Palliativmedizin und Onkologie

Imago Hominis (2012); 19(2): 129-136
Herbert Watzke

Zusammenfassung

Palliativmedizin ist seit ihrer Einführung eng mit der Onkologie verbunden. Sie wurde zur Optimierung der Betreuung eines jungen Krebspatienten entwickelt und hat auch heute noch vorwiegend Krebspatienten in ihrer Betreuung. Das Verhältnis von Palliative Care und Onkologie hat sich aber in den letzten zwei Jahren stark verändert. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen hat die Palliative Care einen gut charakterisierten und gut abgesicherten Platz in der Betreuung von Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen inne. Früh im Krankheitsprozess und gemeinsam mit onkologischen Antitumor-Maßnahmen eingesetzt wirkt sie Lebensqualität fördernd und lebensverlängernd. Ihre Hauptwirkungskomponente dürfte dabei neben der Betreuung krankheitsspezifischer Probleme auch in der Besprechung des Krankheitsverständnisses und des weiteren Lebensweges („end-of-life discussions“) liegen.

Schlüsselwörter: Palliativmedizin, Onkologie, Kommunikation am Lebensende

Abstract

Palliative care has always been closely associated with oncology. It was initially developed for a young patient with advanced cancer and still cares predominantly for cancer patients nowadays. The interrelation between palliative care and oncology has dramatically changed recently. Based on high-quality scientific studies, palliative care now has a well characterized and important place in the care of patients with advanced cancer. It enhances quality of life and will prolong life when used early disease trajectory and in a coordinated way with anticancer measures. One of its main components is the early discussion of patients‘ understanding of diagnosis and prognosis (end-of-life discussions) along with symptom management.

Keywords: Palliative Care, Oncology, End-of-Life Discussions


Wie alle anderen Patienten haben auch Patienten mit Krebserkrankungen den Anspruch auf eine optimale medizinische Behandlung ihrer Grundkrankheit und auf eine umfassende Betreuung all ihrer krankheitsassoziierten medizinischen und gesundheitsrelevanten Probleme. Dabei steht im Betreuungskonzept von Krebspatienten sowohl aus ärztlicher Sicht als auch aus Sicht der Patienten die Behandlung der Grundkrankheit naturgemäß im Mittelpunkt. Der lebensbedrohliche Charakter einer Krebserkrankung bewirkt, dass von Patienten wie Behandelnden alles dem Ziel einer Heilung oder zumindest einer Verzögerung im tödlichen Krankheitsverlauf untergeordnet wird beziehungsweise untergeordnet werden muss. Die oftmals dramatische Verschlechterung der Lebensqualität unter Krebstherapien wird deshalb häufig als notwendiger Preis für die Erreichung des angestrebten Zieles angesehen, eine Einschätzung, in der sich Patienten und Ärzte gleichermaßen wieder finden können. Diese Sichtweise kann unter anderem bewirken, dass therapie- und auch krankheitsassoziierte Probleme von Krebspatienten häufig verdrängt werden, von Ärzten deshalb auch weniger leicht wahrgenommen werden und somit unterbehandelt bleiben. Sie bedürfen dennoch einer intensiven Therapie.

1. Welche Therapie: Palliative Care oder Best Supportive Care?

Palliative Care

Laut Definition der WHO aus dem Jahre 2002 werden im Rahmen der Palliativ Care Patienten mit einer schweren lebensbedrohlichen Erkrankung und deren Angehörige betreut, wobei in den Übertragungen ins deutsche zumeist von Patienten mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen ohne kurative Möglichkeiten gesprochen wird. Die Betreuung umfasst vier Hauptfelder: die körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Probleme der Patienten. Der eigentliche Begriff für diese Hilfestellung in der englischsprachigen Definition der WHO ist Palliative Care, also Palliativ-Betreuung. Ins Deutsche wird er aber leider mit Palliativmedizin übertragen und dadurch die medizinische Komponente unberechtigt hervorgehoben.

Wiewohl eine Einschränkung bezüglich der zugrunde liegenden Erkrankungen in der Definition bewusst nicht vorgenommen wird, hat die weitaus überwiegende (>80%) Mehrzahl der Patienten auf Palliativstationen eine onkologische Grunderkrankung.

Dies erklärt sich zum einen aus der hohen Prävalenz onkologischer Erkrankungen und ihrer nach wie vor schlechten Heilbarkeit: So sind mehr als 50% der Krebserkrankungen zum Diagnosezeitpunkt als unheilbar – wenn auch nicht unbehandelbar – einzustufen. Zum anderen trägt aber auch die in der Regel relativ kurze Überlebenszeit nach Diagnose einer unheilbaren Krebserkrankung dazu bei.

Dass Palliative Care eine wirkungsvolle Therapieoption in dieser Situation darstellt, ist hinlänglich bewiesen. So wurde schon vor mehreren Jahren in großen Metaanalysen nachgewiesen, dass Palliative Care die Lebensqualität von Krebspatienten signifikant verbessert und invasive Therapieverfahren am Lebensende signifikant reduziert, ohne dabei eine Verkürzung des Überlebenszeit nach sich zu ziehen.1 Dies bewirkt auch eine hochsignifikante Reduktion von Behandlungskosten.2

In einer rezent publizierten prospektiven randomisierten Phase III Studie3 konnten nun bei Patienten mit primär metastasiertem Lungenkrebs diese Ergebnisse bestätigt werden. In dieser Studie wurde nachgewiesen, dass Palliative Care die Lebensqualität signifikant steigert, die Zahl invasiver Therapien am Lebensende signifikant reduziert und die Überlebenszeit nicht nur nicht verkürzt, sondern – statistisch signifikant – um zwei Monate verlängert.

Best Supportive Care

Der Begriff der „Supportivtherapie“ im Kontext der Krebserkrankungen bezieht sich traditionell auf Maßnahmen, die zur Behandlung der Nebenwirkungen von Chemotherapien eingeführt wurden. Allen voran steht hier die Gabe von Antiemetika gegen das chemotherapieinduzierte Erbrechen und die Gabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren gegen chemotherapieinduzierte Leukopenie und Anämie. In den letzten Jahren haben diese supportiven Therapien durch spezifische Nebenwirkungsprofile neu hinzu gekommener Krebstherapeutika eine ständige Erweiterung erfahren und reichen jetzt von der Therapie neuropathischer Schmerzen über die Thromboseprophylaxe bis hin zur Behandlung spezifischer dermatologischer Nebenwirkungen.

Der Begriff der „Best Supportive Care“ (BSC) hat sich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, in Studien, in denen der Verlauf von Patienten mit Antitumortherapie und mit jenem ohne Antitumor-
therapie verglichen wird, eine Beschreibung dessen vorlegen zu können, was mit den Patienten geschieht, die keine Antitumortherapie bekommen. Es hat sich bei genauerer Beobachtung nämlich gezeigt, dass Patienten, die in Behandlungsarmen von Studien eingeschlossen sind, mit dem Medikament, dessen Wirkung getestet werden soll, noch eine Reihe anderer Therapien „mitgeliefert“ bekommen, die Patienten in der unbehandelten Gruppe nicht bekommen: Dies reicht von notwendigen Begleitmedikamenten bis hin zu häufigeren Arztkontrollen. Der Effekt dieses zusätzlichen „Betreuungspakets“ kann sich aber massiv auswirken und vom Effekt der Antitumortherapie nicht unterschieden werden. Es wurde deshalb von Seite der Wissenschaft gefordert, das Betreuungspaket auch denen anzubieten, die keine Antitumortherapie erhalten und dafür der Begriff der „Best Supportive Care“ gewählt.

Die dafür existierende Definition der EORTC ist jener der WHO Definition von Palliative Care sehr ähnlich. Völlig fehlt für diese Best Supportive Care – ganz im Gegensatz zur Palliative Care – aber jedwede „Durchführungsbestimmung“. Dieses Fehlen klarer Richtlinien für BSC schafft nicht nur Probleme in der Aussagekraft vieler klinischer Studien (vor allem im Bereich der soliden Tumore) und in ethischer Hinsicht (ist es vertretbar, Patienten in klinische Studien einzuschließen, ohne dass definiert ist, wie diese Patienten behandelt werden?), sondern hat auch zur Folge, dass BSC kein brauchbares Therapiemodell außerhalb von klinischen Studien ist.

Standard Care

Aus dem oben Gesagten ergibt sich somit zusammenfassend, dass in der praktischen Versorgung von Krebspatienten mit unheilbarer Erkrankung die Palliative Care, die von spezifisch dafür Ausgebildeten durchgeführt wird, nachweislich einen massiven Vorteil für die Patienten und die Gesellschaft insgesamt bringt. Sie ist deshalb als Standard (Care) zu betrachten.

Medizinische Probleme, die mit der Verabreichung von Chemotherapie einhergehen, sollten – vor allem vor dem Hintergrund der ständigen Entwicklung neuer Medikamente mit entsprechend neuen Nebenwirkungsprofilen – im Sinn einer umfassenden supportiven Behandlung von den behandelnden Onkologen selbst behandelt werden.

Der Begriff der Best Supportive Care hat im klinischen Alltag keine Bedeutung und sollte in Zukunft auch in klinischen Studien besser durch eine standardisierte Palliative Care ersetzt werden.

2. Wann beginnt Palliative Care?

Aus der WHO-Definition geht klar hervor, dass unheilbar Erkrankte der Palliative Care zugeführt werden sollten und welche Behandlungsansätze ihr zu Grunde liegen. Offen bleibt jedoch die Frage, an welchem zeitlichen Punkt im Krankheitsverlauf Palliative Care beginnen soll.

Palliative Care als End-of-life Care

In der öffentlichen Wahrnehmung wird Palliativ- und Hospiz-Care oft mit der Betreuung von Sterbenden in deren letzten Lebenstagen gleichgesetzt. Tatsächlich stellt diese Lebensphase an ein Palliative Care Team große und spezifische Ansprüche, geht es doch darum, den Patienten möglichst wenig durch medizinische Maßnahmen zu stören, aber gleichzeitig auch ausreichend die drei Hauptbeschwerden am Lebensende, nämlich Schmerzen, Delir und Atemnot so zu behandeln, dass Patienten ruhig und friedlich sterben können und dass Angehörige dieses Bild des Verstorbenen als letzte Erinnerung im Gedächtnis behalten können.

Palliative Care in der Post-Chemotherapie Phase von Krebspatienten

Der Beginn einer Krebserkrankung ist oft dadurch gekennzeichnet, dass nur geringste Beschwerden bestehen, hinter denen sich dann eine Krebserkrankung verbirgt, die in der Regel über kurz oder lang zum Tod des Patienten führen wird. Um diese Erkrankung zurückzudrängen und dadurch Überlebenszeit und Lebensqualität zu schaffen, sind meist intensive therapeutische Maßnahmen notwendig, die nicht – wie sonst in der Medizin üblich - in direkter Relation zur Intensität des Beschwerdebildes stehen, sondern im Fall einer Krebserkrankung zur Aggressivität bzw. damit verbundener Prognose des Tumors. Das Zurückdrängen des Tumors, gemessen an seiner Ausdehnung in bildgebenden Verfahren, ist das therapeutische Ziel. Beschwerden, die in dieser Phase ja eher therapieassoziiert als krankheitsassoziiert sind, spielen da eine untergeordnete Rolle, auch in der Wahrnehmung der Patienten. Gelingt ein Zurückdrängen dann nicht (mehr), kommt es zu einer massiven Zunahme der Beschwerden, die dann zum ersten Mal im Krankheitsverlauf direkt Tumor-assoziierte sind. Genau zu diesem Zeitpunkt, an dem eine Therapie notwendiger denn je ist, erfährt der Patient, dass ihm eine Chemotherapie nicht mehr helfen kann.

Das für Krebserkrankungen spezifische therapeutische Vakuum aufzuheben, in das der Patient in dieser Post-Chemotherapie Phase dann fällt, ist die Hauptaufgabe und Kernkompetenz der Palliativmedizin bei onkologischen Patienten.

Palliativmedizinische Betreuung, vor allem wenn sie von Palliativmedizinern mit onkologischer Grundausbildung (oder alternativ in Kooperation mit Onkologen) durchgeführt wird, bietet sich hier als optimales Betreuungsmodell an. Ein gemeinsames Überweisungsgespräch zwischen Patienten, betreuenden Onkologen und Palliativmedizinern gewährleistet, dass der Hauptfokus der Betreuung – auch in der Wahrnehmung des Patienten – weg von der Antitumortherapie („Tumorbekämpfung“) hin zur Therapie der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Probleme gerichtet wird. Dies muss nicht notwendigerweise eine völlige Abkehr von allen Antitumormaßnahmen bedeuten, kann ihnen aber einen realistischeren Stellenwert im Gesamtbetreuungspaket zuweisen.

Early Palliative Care – Palliativmedizin als zusätzliche Betreuungsform während der Chemotherapie

Während bisher in der onkologischen Praxis palliativmedizinische Maßnahmen häufig erst in der Post-Chemotherapie Phase zum Einsatz kommem, haben Studien darauf hingewiesen, dass ein wesentlich früherer Einsatz der Palliative Care wahrscheinlich sinnvoller und effizienter ist. In einer klinischen Phase II Studie wurde schon 20074 nachgewiesen, dass eine von Beginn der Erkrankung zusätzlich „verordnete“ standardisierte Palliative Care prinzipiell machbar ist und von den Patienten gut angenommen wird.

Auf Basis dieser Phase II Ergebnisse wurde die weiter oben schon erwähnte prospektive, kontrollierte randomisierte Phase III Studie5 durchgeführt, in der Patienten mit einem Bronchuskarzinom im Stadium IV von onkologischer Seite behandelt wurden, die Hälfte der Patienten aber zusätzlich die bereits in der Phase II Studie getestete, standardisierte Palliative Care erhielt. Letztere bestand in zumindest monatlichen Kontakten mit dem Palliative Care Team, bei denen eine Checkliste abgearbeitet wurde, in deren ersten Punkten es um das Krankheitsverständnis der Patienten soweit betreffend die aktuelle Situation („Was wissen Sie über ihre Erkrankung?“) und die zukünftige Entwicklung („Wie glauben Sie wird es mit Ihrer Erkrankung/Ihrem Leben weitergehen?“) mit ihnen besprochen (= diskutiert) wurde. Natürlich wurden in weiterer Folge auch das Beschwerdebild erhoben und entsprechende palliativmedizinische Therapien durchgeführt. Zudem wurden die aus den Gesprächen resultierenden Konsequenzen für die onkologische Therapie mit dem behandelnden Onkologen besprochen.

Dieses palliativmedizinische Maßnahmenpaket bewirkte eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität der Patienten und eine signifikante Verminderung von Depressionssymptomen. Obwohl die derart behandelten Patienten signifikant weniger mit aggressiven Chemotherapien am Lebensende behandelt wurden, war ihre Überlebenszeit nicht kürzer, sondern im Mittel sogar um fast 3 Monate länger.

Diese Phase III Studie6 stellt einen Meilenstein in der Geschichte der Palliativmedizin dar. Sie zeigt nach allen Kriterien der evidenzbasierten Medizin nicht nur, dass Palliative Care extrem wirksam ist, sondern zeigt auch, wie sie angewendet werden muss: Es geht somit nicht mehr um „entweder Onkologie oder Palliative Care“, sondern um eine gleichzeitige Behandlung durch Onkologen und Palliativmediziner vom Zeitpunkt der Diagnosestellung an. Darüber hinaus widerlegt sie klar die immer wieder geäußerten Bedenken, dass Palliative Care zwar die Lebensqualität erhöht, aber gleichzeitig die Überlebenszeit verkürzen könnte: Sie weist eindrucksvoll nach, dass zusätzliche Palliative Care die Lebensqualität wie erwartet erhöht und dabei aber die Überlebenszeit nicht nur nicht verkürzt, sondern sogar signifikant verlängert.

Die letztgenannte Studie stellt somit die Palliative Care mitten in die evidenzbasierten Maßnahmen der Onkologie und ist somit essentieller Bestandteil der Therapie des Bronchuskarzinoms.

3. „End-of-Life Discussions“ – Besprechung des Lebensendes

Entscheidungen am Lebensende von nicht-onkologischen Patienten sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass Patienten entweder nicht in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden können – wie etwa in der Traumatologie und Intensivmedizin – oder nur sehr begrenzt miteinbezogen werden können, wie etwa in der Geriatrie. Krebspatienten sind in der Regel bis wenige Tage oder sogar Stunden vor ihrem Tod noch vollständig entscheidungsfähig. Dies hat den Vorteil, dass damit dem Patientenwillen entsprochen werden kann und nicht, wie in den anderen genannten Situationen, häufig nur der mutmaßliche Patientenwille erhoben werden kann. Diese Sichtweise der Entscheidungsfindung, in der die Patientenautonomie in den Vordergrund gerückt wird, hat gerade in der Onkologie – nicht zuletzt auch durch den Einfluss der Palliativmedizin – die traditionelle paternalistische Entscheidungsfindung, in der ausschließlich „der Arzt weiß, was für seinen Patienten gut ist“, zunehmend abgelöst.

Wenngleich unbestritten ist, dass die Wahrhaftigkeit von Seiten der Ärzte die Grundeinstellung für eine gemeinsame Therapieentscheidung mit ihren Patienten sein muss, treten in der täglichen Praxis bei der Ermittlung und der Vermittlung der Wahrheit vielfältige Schwierigkeiten auf.

Ermittlung der Wahrheit

Die für den Patienten so wesentlichen Informationen über die Wirkung und die damit einhergehenden Nebenwirkungen einer Antitumortherapie kann ja – wenn überhaupt – nur in Wahrscheinlichkeiten angegeben werden und lässt somit einen großen Interpretationsbereich dessen zu, was sich individuell verwirklichen wird. Der dabei entstehende „Spielraum“ ist allerdings die Grundlage des „Shared Decision Making“. Er stellt den Patienten nicht vor eine unverrückbare Tatsache, sondern erlaubt ihm vor dem Hintergrund seiner Hoffnungen und Befürchtungen eine individuelle Einschätzung zu treffen. Dabei ist bemerkenswert, dass Studien zeigen,7 dass Patienten sich bei geringeren Aussichten auf eine Heilung einer invasiven Antitumortherapie unterziehen würden, als dies ihre behandelnden Ärzte tun würden, wenn diese sich vorstellen, selbst in der Krankheitssituation zu sein. Dies trifft auch dann zu, wenn diese Patienten selbst Ärzte sind. Dies zeigt unter anderem ganz klar, dass in dieser Situation rein paternalistische Entscheidungen durch den Arzt häufig am Willen des Patienten vorbeigehen würden.

Diese Studien8 beziehen sich allerdings ausschließlich auf Patienten, die eine Heilungschance haben, und können sicher nicht auf solche umgelegt werden, bei denen diese ausgeschlossen ist. Allerdings zeigt sich bei letzteren auch eine ähnliche Tendenz: So befürworten diese häufig eine Reanimation, auch wenn deren statistische Erfolgschance nur einige Prozent beträgt. Was aber aus der eigenen Erfahrung in der Erstellung von Patientenverfügungen von allen diesen Patienten ausnahmslos abgelehnt wird, ist eine Reanimation, in deren Folge ein Intensivaufenthalt mit sehr wahrscheinlich tödlichem Ausgang notwendig wird. Das dafür häufig gebrachte Argument ist, dass man keinesfalls „an Schläuchen hängend sterben wolle“.

Während also das „do not resucitate“ – im Sinn der Unterlassung einer primären Reanimation – in der Regel auch bei prozentuell nur geringer Erfolgschance eher nicht verfügt wird, wird das „do not transfer to ICU“ – sollte die primäre Reanimation erfolglos sein und eine Beatmung mit Transfer auf eine Intensivstation notwendig sein – in aller Regel verfügt.

Für die Praxis der medizinischen Betreuung unheilbarer Krebspatienten mit fortgeschrittener Erkrankung hat das unmittelbare Bedeutung. Es konnte nämlich gezeigt werden,9 dass diese Patienten dann, wenn sie wegen einer Komplikation der Krebserkrankung stationär aufgenommen werden mussten, in diesem Aufenthalt reanimationspflichtig und anschließend intensivbehandlungspflichtig wurden, ausnahmslos auf der Intensivstation verstorben sind. Eine Reanimation dieser Patienten ist somit nach probabilistischen und wahrscheinlich auch nach physiologischen Kriterien „sinnlos“, weil das Ziel, die Reanimationssituation zu überleben, nicht erreicht werden kann. Diese Situation liegt bei fast (!!) allen Patienten auf Palliativstationen vor und kann im Einzelfall bei nicht erhebbarem Patientenwillen als Entscheidungsgrundlage in einer Reanimationssituation herangezogen werden.

Hingegen war in dieser Studie10 die Mortalität nach Reanimation der Krebspatienten, die aus Routinegründen auf Normalpflegestationen aufgenommen waren (z. B. geplante Chemotherapie) und dabei reanimationspflichtig und in der Folge intensivstationspflichtig wurden, nicht unterschiedlich von nicht-onkologischen Patienten. Wesentlich dabei ist, dass dies völlig unabhängig vom Tumorstadium war. Für diese Patienten kann eine Reanimation deshalb objektiv und probabilistisch nicht einfach als „sinnlos“ bezeichnet werden, auch wenn die Krebserkrankung schon weit fortgeschritten ist.

Vermittlung der Wahrheit

In unserem Kulturkreis ist es heute – mindestens unter Ärzten – unumstritten, dass die Diagnose einer Krebserkrankung dem Patienten übermittelt werden muss. Das geht auch aus einer eigenen Befragung von über 800 OnkologInnen in Österreich hervor, die dies ausnahmslos so halten.11 Das war nicht immer so. Einer Vielzahl an Dokumenten ist zu entnehmen, dass noch Mitte des letzten Jahrhunderts Patienten vor dieser „schlimmen Nachricht geschützt“ werden mussten.

Dass diese Mitteilung mit großer Einfühlsamkeit vorgenommen werden muss und dafür entsprechendes Training und viel Erfahrung notwenig ist, ist völlig unumstritten. Nicht zuletzt deshalb ist das „Überbringen schlechter Nachrichten“ jetzt Gegenstand des studentischen Unterrichts aller medizinischen Universitäten in Österreich.

Wesentlich komplexer stellt sich die Situation dar, wenn es darum geht, die Prognose einer Erkrankung zu übermitteln. Da die Diagnose und Mitteilung einer Krebserkrankung ausnahmslos jeden Patienten in eine existentielle Krise stürzt, auch wenn bei vielen Patienten das nicht entsprechend „sichtbar“ wird, geht es Krebspatienten primär darum, ob die Krebserkrankung zum Tod führen wird. Hier liegt der Unterschied zu (fast) allen anderen Erkrankungen, bei deren Diagnosestellung es aus der Sicht der Patienten eher darum geht, ob man wieder erkranken wird (z. B. akuten Herzinfarkt) oder wie beeinträchtigend die Erkrankung ist (z. B. Diabetes).

Diese existentielle Bedrohung von Krebspatienten schlägt sich auch tatsächlich in einer erhöhten Suizidalität im ersten Jahr der Erkrankung nieder. Wie jüngst in einer großen skandinavischen Populationsstudie gezeigt werden konnte, ist das Risiko der Suizidalität in diesem Zeitraum auf das 12,6fache der nicht an Krebs erkrankten Personen erhöht.12 In absolutem Risiko ausgedrückt bedeutet dies, dass von 1000 Patienten mit der Diagnose einer Krebserkrankung 2 innerhalb eines Jahres einen Selbstmord begehen. Das bedeutet aber auch, dass bei 998 von 1000 an Krebs Erkrankten psychische Bewältigungsprozesse generiert werden, die ein Weiterleben möglich machen. Diese Prozesse, die mit leider durchaus negativer Konnotation landläufig als „Verdrängungsprozesse“ bezeichnet werden, sind somit „vital“ für die Patienten. Wie aus vielen Studien und auch aus literarischen Werken von Krebspatienten hervorgeht, ist die Wirksamkeit der Bewältigung undulierend und nie vollkommen oder vollkommen stabil, wie immer stark „verdrängt“ es „von außen“ auch wirken mag. Diese Dynamik der Verdrängungsprozesse kommt auch darin zum Ausdruck, dass Krebspatienten, die den Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid äußern und ihn nicht erfüllt bekommen, bei späteren Befragungen einen derartigen Wunsch nicht mehr äußern und oft einige Zeit später angeben, ihn doch wieder zu verspüren.

Dieser Hintergrund besteht in der Regel, wenn es um die Übermittlung einer Prognose quo ad vitam geht. Wann diese im Verlauf einer Krebserkrankung erfolgen soll, kann nicht generell festgelegt werden, sondern hängt von der persönlichen Lebens- und Krankheitssituation des Patienten ab. In der oben genannten Studie13 gaben zwei Drittel der OnkologInnen, die an Hand eines 6-jährigen Krankheitsverlaufes einer Krebspatientin ohne primär kurative Chance befragt wurden, an, die Prognose der Krebserkrankung in den ersten Wochen nach Mitteilung der Diagnose mit dieser Patientin zu besprechen. Spätestens bei Beginn der Zweitlinientherapie würden alle Befragten dies tun. Gerade in dieser Frage haben sich international in letzter Zeit wesentliche Änderungen ergeben, die unter dem Begriff der „End-of-Life Discussions“ stehen. Die American Society of Oncology (ASCO) empfiehlt, derartige „Discussions“ mit allen Patienten zu führen, die an einem „Advanced Cancer“ erkrankt sind. Advanced Cancer wird dabei definiert als „cancer that can not be cured”.14 Bemerkenswerter Weise steht dieser Satz als erster Satz in der Patientenbroschüre von ASCO für “Advanced Cancer”.

Die Mitteilung einer Krebsdiagnose und der daraus resultierenden Prognose (quo ad vitam) wird im Deutschen wenig sinnvoll und weitgehend irreführend als „Aufklärung“ bezeichnet. Dieser Begriff suggeriert, dass eine Person (Arzt) einer anderen Person (Patient) einen Sachverhalt „erklärt“ und diese Person daraufhin „weiß, was los ist“. Diese Vorstellung ist vor dem Hintergrund einer existenziellen Bedrohung, bei der die emotionale Reaktion dominant ist, mehr als naiv.

Der englische Begriff „end of life discussions“ hingegen, der denselben Sachverhalt beschreibt, bezeichnet die „Aufklärung“ als „Diskussion“ und vermittelt auch durch seine Pluralform, dass dies ein Prozess ist. Er beinhaltet begrifflich auch wesentlich mehr Themen als „nur“ die Prognose der Überlebenszeit. Eine derartige „Besprechung“ wird auch zum Thema haben, wie der körperliche Zustand in den letzten Lebenswochen und Monaten sein kann und welche Vorkehrungen dafür an welchem Zeitpunkt notwendig sind, wie die Versorgungssituation von minderjährigen Kindern oder pflegebedürftigen Eltern der Patienten geregelt werden kann, was getan werden kann, um die verbleibende Zeit sinnvoll zu gestalten und vieles mehr. Letztlich ist durchaus auch vorstellbar – und kommt selbst auf Palliativstationen immer wieder vor –, dass das, was landläufig als „Aufklärung“ bezeichnet wird, nämlich die Übermittlung der wahrscheinlichen Überlebenszeit, gar nicht besprochen wird.

Die Erfahrung zeigt vor allem eines: Wenn Ärzte nicht prinzipiell bereit und gewillt sind, die Prognose der Überlebenszeit zu übermitteln, können und werden sie auch die anderen Themen der „end of life discussions“, die im Einzelfall durchaus viel wichtiger sein können, nicht ansprechen. Spricht man diese anderen Themen nämlich an, wird die Frage nach der Überlebenszeit oft automatisch gestellt. Die „Beantwortung“ der Frage ist dann aber nicht eine unidirektionale „Aufklärung“, sondern folgt dem Wunsch des Patienten und erfüllt damit in idealer Weise die Kriterien eines patientenzentrierten Gespräches.

Es ist deshalb zu fordern, dass bei Übermittlung der Prognose von Krebserkrankungen ein Wechsel der Begriffe weg von „Aufklärung“ hin zu „Besprechungen des Lebensendes“ erfolgt, mit der Hoffnung, dass dann all das besprochen wird, was für den Patienten wichtig ist und damit der Weg geebnet wird, dass Patienten das fragen, was uns so schwer fällt, aus uns heraus ihnen zu sagen: „Wie lange werde ich noch leben?“

Referenzen

  1. Zhang B. et al., Health Care Costs in the last Week of Life, Arch Int Med (2009); 169: 480-488
  2. Temel J. S. et al., Early Palliative Care for Patients with Metastatic Non-Small-Cell Lung Cancer, New Engl J Med (2010); 363: 733-42
  3. Temel J. S. et al., Phase II study: integrated palliative care in newly diagnosed advanced non-small-cell lung cancer patients, J Clin Oncol (2007); 25: 2377-82
  4. Patienten muten sich mehr zu als Gesunde.
  5. siehe Ref.3
  6. siehe Ref.3
  7. Slevin M. L. et al., Attitudes to chemotherapy: comparing views of patients with cancer with those of doctors, nurses, and general public, Br Med J (1990); 300: 1458-60; Slevin M. L. et al., Who should measure the quality of life, the doctor or the patient?, Br Med J (1988); 57: 109-112
  8. ebd.
  9. Wallace S. et al., Outcome and cost implications of cardiopulmonary resuscitation in the medical intensive care unit of a comprehensive cancer center, Supportive Care Cancer (2002); 10: 425-436
  10. ebd.
  11. Gartner V. et al., Attitudes towards palliative care in primary metastatic cancer: a survey among oncologists, Wien Klin Wochenschr (2010);122: 45-92
  12. Fang F. et al., Suicide and Cardiovascular Death after a Cancer Diagnosis, New Engl J Med (2012); 366: 14-23
  13. siehe Ref. 11
  14. Peppercorn J. M. et al., American society of clinical oncology statement: toward individualized care for patients with advanced cancer, J Clin Oncol. (2011); 29: 755-60, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21263086

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Herbert Watzke
Professor für Palliativmedizin
Universitätsklinik für Innere Medizin I
Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien
herbert.watzke(at)meduniwien.ac.at

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