Der ärztliche Heilauftrag im Wandel: Vom Paternalismus zur partnerschaftlichen Sorgepflicht

Imago Hominis (2011); 18(2): 103-112
Axel W. Bauer

Zusammenfassung

Die Rolle des Arztes war stets zeitgebundenen Normen sowie den sozialen Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung unterworfen. Die im Corpus Hippocraticum beschriebenen Ärzte besaßen fachliche Expertise, mussten sich jedoch Vertrauen und Wohlwollen ihrer Patienten erwerben und erhalten. Dies führte zwar zu einer paternalistischen, nicht aber zu einer autoritären Verhaltensweise. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts mussten die Abhängigkeit von zahlungskräftigen Patienten und die Rücksichtnahme auf ärztliche Kollegialität berücksichtigt werden. Die naturwissenschaftliche Orientierung nach 1850 sowie autoritäre politische Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten ebenfalls auf das Rollenverständnis des Arztes ein. Am Beginn des 21. Jahrhunderts droht die Gefahr einer Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung und deren Reduktion auf Schlagworte wie „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“.

Schlüsselwörter: Hippokratischer Eid, Paternalismus, Partnerschaft, Autonomie, Selbstbestimmung

Abstract

The role of the correctly acting physician has always been a subject of varying normative standards and of the contemporary medical practice’s social basic conditions. Although the physicians described in the Hippocratic Corpus were technical experts they had to achieve the confidence and sympathy of their patients. This strategic necessity led them to a paternalistic but not to an authoritarian behavior. Even at the beginning of the 19th century external basic conditions such as the dependence on wealthy patients or considerations of professional collegiality had to be taken into account. Scientific medicine since 1850 or right-wing authoritarian political ideologies in the first half of the 20th century likewise affected the physician’s role. At the beginning of the 21st century we are confronted with the danger of juridificating the physician-patient relationship and reducing it to seductive terms like „autonomy “or „self-determination“.

Keywords: Hippocratic Oath, Paternalism, Partnership, Autonomy, Self-Determination


1. Die Arztrolle als ein Ergebnis historischer Normierungsprozesse

Die Frage nach den erforderlichen Eigenschaften eines korrekt handelnden Arztes ist von zeitloser Aktualität. Wer ist ein guter Arzt, eine gute Ärztin? Welche Eigenschaften zeichnen ihn beziehungsweise sie aus? Welche Wandlungen haben sich durch den prägenden Einfluss der (Bio-) wissenschaften in der Medizin des 20. und 21. Jahrhunderts sowie durch das veränderte (Selbst-) verständnis der Patienten als zunehmend gleichberechtigte Partner („Shared Decision Making“) ergeben? Welche Rolle spielen hierbei die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen?1

Der Heilauftrag des Arztes und seine adäquate Erfüllung kann medizinhistorisch als ein durch die Jahrhunderte im Spiegelbild jeweils zeitbedingter Normen diskutiertes Thema dargestellt werden. Dabei erscheint der vorbildliche Arzt in vielen historischen Quellentexten weniger als ein realistisches Abbild der jeweiligen Gegenwart, sondern eher als eine dispositive, idealtypische Projektionsfigur, die ihren Reiz erst aus dem Kontrast mit der weit weniger ein­drucksvollen zeitgenössischen Wirklichkeit gewinnt.

2. Der Arzt und sein Selbstverständnis im Corpus Hippocraticum

Eine frühe Beschreibung des Arztes und seiner Rolle findet sich im so genannten Hippokratischen Eid, der gegen Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus möglicherweise im Umfeld des Hippokrates von Kos (460-377 v. Chr.) und seiner Schule entstanden sein dürfte:

„Ich schwöre bei Apollon dem Arzt und bei Asklepios, Hygieia und Panakeia sowie unter Anrufung aller Götter und Göttinnen als Zeugen, dass ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil diesen Eid und diesen Vertrag erfüllen werde: Denjenigen, der mich diese Kunst gelehrt hat, werde ich meinen Eltern gleich stellen und das Leben mit ihm teilen; falls es nötig ist, werde ich ihn mit versorgen. Seine männlichen Nachkommen werde ich wie meine Brüder achten und sie ohne Honorar und ohne Vertrag diese Kunst lehren, wenn sie sie erlernen wollen. Mit Unterricht, Vorlesungen und allen übrigen Aspekten der Ausbildung werde ich meine eigenen Söhne, die Söhne meines Lehrers und diejenigen Schüler versorgen, die nach ärztlichem Brauch den Vertrag unterschrieben und den Eid abgelegt haben, aber sonst niemanden.

Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen. Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen. Lauter und gewissenhaft werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Auf keinen Fall werde ich Blasensteinkranke operieren, sondern ich werde hier den Handwerkschirurgen Platz machen, die darin erfahren sind. In wie viele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder anderen Sittenlosigkeit fern halten, auch von sexuellen Handlungen mit Frauen und Männern, sowohl Freien als auch Sklaven. Über alles, was ich während oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre und das man nicht nach draußen tragen darf, werde ich schweigen und es geheim halten.

Wenn ich diesen meinen Eid erfülle und ihn nicht antaste, so möge ich mein Leben und meine Kunst genießen, gerühmt bei allen Menschen für alle Zeiten; wenn ich ihn aber übertrete und meineidig werde, dann soll das Gegenteil davon geschehen“.2

Dieser Eid war ein zeitgebundenes medizinhistorisches Dokument, das normierende, rational und pragmatisch motivierte Leitlinien für die Medizinerausbildung, das Arzt-Patient-Verhältnis, den ärztlichen Beruf und dessen Handlungsstrategie anbot. Solche Leitlinien benötigte der Arzt, um medizinisch erfolgreich wirken und ökonomisch überleben zu können. Die Tatsache, dass die technischen Möglichkeiten der Medizin sehr begrenzt waren, hatte wesentliche Konsequenzen für das ärztliche Denken und Handeln: Die Hippokratiker betrieben keine diagnostische Medizin, sondern eine prognostisch orientierte Heilkunde, die vor allem auf der korrekten Deutung körperlicher Zeichen basierte.3 Eigene Beobachtung und langjährige Erfahrung waren hierzu notwendig. Wer Arzt werden wollte, ging zunächst bei einem anerkannten Meister in die Lehre. Daher enthielt der Hippokratische Eid nach der Anrufung der (Heil-)Götter zunächst einen Vertrag, der die Rechtsbeziehung zwischen Lehrer und Schüler regelte. Sowohl das Honorar und die Altersversorgung des Lehrers als auch eine Art Numerus clausus für den Arztberuf wurden in diesem Vertrag vorgesehen. Daraus lässt sich ableiten, dass der Eid – wenn überhaupt – vor Beginn der Ausbildung abgelegt wurde und nicht erst nach deren Abschluss.

Die Vorschriften, die sich auf das Arzt-Patient-Verhältnis und die optimale Berufsstrategie bezogen, wurden im zweiten Teil des Textes behandelt. Für den Hippokratischen Arzt kam es nicht nur aus moralischen Gründen darauf an, jeglichen Schaden von seinen Patienten abzuwenden; es ging dabei auch um seine eigene berufliche Existenz. Angesichts der beschränkten therapeutischen Möglichkeiten konnte es in vielen Fällen sehr viel klüger sein, nichts zu tun und damit zusätzlichen Schaden zu vermeiden, als durch eine falsche Behandlung die Krankheit womöglich zu verschlimmern. Für das Ansehen des Arztes, der sich als Fachmann zur Erhaltung des gefährdeten Lebens verstand, wäre die Beihilfe zur Selbsttötung oder gar zur Tötung eines Menschen äußerst abträglich gewesen. Sie wurde deshalb im Eid ebenso abgelehnt wie die aktive Ausführung einer Abtreibung. Die Ablehnung der gefährlichen Blasensteinoperation mit dem Verweis auf die hierfür zuständigen Spezialisten war in ähnlicher Weise ein Teil der Hippokratischen Strategie der Risikominimierung.

Kaum etwas ist in seiner Entstehungszeit ganz selbstverständlich, das erst in einem Eid versprochen werden muss. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die restriktiven Vorschriften über den Hausbesuch und dessen vom Hippokratischen Arzt geforderte Rahmenbedingungen anwenden; dazu zählte ebenso die Einhaltung der Schweigepflicht zum Schutz der Patienten und ihrer Familie. Nicht zuletzt das Ansehen des Arztes konnte unter einer im Dienst begangenen sexuellen Verfehlung oder unter seiner mangelnden Verschwiegenheit leiden.

Der letzte Passus des Eides benannte schließlich die Sanktionen, die dem Arzt drohten, wenn er die zuvor gegebenen Versprechungen nicht einhielt. Dabei wurden die beiden Triebkräfte besonders heraus gestellt, die ihn wohl am ehesten zu motivieren vermochten, nämlich der materielle Erfolg im Leben und im Beruf sowie der dauerhafte Nachruhm bei allen Menschen für alle Zeiten. Wenn der Arzt seinen Eid brach, dann würde er freilich erfolglos bleiben und der Vergessenheit anheim fallen.

Das rationale Kalkül des Hippokratischen Eides beruhte auf der Tatsache, dass in seinen Vorschriften ärztlicher Eigennutz und ärztliches Ethos kompatibel zusammen trafen. Die Funktionalität der Hippokratischen Leitlinien resultierte gerade nicht aus einer idealistischen Überhöhung des Arztes, sondern aus der nüchternen, realistischen Einschätzung und Abwägung der tatsächlichen Interessenlage von Arzt und Patient. Bei allem Paternalismus, der sich aus der fachlichen Expertise des Arztes ergab, musste dieser dennoch dem Patienten als vorsichtiger und bescheidener (Geschäfts-) partner gegenüber treten, wenn er seinen materiellen Erfolg nicht aufs Spiel setzen wollte.

2.1. Der Arzt

Das folgende Anforderungsprofil findet sich in der wohl gegen Ende des 4. oder zu Beginn des 3. Jahrhunderts vor Christus entstandenen Schrift Der Arzt, die ebenfalls im Corpus Hippocraticum enthalten ist. Hier heißt es:

„Das Auftreten des Arztes denke ich mir so: dem Aussehen nach wird er gut von Farbe und wohl genährt sein, soweit es seine Natur zulässt. Denn bei der Masse stehen die Ärzte, die nicht in diesem Sinne in gutem körperlichen Zustand sind, in dem Ansehen, dass sie auch für andere nicht gut sorgen können. Ferner soll seine Aufmachung reinlich sein; er trage anständige Kleidung und brauche gute und unaufdringliche Salben. Denn alles dieses empfinden die Kranken angenehm, und darauf muss man achten. Sein Charakter sei besonnen, was sich nicht nur in seiner Verschwiegenheit, sondern auch in seiner durchaus geordneten Lebensführung zeigen soll; denn das ist besonders vorteilhaft für ein gutes Ansehen. Er verhalte sich wie ein Ehrenmann. […] Seine Miene sei nachdenklich ohne Strenge; denn ein allzu selbstbewusster Mensch erweckt den Eindruck, menschenfeindlich zu sein. Wer aber immer gleich zum Lachen geneigt und allzu vergnügt ist, wird für einen unfeinen Menschen gehalten; davor muss man sich nicht zum wenigsten hüten. In jedem Umgang mit Menschen zeige er sich als ein rechtlicher Mann, denn in vielen Fällen muss ihm Rechtlichkeit zur Seite stehen.“4

Der Autor dieses Textes ist nicht namentlich bekannt. Ihm ging es um die gesellschaftliche Anpassung des Arztes. Seine Schrift ordnete sich damit, so formulierte es einmal Hans Diller, in die Reihe mehr oder weniger absichtsvoller Reflexionen angemessenen Verhaltens ein, wie sie in den Einleitungen der Dialoge Platons (427 – 347 v. Chr.), der Ethik des Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), den Charakteren Theophrasts (372 – 287 v. Chr.) oder der Neuen Komödie Athens zum Ausdruck kamen. Vom Ideal des guten Atheners aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts war dieses Bild des guten Arztes nicht sehr fern. Es zeichnete sich dadurch aus, dass es an keinen außermenschlichen Maßstäben oder abstrakten Idealen gemessen wurde, sondern lediglich an jenen Forderungen, die man vernünftiger Weise an ein erträgliches Zusammenleben der Menschen stellen konnte. Daraus ergab sich allerdings auch die Notwendigkeit, dass der Arzt die Wirkung berücksichtigte, die er auf seine Patienten ausübte. Deshalb sprach der Hippokratische Autor immer wieder über den Eindruck, den der Arzt auf seine Umwelt machen könnte und machen sollte.5

Der Autor war sich durchaus darüber im Klaren, dass sein idealisiertes Arztbild von der Wirklichkeit abwich, was bereits in seinem Eingangssatz zum Ausdruck kam: „Das Auftreten des Arztes denke ich mir so“. Ob seiner normativen Beschreibung eine hinreichende empirische Basis zu Grunde lag, wird aus seinen Worten nicht deutlich.

2.2. Das Gesetz

Etwas direkter kommt der Autor der ungefähr zur gleichen Zeit verfassten Schrift Das Gesetz zur Sache, wenn er die Medizin gegen die Ärzte zu verteidigen scheint: „Die Heilkunst ist die vornehmste aller Künste; aber wegen der Unwissenheit derer, die sie ausüben, und derer, die leichtfertig über solche Ärzte urteilen, bleibt sie nun weit hinter allen Künsten zurück. […] Über die Heilkunst als einzige unter den Künsten ist in den Staaten keine andere Strafe verhängt als der schlechte Ruf; dieser aber verletzt die Leute nicht, die ohnedies aus Ehrlosigkeit bestehen. Denn sie sind ähnlich den Statisten in den Tragödien; wie diese zwar Gestalt, Kostüm und Maske von Schauspielern haben, aber keine Schauspieler sind, so gibt es auch dem Namen nach zwar viele Ärzte, in Wirklichkeit aber nur ganz wenige“.6

Der Verfasser beschrieb im Folgenden die notwendigen Voraussetzungen für einen guten Arzt: Naturanlage, Unterweisung, eine förderliche Umgebung, gute Erziehung, Fleiß und Zeit. Wie das Wachsen einer Pflanze in der Erde, so müsse man auch das Erlernen der Heilkunst betrachten. Die Naturanlage sei wie das Land, die Lehrsätze der Lehrer seien wie die Samenkörner. Die Erziehung gleiche der rechtzeitigen Aussaat in den Acker, die Umgebung, in der man lernt, sei wie die Nahrung, die den Pflanzen aus der umgebenden Luft zuteil wird. Der Fleiß entspreche der Bearbeitung des Landes, und die Zeit gebe allem die Kraft, dass es zur Vollendung heran wächst.7

Diese Gedanken über das Zusammenwirken von Begabung, Lehre und Übung wurden zuerst in pädagogischen Schriften der Sophisten erörtert. Dass auch Umgebung und Zeit als entscheidende Faktoren hinzu traten, war indessen eine Innovation des Hippokratischen Autors. Gleichwohl blieb der Text im Ganzen so unspezifisch, dass er letztlich nicht nur die Ausbildung zum Arzt betreffen, sondern auch jedes andere Fachgebiet (Téchne) mit einschließen konnte. Typisch für die Medizin war lediglich die Bemerkung, dass ein schlechter Arzt nur – aber immerhin – unter seinem schlechten Ruf zu leiden habe. Im Fall eines gravierenden Fehlers drohte dem Arzt der Verlust seines Ansehens und seiner Stellung. Der schlechte Ruf diskreditierte ihn unter Umständen so sehr, dass er seinen Beruf überhaupt nicht mehr ausüben konnte. Eine selbstgefällige oder allzu bevormundende Haltung gegenüber seinen Patienten konnte sich der Arzt also keinesfalls ohne Schaden für seine berufliche Existenz erlauben.

2.3. Das ehrbare (ärztliche) Verhalten

Im 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus entstand die jüngste Schrift, die formal noch dem Corpus Hippocraticum zugerechnet wird; sie trägt den Titel Das ehrbare (ärztliche) Verhalten. Es handelt sich dabei um ein standesethisches Traktat, das vor allem durch eine höchst anmaßende Formulierung im 5. Kapitel bekannt geworden ist, nämlich den Satz: „Ein Arzt, der zugleich Philosoph ist, kommt einem Gott gleich“.8 Das kleine Werk stellt den Arzt in einen polemischen Kontrast zum Scharlatan, der nur eigennützig und betrügerisch handelt. Die wahren Repräsentanten der Kunst erkenne man schon an ihrem Auftreten: Sie seien an der Wohlanständigkeit wie an der Schlichtheit ihrer Kleidung zu erkennen, die nicht dazu gemacht sei, Aufsehen zu erregen, sondern vielmehr Ansehen zu verleihen und zum Ausdruck des gedankenvollen Wesens, der inneren Sammlung und des Auftretens.

Im Gegensatz zu dem Autor der Schrift Das Gesetz glaubte der Verfasser an den überwiegenden Einfluss der Begabung: „In der Wissenschaft wie in der Kunst ist nämlich die Ausübung nicht lehrbar. Bevor ein Unterricht erteilt wird, neigt die Anlage schon dazu, die Leitung zu übernehmen“.9 Recht skeptisch beurteilte er auch die tatsächlichen Fähigkeiten der Ärzte, Kranke gesund machen zu können. Nach Meinung des Autors hätten die Mediziner eher das Glück, dass viele Leiden von selbst wieder heilten. Soweit die ärztliche Kunst einen Vorteil habe, so stamme er aus eben dieser Quelle der Spontanheilung. Leider seien die Ärzte aber davon überzeugt, dass man nur dann von einem Heilerfolg sprechen könne, wenn man chirurgische oder diätetische Mittel angewendet habe.10

Da der Autor der Heilkunst selbst relativ wenig zutraute, kam es ihm umso mehr auf den Charakter sowie auf das formal korrekte Auftreten des Arztes an: „Der Arzt muss eine gewisse Umgänglichkeit an sich haben, denn ein mürrisches Wesen ist unzugänglich sowohl für Gesunde wie Kranke. Er muss so gut wie möglich auf sich selbst achten, er darf weder viel von sich selbst zu erkennen geben, noch viel sich mit Laien unterhalten, außer über das Notwendigste. Man hält dies für eine unbedingte Voraussetzung zur Förderung der Kur. Er tue ja nichts Überflüssiges, ebenso nichts Auffälliges“.11

Weit entfernt vom heutigen Ideal des partnerschaftlichen Arztes, der seinen Patienten vor allem rückhaltlose Aufklärung schuldet, damit deren Einwilligung in die Behandlung rechtlich wirksam wird, war die Auffassung des spätantiken Verfassers zur Prognose: „Von dem, was eintreten wird und den Kranken droht, lasse man nichts merken. Denn schon viele sind dadurch – ich meine durch vorerwähnte Voraussage der drohenden Zukunft und des folgenden Geschicks – zum Äußersten getrieben worden“.12 Im Konfliktfall zwischen dem Wohltätigkeitsprinzip und dem Prinzip des Respekts für die Autonomie des Patienten entschied sich der Arzt der Römischen Kaiserzeit gegen das heute für zentral gehaltene Recht des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung.

3. Der vorbildliche Arzt im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Die Vergütung der Ärzte nach Einzelleistungen erregt nicht erst heute die Gemüter, sie wurde bereits im 18. Jahrhundert zur Zeit der Aufklärung scharf kritisiert. Der Arzt und Schriftsteller Johann August Unzer (1727 – 1799) veröffentlichte 1769 in seinem Periodikum Der Arzt fiktive Leserbriefe, die sich dem Thema der Honorierung ärztlicher Leistungen widmeten. Unzer wollte die Ärzte dadurch mit der Denkweise ihrer Mitbürger und Patienten bekannt machen. So habe ein gewisser Poltrian Nährlich geschrieben:

„Sie und alle Welt sollen über die Unverschämtheit meines Arztes richten. Ich hatte ein wenig Blutspeyen, das in zwey Tagen kaum ein Eimerchen Blut betrug, welches ich aushustete. Darüber kam er ein Paarmal in der Nacht zugelaufen, weil es mir zu arg wurde, daß ich ihn rufen ließ. Für einen solchen Weg, der doch nur ein Katzensprung ist, setzt er mir einen Reichsthaler an, und läßt sich doch auch seine andern Besuche wie gewöhnlich bezahlen. Ey, wahrhaftig, dies Brodt ist leicht verdient! […] Soll ich mich zum armen Manne doctern; so will ich lieber crepiren.“13 Solche Äußerungen lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass die zahllosen Rollen normierenden Traktate der in stilistisch perfektem Neulatein schreibenden frühneuzeitlichen Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts viel dazu beigetragen hätten, das Ansehen des ärztlichen Standes bei den Patienten – ihren Kunden – zu heben.

Der in Mannheim lebende Protagonist der medizinischen Volksaufklärung am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts, Franz Anton Mai (1742 – 1814), bot in seinem ebenfalls in ironischem Tonfall gehaltenen Werk Stolpertus, ein junger Arzt am Krankenbette, das im Jahre 1800 in zweiter Auflage erschien, eine psychologische Erklärung für die Undankbarkeit der Patienten und deren Kritik am ärztlichen Honorar an: So wie die Zeit die Empfindungen der Freude, der Liebe und der übrigen Leidenschaften stumpf und gefühllos mache, vernichte sie auch das Gefühl der Dankbarkeit. „Kaum ist die Gefahr bei dem Kranken vorüber, in welchem Zeitpunkte man dem Arzte Ehrensäulen der Danksagung aufrichtet, so macht man sich schon die Vorwürfe, daß man die Zahl der Visiten mit einer ökonomischen Kreide aufzuzeichnen vergessen hat. […] Es ist bei vielen Kranken nicht genug, den Doktor schlecht bezahlt zu haben, sie schänden, sie schmähen noch. […] Die Inwohner der Insel Cos waren aus Dankbarkeit entschlossen, lieber ihr Blut fließen zu lassen, als ihren Gesundheitsretter, den ehrlichen Hippocrat, der Wuth ihres feindlichen Nachbars, des Perser Königs Artaxerxes auszuliefern. Wo sind aber in unsern Zeiten Inwohner, die so denken, so fühlen, wie diese griechischen Insulaner?“, fragte Mai seine Leser rhetorisch.14 Doch das von ihm als Kontrast zur dunklen Gegenwart beschworene „Goldene Zeitalter“ der Medizin in der griechischen Antike beruhte seinerseits nur auf einer Legendenbildung, denn die Rettung des Hippokrates vor den Persern durch seine Mitbürger ist keineswegs ein historisch verbürgtes Faktum.

Am Ende seines Lebens als praktizierender Arzt und Berliner Hochschullehrer veröffentlichte Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) im Jahre 1836 das Enchiridion medicum oder Anleitung zur medizinischen Praxis, ein Vermächtnis seiner 50-jährigen Berufserfahrung. An den Schluss dieses Werkes stellte Hufeland einen ärztlichen Verhaltenskodex, in dem er die Beziehungen des Arztes zu den Kranken, zur Öffentlichkeit und zu den Kollegen ansprach. Hufelands Text begann mit traditionalistischem Pathos, er entwarf ein übersteigertes Arztideal, wie es wohl nur in der Fantasie eines staatlich besoldeten Professors gedeihen konnte: Leben für Andere, nicht für sich, das sei das Wesen des Arztberufs. Nicht allein Ruhe, Vorteile, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens, sondern Gesundheit und Leben selbst, Ehre und Ruhm müsse er dem höchsten Zweck, der Rettung des Lebens und der Gesundheit Anderer, aufopfern. Die Heilkunst sei demnach eine der erhabensten und göttlichsten, indem ihre Verpflichtungen mit den ersten und heiligsten Gesetzen der Religion und Menschenliebe genau zusammen flössen. Nur ein reiner moralischer Mensch könne Arzt im wahren Sinne des Wortes sein, und nur ein solcher Arzt könne Glück in seinem Beruf finden.15

Hufeland kannte die Abhängigkeit des Arztes von der öffentlichen Meinung. Um diese günstig zu beeinflussen, empfahl er dem Arzt die klassischen Tugenden Mäßigkeit, Bescheidenheit, Klugheit, Besonnenheit und Verschwiegenheit. Die letzte Eigenschaft wollte er allerdings auch besonders dann gewahrt wissen, wenn es darum ging, über die Kunstfehler von Kollegen zu richten. Hier war Hufelands Maxime nicht die transparente Analyse und Kontrolle von Unzulänglichkeiten, sondern deren kollegiale Vertuschung. Eine öffentliche Mängelrüge widerstreite den Grundsätzen von Moral und Religion, die es geböten, die Fehler anderer nicht aufzudecken, sondern zu übersehen und zu entschuldigen. Außerdem müsse derjenige, der kritisch über Kollegen urteile, damit rechnen, später einmal ebenso behandelt zu werden.16

4. Der Arzt als Naturwissenschaftler und Sozialreformer bei Rudolf Virchow

Ein Jahrzehnt nach Hufelands Tod breitete sich die naturwissenschaftliche Methode endgültig in der Medizin aus. Für diese Methode war der junge Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821 – 1902) erstmals im Dezember 1847 öffentlich eingetreten. Er beschrieb sie als die experimentelle Überprüfung einer durch Analogie und Induktion gefundenen Hypothese, die ein logisch notwendiges und vollkommen bewusstes Handeln zu einem klar definierten Zweck darstelle.17 Nur elf Monate später, während der fehlgeschlagenen bürgerlichen Revolution von 1848, die auch mit einer Reform des Gesundheitswesens verknüpft werden sollte, schrieb Virchow aber mit derselben Überzeugung: „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen“.18 Diese beiden Fixpunkte, nämlich die fachliche Orientierung der Medizin an den Naturwissenschaften und ihre Ausübung als eine Tätigkeit mit sozialer Verantwortung, kennzeichneten erst in ihrer gegenseitigen Verschränkung den reformerischen Impuls, der von Rudolf Virchow ausgehen sollte.

Wenn man seinen weit greifenden Gedanken von der Politik als Medizin im Großen umkehrte, dann konnte man die Medizin wohl auch als eine Politik im Kleinen interpretieren und daraus zugleich eine neuartige Rolle für den Arzt ableiten: Dieser sollte sich nicht mehr nur auf die Diagnostik und eine wissenschaftlich fundierte Therapie von Krankheiten beschränken, sondern zugleich eine sozialpolitische Aufgabe im Dienst der Patienten und des ganzen Staates übernehmen.

5. Arztideale zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gerieten vor allem in Deutschland auch die geistigen Eliten des ehemaligen Kaiserreichs in eine Sinnkrise, die sie zum Teil auf den inneren Zustand ihres jeweiligen Arbeitsgebietes projizierten. Besonders häufig reflektiert wurde zu Beginn der 1920er Jahre eine „Krise der Medizin“, die mit einer Überbetonung des technisch-naturwissenschaftlichen Denkens assoziiert wurde. Neben vielen Anderen beschäftigte sich auch der bekannte Heidelberger Internist Ludolf von Krehl (1861 – 1937) am Schluss seines Buches Pathologische Physiologie, das 1923 in der zwölften Auflage erschien, mit diesem Thema. Krehl umschrieb das Wesen der ärztlichen Tätigkeit zunächst negativ: Der Arzt sei weder Gelehrter, noch Künstler, noch Techniker, sondern eben Arzt. Sein Schaffen sei in den letzten Zielen ein völlig anderes, denn das Objekt seiner Tätigkeit sei der Mensch als Mensch.19 Krehl schrieb: „Die Biologie kann für das Verständnis der Lebensvorgänge mit der Annahme mechanisch-kausaler Zusammenhänge allein nicht auskommen. Sie bedarf weiterer Gedanken. […] Meine Überzeugung ist, daß wir eine einheitliche Auffassung von Mensch, Natur und Gott nur wiedergewinnen, wenn wir übermechanische Vorgänge, die hinter den Erscheinungen stecken und sie leiten, anfangen zu beobachten, zu untersuchen und in unseren Rechnungen zum Rechte kommen lassen. Mir erscheint das nicht als eine Abweichung der gegenwärtig herrschenden Naturbetrachtung, sondern als ihre notwendige Ergänzung und Umfassung“.20 Eine noch deutlichere Skepsis gegen eine Überbewertung der naturwissenschaftlichen Methode drückte Krehl im Vorwort zur 13. Auflage seines Werkes aus, die 1930 erschien. Hier fügte er an, die krankhaften Vorgänge am Menschen seien so außerordentlich verwickelt, dass man im höchsten Maße vorsichtig sein müsse, sie allein aus den einfachen und künstlichen, oft zu einfachen und zu künstlichen Verhältnissen des Tierversuchs abzuleiten: „Der Mensch vermag seine Krankheitsvorgänge zu gestalten durch seinen körperlichen und seelischen Einfluß auf eben diese Vorgänge. Und weil der Kranke nicht nur Objekt ist, sondern stets auch Subjekt, besteht zugleich von seiner Seite eine Reaktion auf den Beobachter. Wegen der genannten Vorgänge erfordert die Darlegung der am kranken Menschen ablaufenden Prozesse eigenartige Betrachtungsformen, die zu den in der unbelebten und belebten Natur notwendigen als etwas Neues hinzukommen. Das ist aber das Zeichen einer eigenen Wissenschaft“.21

Was Ludolf von Krehl hier einforderte, wurde wenige Jahre später unter der nationalsozialistischen Herrschaft in ein mystisch-irrationales Arztideal transformiert und dadurch pervertiert. Nun charakterisierten einerseits Führerschaft, Priestertum und ethisch-ständisches Denken, andererseits biologistisches Handeln den Arztberuf unter der – allerdings kurzlebigen – Ägide der „Neuen Deutschen Heilkunde“ zwischen 1933 und 1939. So beschrieb der Chirurg und medizinische Schriftsteller Erwin Liek (1878 – 1935) in seinem 1933 erschienenen Buch Die Welt des Arztes euphorisch den künftigen Arzt: „Aus zwei Wurzeln zieht der Arzt seine Kraft: aus der Welt der Erkenntnis, d. h. der Wissenschaft, und aus dem Reich des Irrationalen, des Übersinnlichen. Sind das nicht aber auch die tragenden Gedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung? Werden nicht diese Ideen in der Heilkunde unserer Tage Schritt für Schritt durchgesetzt? Aus der Hoffnung erwuchs die Zuversicht: Die Erneuerung der Heilkunde kommt aus dem Geist, nicht aus der Materie. Führer der neuen deutschen Heilkunst wird nicht der Mediziner sein, sondern der Arzt!“22

Wo Ludolf von Krehl eine methodische Ergänzung der naturwissenschaftlichen Perspektive gefordert hatte, wucherten nun Spekulation, Mystizismus und autoritärer Führerkult. Der Arzt mutierte zum unheimlichen Gegenspieler des Mediziners.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde erstmals während des Nürnberger Ärzteprozesses deutlich, in welchem Ausmaß sich deutsche Ärzte während des „Dritten Reiches“ an verbrecherischen Menschenexperimenten vor allem in den Konzentrationslagern beteiligt hatten. Im Urteilsspruch vom 20. August 1947 sind sieben Angeklagte zum Tode, fünf zu lebenslänglicher Haft und vier zu Zeitstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren verurteilt worden.23 Die internationale medizinhistorische Forschung hat darüber hinaus seit den 1980er Jahren in vielen Detailstudien belegt, dass es weit mehr medizinische NS-Täter insbesondere im Bereich der Sterilisationsoperationen und bei der Beteiligung an den staatlich inszenierten Euthanasie-Morden gab, als man sich dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingestehen wollte.

Richard Siebeck (1882 – 1965), der Nachfolger Ludolf von Krehls auf dem Heidelberger Lehrstuhl für Innere Medizin von 1931 bis 1934 sowie von 1941 bis 1952, hielt im November 1946 einen Vortrag zum Thema Der Arzt in der Not unserer Zeit. In diesem Vortrag machte Siebeck unter anderem seine Einstellung zu unheilbar Kranken deutlich: „Auch den Unheilbaren muß der Arzt in der Not seiner Krankheit seelisch führen, indem er ihn zur Bejahung des auch vom Tod nicht zerstörbaren Lebens hilft. Dazu muß er selbst Ehrfurcht vor dem verborgenen, scheinbar verlorenen Leben haben. Das um so mehr, als es die schwere Schuld der hinter uns liegenden Zeit ist, daß sie diese Ehrfurcht zerstörte und sich anmaßte, Leben, das lebensunwert schien, eigenmächtig beenden zu dürfen. Der Geist der Selbstüberhebung und Maßlosigkeit war der Ungeist der Gottlosigkeit. Durchgreifende Heilung gibt es nur da, wo ein Mensch sich wieder als ein von Gott angesprochenes und in seinem Gewissen gefordertes Ich erkennt.“24 Doch die Rückbesinnung auf das christliche Menschenbild sollte sich während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr als die einzige allgemein akzeptierte Leitidee einer zunehmend global agierenden Medizin erweisen.

6. Der „partnerschaftlich“ agierende Arzt der Gegenwart im Gewirr von Gelöbnissen, Deklarationen und Richtlinien

In Kenntnis der NS-Medizinverbrechen schwand während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass sich der Arzt in Zukunft noch an den traditionellen normativen Texten würde orientieren können, die zwar oftmals klug formuliert waren, die aber letzten Endes unverbindlich blieben. An ihre Stelle traten nun international verbindliche Dokumente wie das Genfer Ärztegelöbnis (1948) oder die Deklaration von Helsinki (1964), die seither etliche Male überarbeitet und den aktuellen Bedürfnissen angepasst wurden. In den vergangenen Jahren kamen weitere internationale Abkommen zur Medizin- und Bioethik hinzu, so vor allem das Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (1996) des Europarates und die EU-Biopatentrichtlinie (1998). Auf nationaler Ebene sind neben einschlägigen Gesetzen des Medizinrechts seit den 1990er Jahren zahlreiche Richtlinien, Grundsätze und Empfehlungen der Bundesärztekammer zu Themen wie Sterbebegleitung, Hirntodfeststellung, Pränataldiagnostik oder assistierte Reproduktion erlassen worden.25 Alle diese Dokumente beschreiben den Arzt nicht mehr in überkommenen ethischen Kategorien, sondern sie normieren sein Verhalten in präzisen juristischen Termini, die notfalls auch einer gerichtlichen Nachprüfung vom Zivilrecht über das Strafrecht bis hin zum Verfassungsrecht Stand halten sollen.

An die Stelle früherer umfassender ethischer Verhaltensnormen, die auf einer gemeinsamen Werteordnung beruhten, ist heute die Abfassung konkreter positiv-rechtlicher Gesetze und Richtlinien getreten, deren Ziel darin besteht, punktuelle Lösungen für spezifische Problemlagen zu liefern. Diese Normierungen setzen nicht mehr ein anspruchsvolles, homogenes Welt- und Menschenbild voraus, vielmehr begnügen sie sich mit dem Vertrauen auf die Durchsetzungskraft des modernen Rechtsstaates.

Eine derart defensive Konzeptualisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses bringt nicht unerhebliche Gefahren mit sich. Wenn – etwa im Hinblick auf die Abfassung von Patientenverfügungen am Lebensende – die immer wieder eingeforderten Werte „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ des Patienten zunehmend an die Stelle der Würde des Menschen zu treten scheinen und schließlich zum alleinigen Maßstab ärztlichen Handelns werden, dann hat dies nichts mehr mit einem „partnerschaftlich“ verstandenen Heilauftrag des Arztes zu tun, sondern vielmehr mit der leichtfertigen Preisgabe der zentralen Fürsorgepflicht des Arztes für das Leben der ihm anvertrauten kranken Menschen.26

Wenn die Medizinethik hierzu ihre wissenschaftlich verbrämte Absolution erteilt, korrumpiert sie ihre eigenen Voraussetzungen. Der – zumindest in der Theorie – auf Augenhöhe mit seinem Patienten agierende Arzt verfügt am Beginn des 21. Jahrhunderts über ein umfangreiches Reservoir an offiziellen Leit- und Richtlinien, das ihm äußerlich eine gewisse professionelle Sicherheit gewährt. Doch das externe rechtsethische Stützkorsett kann ihn nicht vor den inneren Konflikten im Hinblick auf sein ärztliches Selbstverständnis bewahren. Der Arzt der Gegenwart fühlt sich als Akteur im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen und Politik tief verunsichert. Der vielstimmige und disharmonische Chor der akademischen Medizin- und Bioethik bietet in dieser prekären Situation leider wenig Hilfe an.

Referenzen

  1. vgl. Wiesing U., Marckmann  G., Editorial - Antwort auf eine Grundfrage, Beilage Ethik in der Medizin Nr. 82 im Ärzteblatt Baden Württemberg (2002); 57: Heft 12
  2. Bauer A. W., Der Hippokratische Eid. Medizinhistorische Neuinterpretation eines (un)bekannten Textes im Kontext der Professionalisierung des griechischen Arztes, Zeitschrift für medizinische Ethik (1995); 41: 145-146
  3. Bauer A. W., Die Allgemeine Semiotik als methodisches Instrument in der Medizingeschichte, Würzburger medizinhistorische Mitteilungen (1994); 12: 80-81
  4. Der Arzt, in: Hippokrates, Ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller. Mit einem bibliographischen Anhang von Karl-Heinz Leven, Reclam-Verlag, Stuttgart (1994), S. 110-111
  5. siehe Ref. 4, S. 109-110, aus der Einleitung von Hans Diller
  6. Das Gesetz, in: Hippokrates, Ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller. Mit einem bibliographischen Anhang von Karl-Heinz Leven, Reclam-Verlag, Stuttgart (1994), S. 120
  7. siehe Ref. 6, S. 121
  8. Das ehrbare (ärztliche) Verhalten, in: Kapferer R. (Hrsg.), Die Werke des Hippokrates. Die hippokratische Schriftensammlung in neuer deutscher Übersetzung, Hippokrates-Verlag, Stuttgart Leipzig (1934), S. I/34. Vgl. auch Baumann E. D., Du Médecin philosophe d‘Hippocrate, Janus (1934); 38: 25-32
  9. siehe Ref. 8, S. I/32
  10. siehe Ref. 8, S. I/32-I/33
  11. siehe Ref. 8, S. I/33
  12. siehe Ref. 8, S. I/38
  13. Unzer J. A., Von den Belohnungen der Ärzte. (55. Stück), in: Unzer J. A., Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift (1769); 2: 41
  14. Mai F. A., Stolpertus, ein junger Arzt am Krankenbette. Von einem patriotischen Pfälzer, Neue Auflage, Schwan, Mannheim (1800), S. 99-101
  15. Hufeland C. W., Enchiridion medicum oder Anleitung zur medizinischen Praxis. Vermächtniss einer funfzigjährigen Erfahrung, 5. Auflage (VII. Abdruck), Jonas, Berlin (1839), S. 727
  16. siehe Ref. 15, S. 742-743
  17. Virchow R., Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie. (Gelesen bei der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 20. Decbr. 1847.), Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin (1849); 2: 7-8
  18. Virchow R., Der Armenarzt, in: Die medicinische Reform. Eine Wochenschrift, herausgegeben von Rudolf Virchow und Rudolf Leubuscher, Reprint, Akademie-Verlag, Berlin (1983), S. 125
  19. von Krehl L., Pathologische Physiologie, 12. Auflage, Vogel, Leipzig (1923), S. 697
  20. siehe Ref. 19, S. 702-703
  21. von Krehl L., Pathologische Physiologie, 13. Auflage, Vogel, Leipzig (1930), S. VIII
  22. Liek E., Die Welt des Arztes. Aus 30 Jahren Praxis, Reißner, Dresden (1933), S. 241-242
  23. vgl. Mitscherlich A., Mielke F. (Hrsg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Fischer, Frankfurt am Main (1978), S. 281-282
  24. Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg) vom 21.11.1946. Text entnommen aus der Personalakte Richard Siebeck (PA 5883) im Universitätsarchiv Heidelberg
  25. Beispiele hierfür: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2011), Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der assistierten Reproduktion (1998), zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen (1998) und zur Feststellung des Hirntodes (1998)
  26. vgl. Geitner R, Grundvertrauen in die Entscheidung des Hausarztes, Deutsches Ärzteblatt (2011); 108: A520-A522

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. med. habil. Axel W. Bauer
Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Universität Heidelberg
Eichenwaldstraße 11, D-76332 Bad Herrenalb
axbau(at)hotmail.com

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: