist sie uns auf die Frage, woher sie kommt, was ihre „erste Ursache“ ist etc. Einerseits geht es hier um das „Innerste“ des untersuchten Gegenstandes und zugleich verweist uns dieses Innerste auf das Äußerste – auf die erste Ursache, auf das, was religiöse Traditionen mit Gott bezeichnen. Diese Einsicht hat interessante Implikationen: Wenn man konsequent weiterdenkt, so zwingt es uns, das bereits Erkannte in einem neuen Licht zu sehen – im Licht der Weisheit. Das bedeutet nicht, dass all das bisherige (vor allem naturwissenschaftliche und philosophische) Wissen obsolet wird. Vielmehr erhält es den Platz und Stellenwert, welcher ihm aus einer ganzheitlichen Perspektive zukommt. Und hier ist der Begriff des „Ganzheitlichen“ beileibe nicht im esoterischen Sinn verwendet; genau das Gegenteil ist der Fall: Wir versuchen mit unserem Denken und Fragen bis an die Spitze und an die Grenzen zu gehen und untersuchen mit höchster intellektueller Akkuratesse die Implikationen, die sich daraus ergeben.

3.3 Conclusio

„Es gehört zum Wesen der Wissenschaften, dass sie die Wirklichkeit unter einem bestimmten ,Aspekt’ betrachten; das aber heißt, dass sie mit einer formulierten Frage an sie herantreten. Wer so fragt, will etwas Bestimmtes wissen; die experimentierende Wissenschaft hat sich… so verstanden, dass sie die Natur wie durch Folterung zur Antwort zwinge.“22

Die in Abb. 1 dargestellten Schichten schließen einander nicht aus – vielmehr bauen sie aufeinander auf. Erst eine Kenntnis und das Anerkennen dieser Schichten ermöglicht ein profundes Verstehen eines Phänomens. Auf die Frage der Evolution angewendet bedeuten diese wissens- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen keinesfalls die Verurteilung dieses theoretischen Ansatzes. Vielmehr geht es darum, die in der Evolutionstheorie gestellten Fragen in einen größeren Kontext zu stellen – nicht mit dem Ziel, die Evolutionstheorie zu falsifizieren, sondern ihre Stärken in der ihr zustehenden Extension in den Domänen der Realität und des Wissens ins Licht zu rücken; zugleich jedoch auch ihr die ihr zustehende Verortung in einer größeren Perspektive, welche über das rein positivistische Weltbild hinausgeht, zuzuweisen. Auch hier geht es nicht um eine Abwertung, sondern um die Frage, was kann und – vor allem – will ich mit meinem Denken an und in der Realität erkennen und was lasse ich – aus welchen Gründen auch immer – außen vor.

Eine profunde und umfassende Kenntnis des untersuchten Phänomens ist in jedem Fall eine conditio sine qua non, um über solche ultimative Fragen, wie nach dem Ursprung des Lebens, der Gattungen, oder etwa des Klonens etc. überhaupt nachdenken zu können. Alles andere wird der Komplexität der Realität und vor allem des Menschen und seines Seins und Denkens/Geistes in keiner Weise gerecht. Dilettantismus und unmenschliche Entscheidungen sind meist die Konsequenz einer Vorgehensweise, die sich wissentlich diesen Dimensionen und Überlegungen verschließt.

Referenzen

  1. Pieper J., Was heißt akademisch?, Kösel Verlag, München (1964), 2. Auflage, S. 91 f
  2. z. B. Bechtel W., Graham G. (Eds.), A companion to cognitive science, Blackwell Publishers, Oxford (1998); Churchland P. M., The engine of reason, the seat of the soul. A philosophical journey into the brain, MIT Press, Cambridge, MA (1995); Clark A., Mindware. An introduction to the philosophy of cognitive science, Oxford University Press, New York (2001 Friedenberg J. Silverman G., Cognitive science. An introduction to the study of the mind, Sage Publications, Thousand Oaks, CA (2006); Harre R., Cognitive science. A philosophical introduction, SAGE Publications, London (2002); Kornblith H. (Ed.), Naturalizing epistemology, MIT Press, Cambridge, MA (1993), 2nd ed.; Thagard P., Mind. Introduction to cognitive science, MIT Press, Cambridge, MA (1996) u. v. a.
  3. z. B. Chalmers A. F., What is this thing called science?, University of Queensland Press, St. Lucia, Queensland (1982), 2nd ed.; Kriz J., Lück H. E., Heidbrink H., Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: eine Einführung für Psychologen und Humanwissenschaftler, Laske + Budrich, Opladen (1990), 2nd ed.; Mittelstraß J. (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bibliographisches Institut, Mannheim (1996); Popper K. R., Conjectures and refutations; the growth of scientific knowledge, Basic Books New York (1962); Seiffert H., Einführung in die Wissenschaftstheorie, Beck Verlag, München (1983) u. v. a.
  4. siehe auch Peschl M. F., Structures and diversity in everyday knowledge. From reality to cognition and back, in: Gadner J., Buber R., Richards L. (Eds.), Organising Knowledge. Methods and case studies, Palgrave Macmillan, Hampshire (2003), S. 3-27
  5. vgl. z. B. Peschl M. F., Repräsentation und Konstruktion. Kognitions- und neuroinformatische Konzepte als Grundlage einer naturalisierten Epistemologie und Wissenschaftstheorie, Vieweg Verlag, Braunschweig, Wiesbaden (1994); Peschl M. F., Constructivism, cognition, and science. An Investigation of its links and possible shortcomings, Foundations of Science (2001); 6(1): 125-161
  6. z. B. Nonaka I.,Takeuchi  H., The knowledge creating company. How Japanese companies manage the dynamics of innovation, Oxford University Press, Oxford (1995); Peschl M. F., Structures and diversity in everyday knowledge. From reality to cognition and back, in: Gadner J., Buber R., Richards L. (Eds.), Organising Knowledge. Methods and case studies, Palgrave Macmillan, Hampshire (2003), S. 3-27
    Der Begriff der Information ist so umfassend und vielfältig wie jener des Wissens. Abgesehen von den „technischen Informationsbegriffen“ (z. B. Bischof N., Struktur und Bedeutung. Eine Einführung in die Systemtheorie für Psychologen, Hans Huber Verlag, Bern (1998), 2. Auflage; Shannon C. E., The mathematical theory of communication, University of Urbana Press, Urbana (1949) u. v. a.) stehen in dieser Arbeit die epistemologischen Aspekte im Vordergrund (vgl. Peschl M. F., Structures and diversity in everyday knowledge. From reality to cognition and back, in: Gadner J., Buber R., Richards L. (Eds.), Organising Knowledge. Methods and case studies, Palgrave Macmillan, Hampshire (2003), S. 3-27; Stenmark D., Information vs. knowledge. The role of intranets for knowledge management, Proceedings of the 35th Hawaii International Conference on System Sciences (2002); (HICSS-35) u. v. a.).
  7. vgl. Peschl M. F., Modes of knowing and modes of coming to know. Knowledge creation and knowledge co-construction as socio-epistemological engineering in educational processes, Constructivist Foundations (2006); 1(3): 111-123
  8. z. B. Baumgartner P., Didaktik, eLearning-Strategien, Softwarewerkzeuge und Standards – Wie passt das zusammen?, in: Franzen M. (Ed.), Mensch und E-Learning. Beiträge zur E-Didaktik und darüber hinaus, Aarau, Sauerländer (2003), S. 9-25
  9. vgl. Foerster H. v., Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Watzlawick P. (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, Piper Verlag, München (1981), S. 39-60; Foerster H. v. (Hrsg.), Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1993); Glasersfeld E. v., Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: P. Watzlawick (Ed.), Die erfundene Wirklichkeit, Piper Verlag, München (1981), S. 16-38; Glasersfeld E. v., Radical constructivism: a way of knowing and learning, Falmer Press, London (1995); Glasersfeld E. v., Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffes der Objektivität, in: Foerster H. v., Glasersfeld E. v., Hejl P. M., Schmidt S. J. et al. (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, Piper Verlag, München (2000), 5. Auflage, S. 9-39; Rusch G., Schmidt S. J. (Hrsg.), Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. Delfin 1992, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1992); Schmidt S. J. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1987) u. v. a.
  10. vgl. Senge P., Scharmer C. O., Jaworski J., Flowers B. S., Presence. Human purpose and the field of the future, Society for Organizational Learning, Cambridge, MA (2004)
  11. vgl. Peschl M. F., Modes of knowing and modes of coming to know. Knowledge creation and knowledge co-construction as socio-epistemological engineering in educational processes, Constructivist Foundations (2006); 1(3): 111-123
  12. vgl. Philippe M. D., Le probleme de la personne, sommet de la philosophie premiere, Aletheia (1993); 1993(3), 9-39
  13. vgl. z. B. Aristoteles, Metaphysik, Felix Meiner Verlag, Hamburg (1989), 3. Auflage; Martens E., Vom Staunen oder die Rückkehr der Neugier, Reclam Verlag, Leipzig (2003); Pieper J., Was heißt Philosophieren?, Johannes Verlag, Einsiedeln, Freiburg (2003), new ed.
  14. vgl. Pieper J., Was heißt Philosophieren?, Johannes Verlag, Einsiedeln, Freiburg (2003), new ed.
  15. Aristoteles, Metaphysik, Felix Meiner Verlag, Hamburg (1989), 3. Auflage
  16. Das bedeutet nicht, dass die Theorie des Urknalls irrelevant wäre! Vielmehr bedeutet es, dass nach resp. vor diesen Modellen die eigentlich interessanten Fragen erst beginnen…
  17. Für eine detaillierte Auseinandersetzung siehe z. B. Peschl M. F., Structures and diversity in everyday knowledge. From reality to cognition and back, in: Gadner J., Buber R., Richards L. (Eds.), Organising Knowledge. Methods and case studies, Palgrave Macmillan, Hampshire (2003), S. 3-27; implizites vs. explizites Wissen (Polanyi M., Implizites Wissen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1985); Stenmark D., Information vs. knowledge. The role of intranets for knowledge management, Proceedings of the 35th Hawaii International Conference on System Sciences (2002); (HICSS-35) u. v. a.), deklaratives vs. prozedurales Wissen (Haugeland J., Artificial intelligence: the very idea, MIT Press, Cambridge, MA (1985)), bildliches vs. propositionales Wissen (Kosslyn S. M., Mental imagery, in: Osherson D. N., Lasnik H. (Eds.), An Invitation to cognitive science, MIT Press, Cambridge, MA (1990), S. 73-97; Kosslyn S. M., Image and brain. The resolution of the imagery debate, MIT Press, Cambridge, MA (1994)), symbolisches vs. subsymbolisches Wissen (z. B. Smolensky P., On the proper treatment of connectionism, Behav Brain Sci (1988); 11: 1-74; Newell A., Simon H. A., Computer science as empirical inquiry: symbols and search, Communications of the Assoc. for Computing Machinery (ACM) (1976); 19(3): 113-126 u. v. a.) etc.
  18. z. B. Goldstein E. B., Sensation and perception, Wadsworth Publishing Company, Pacific Grove, CA (2002), 6th ed.; Kandel E. R., Schwartz J. H., Jessel T. M. (Eds.), Principles of neural science, McGraw-Hill, New York (2000), 4th ed.
  19. vgl. Pieper J., Was heißt akademisch?, Kösel Verlag, München (1964), 2. Auflage; Pieper J., Was heißt Philosophieren?, Johannes Verlag, Einsiedeln, Freiburg (2003), new ed.; Hösle V., Philosophie und Öffentlichkeit, Königshausen und Neumann, Würzburg (2003); Pöltner G., Evolutionäre Vernunft, Kohlhammer, Stuttgart (1993) u. v. a.
  20. z. B. Aristoteles, Metaphysik, Felix Meiner Verlag, Hamburg (1989), 3. Auflage
  21. vgl. z. B. Stein E., Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien (1986)
  22. Pieper J., Was heißt akademisch?, Kösel Verlag, München (1964), 2. Auflage, S. 69

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