Arbeit und Lebenssinn im Zeitalter seelischer Erkrankungen

Imago Hominis (2014); 21(2): 115-121
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Zusammenfassung

Arbeit hat drei Kennzeichen: Aktivität im Sinn von gezieltem Tun, Verändern, Verbessern; Mühe im Sinn von Einsatz aller bzw. der besten Kräfte; Funktionalität im Sinne von sozialer Interaktion. Das Ziel aller drei Kennzeichen ist organisierter, berechenbarer Nutzen. Dieser scheint als Lebenssinn, oft unausgesprochen und verdeckt, übrig.
Wird der Lebenssinn aber tatsächlich vom Funktionieren in der Arbeit abgedeckt? Es ist zu fragen, weshalb gerade eine so aufgebaute Arbeitswelt mit ihrer Effizienz zu seelischen Erkrankungen führt, Ausgebranntsein, Depression, Vernachlässigung oder Zweitrangigkeit des privaten Lebensraums: Familie, Freundschaften, Erholung, Lebensfreude. Wie dagegen verhält es sich im Gegenzug mit dem „Begegnen mit Wirklichkeit“, die nicht vom arbeitenden Tun beherrscht ist? Wie gelingt das spannungsvolle Zusammenspiel von Tun und Lassen, Mühe und Gabe, Zweck und Sinn? 

Schlüsselwörter: Arbeit, Soziale Anerkennung, Lebenssinn, Gabe

Abstract

Three criteria of „work“ can be distinguished: activity in the sense of aiming at a purpose, of changing and optimising something; effort in the sense of using all (or the best of) one’s strength, especially concerning heavy duties; functionality in the sense of social interaction. The aim of all three criteria is organized and calculable profit (not only monetary). Profit is regarded to be the sense of life, often remaining implicit and latent.
Is sense of life indeed covered by one’s function at work? Why is then such an idea of work with all its efficiency the cause of psychic sickness, especially of burnout and depressions, negligence of family, friendships, recreation and joy of life? Is there an „encounter of reality“ that is not dominated by work? Can we proceed to the interplay of doing and leaving, labour and gift, purpose and sense?

Keywords: Labour, Social Acceptance, Meaning of Life, Gift


1. Der Mensch – ein Arbeitstier? Zur Spannung von Arbeit und Lebenssinn

Tödliche Infektionen von früher sind in der heutigen Lebenswelt gut im Griff. Aber es gibt sieben neue Plagen; darunter steht Ausgebranntsein an vorderer Stelle neben Unverträglichkeiten und Sucht u. a.1 Ursache dafür ist „keine Krankheit, sondern ein chronifizierter Stresszustand“, in dessen Folge Depressionen oder Angst einhergehen. Noch genauer hingesehen entsteht dieser Zustand durch „die Verdichtung der Arbeitswelt und auch des Privatlebens sowie die Komplexität der Welt“.2

Solche Definitionen lassen aufhorchen. Denn im Unterschied zur ungleich schwereren körperlichen Anstrengung früherer Arbeitswelt ist Arbeit heute „leicht“; im Unterschied zur kargen Freizeit früherer Generationen, wo höchstens der Samstag-nachmittag und der Sonntag „frei“ waren, ist die Arbeitszeit gesunken und die Freizeit, mit ihr die Freiheit gestiegen. Ist die Welt komplexer geworden? Welt wohl nicht, aber unser Verhalten zu ihr, ebenso unsere Einstellung zur Arbeit, unsere Wertung der Freizeit.

Um dieses Verhalten geht es, um eine Vorentscheidung unserer Kultur, bevor noch der Lehrling die erste Arbeitsstunde antritt, der Student die Universität betritt, der Sportler sich in den Trainingsanzug wirft. Denn, so die Vermutung: (Fast) alles ist heute in Planung und Arbeit eingespannt.

Arbeit hat drei Kennzeichen:3 Sie ist betonte Aktivität im Sinn von gezieltem Tun, Verändern, Verbessern; sie macht Mühe im Sinn von Einsatz aller (oder der besten) Kräfte gerade bei schweren Aufgaben; sie ist Funktionalität im Sinn von sozialer Interaktion und zielt auf soziale Anerkennung; und soziale Interaktion ist der (ausschließlich) geltende menschliche Lebensraum. Ziel und Zweck aller drei Kennzeichen ist, ebenso deutlich und keineswegs abfällig gesagt: organisierter, berechenbarer Nutzen. Nutzen stellt den konkreten Lebenssinn, unausgesprochen und verdeckt, dar; er drückt sich aus in Geld, in hohem Lebensstandard oder Lebens-Mitteln der außergewöhnlichen Art und in öffentlichem Ansehen (wenn möglich in den Medien, mindestens aber beim Nachbarn). Schwindet dieser Nutzen, schwindet angeblich auch der Lebenssinn.

Demgegenüber ist allerdings zu fragen, weshalb gerade eine so hoch bewertete Arbeitswelt mit ihrer Effizienz zu seelischen Erkrankungen führt, vor allem zum Ausbrennen der Kräfte und zu mannigfaltiger Depression, in der Folge auch zu einer Vernachlässigung oder Zweitrangigkeit des privaten Lebensraums: der Familie, der Freundschaften, der gemeinsamen Erholung, der mitgeteilten Lebensfreude. Wird Lebenssinn tatsächlich vom Funktionieren in der Arbeit abgedeckt? Dann wäre man geradewegs im sozialistischen Arbeitsmodell gelandet: der Mensch als Robotnik. So wäre in Gegenspannung anzufragen, wie es sich mit dem „Begegnen mit einer Wirklichkeit“ verhält, die nicht vom arbeitenden Tun beherrscht ist, sondern vom Wahrnehmen; wie es sich mit dem „Leichten“ verhält, das „zufällt“ ohne harte Mühe; wie es sich mit dem mehr als Zwecklichen verhält, dem „Unbezahlbar-Unnützen“. Anders aufgespannt: Wie gelingt das gegenläufige Zusammenspiel von Tun und Lassen, Mühe und Gabe, Zweck und Sinn?

Es ist deutlich, dass die antike Welt die Wertung dieser Spannung anders ansetzte als die heutige Welt. Damals war Arbeit ein Tun des Sklaven und der unteren Schichten, Freisein von Arbeit aber das Kennzeichen der eigentlich menschlichen Würde. Das ist prägnant ablesbar an vielen orientalischen und mediterranen Mythen und findet Eingang auch in die Philosophie.

2. Mythische Warnung vor der unguten Mühe (labor improbus)

Gerade der Ackerbau, Urbild der Kultur, ist auch Urbild eines immer schon halb vergeblichen Tuns. So sieht es Vergil, der in den Georgica sehr wohl auch die Zeiten wundervoller Ernte besingt; und doch ist das Ergebnis überwiegend ein anderes: „So wie einer den Kahn, mit Mühe dem Strom entgegenrudernd, hinaufarbeitet – doch, sinken ihm etwa die Arme, plötzlich die Flut ihn abwärts reißt, gepackt von der Strömung.“4 Für den eigenartigen Widerstand der Erde gegen den Menschen und seinen immerwährenden Kampf mit ihr findet Vergil das trübe Wort vom labor improbus: „Der Vater des Feldbaus wollte den Weg nicht leicht, (…) schärfend das Herz der Sterblichen durch Sorgen (…); die Arbeit, die ungute, besiegte alles.“5 Grimmig und listenreich wird 300 Jahre zuvor bei Sophokles der Mensch gesehen, fast als Vergewaltiger des Ackers und nahe an der Lästerung: „Die Erde auch, der Göttlichen höchste, schöpfet er aus und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr um Jahr mit Rössern und Mäulern.“6

Vom gnadenhaften Dasein im Garten, wo alles Lebenswichtige geschenkt wird, zum fluchbeladenen Werk auf widerwilligem Boden zeichnet auch die jüdische Genesis7 den Überschritt. Wo zuvor der Baum des Lebens sprosste, treibt das Land nun Dornen und Disteln hoch. „Der Mensch ist zur Mühsal geboren, wie Feuerfunken, die hochfliegen.“8 Nach einer talmudischen Deutung des Genesisanfangs hieß der Baum des Lebens ezpri, was bedeutet: „Baum [ist] Frucht“, während der verbotene Baum der Erkenntnis ezosipri hieß, was bedeutet: „Baum macht Frucht“ – er trennt Ursache und Folge, teilt einen einzigen Vorgang durch zeitliche Versetzung ins Nacheinander. Statt des mühelosen Empfangens der Frucht wählten die Ureltern demnach bildhaft das Selber-Machen der Frucht. Franz Kafka kommentiert: „Wir sind nicht nur deswegen sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben.“9 Und was wäre der Baum des Lebens? Der seine Frucht zufallen lässt, ohne jene harte Plage, ohne jene Entsagung, die allem Nicht-Schöpferischen eignet. Aber die Ureltern wählten die Plage lieber als das Geschenk.

Lange nach dieser mythischen Hellsicht, am Ende der Aufklärung, beklagt auch Hölderlin, der Griechenland noch einmal beschwört, die Arbeit als eigenartige Verfehlung, als unfruchtbares Treiben – sie tut das Schwere um des Schweren willen, in einer Art Selbstbestrafung:

„Aber weh! es wandelt in Nacht,
es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht.
Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein,
und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos,
doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien,
bleibt die Mühe der Armen.“10

3. Heiligung der Arbeit – und ihre Übersteigerung

In der vorchristlich-antiken Welt war, wie angedeutet, die Arbeit den Sklaven aufgedrückt; im Griechischen hieß der Handwerker banausos – er war selbst eine Art Werkzeug mit dem kleinteiligen, eingeschränkten Blick des Spezialisten. Nur der freie Mann galt als Mensch, und frei war er, weil er sich von Arbeit fernhalten konnte und dafür nicht im eigentlichen Sinn als Menschen angesehene Sklaven beschäftigte.

Aber die jüdische Kultur bereitete einen Umschlag vor: „Am Morgen beginne zu säen, auch gegen Abend lass deine Hand noch nicht ruhen.“11 Tatsächlich gibt es eine kulturelle Wende, die bedeutsamerweise mit der biblischen Botschaft, zusätzlich mit der allmählichen Abschaffung der Sklaverei einhergeht. Denn die Genesis12 versteht es als eine wesentliche Fähigkeit des Menschen, aktiv Welt zu durchdringen, sich anzueignen, zu gestalten. Das Christentum änderte die Einstellung zur Arbeit nachhaltig. Der Mönchsvater Benedikt, dem Europa seit dem 6. Jahrhundert den großen Kultivierungs- und Rodungsorden der Benediktiner verdankt, wertete mit seiner Herausforderung ora et labora die körperliche Arbeit auf. Beten und Arbeiten stehen seitdem in inniger Verbindung und werden in ihrem Rang für die Weltgestaltung in der Benediktsregel nicht unterschieden. So wird z. B. vorgeschrieben, die Gefäße für die Liturgie und die Gefäße für die Küche mit derselben Ehrfurcht und Genauigkeit zu reinigen. Durch diese Aufwertung und „Heiligung“ der Arbeit, die auch die adeligen Söhne im Orden leisten mussten, wird übrigens auch der selbst erarbeitete Besitz wichtig: Man verzehrt nicht nur das Erbe der Väter und lässt andere dafür schaffen, sondern erwirbt selbst sein Brot.

Die Dinge dieser Welt sind also dem Menschen freigegeben zum Gebrauch, aber auch zur Bewahrung und Mehrung. Der Satz „Macht Euch die Erde untertan“13 kann natürlich falsch gelesen werden: als Aufforderung zur Ausbeutung, zur willkürlichen Nutznießung, zur hemmungslosen Selbstbedienung, wie es auch geschah. Er steht jedoch in einem auf das Gegenteil zielenden Zusammenhang: Der Mensch (Mann und Frau) ist angewiesen, auf der Erde die Herrschaft Gottes selbst zu übernehmen: als „Hirt des Daseins“ (Heidegger). Das bedeutet selbstverständlich ein Gebrauchen, andererseits aber auch Dienst und Hut des Anvertrauten. Hildegard von Bingen sprach im 12. Jahrhundert auf eindrückliche Weise von einem „Netz der Freundschaft“, in das alle Geschöpfe eingebunden seien. Demnach fällt der Apfel im Herbst „gerne“ vom Baum, so dass ihn der Mensch nicht einmal pflücken muss; „die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten dar“;14 die reife Ähre neigt sich selbstverständlich nach unten, um geschnitten werden zu können. So ist der Mensch nach Hildegard in die Freundschaft der Dinge eingesetzt, die sich ihm willig, nicht widerwillig öffnet. Welt ist in den Dienst des Menschen gerufen, aber auch der Mensch ist in den Dienst der Welt gerufen. Die sieben technischen Künste wurden im mittelalterlichen Curriculum serviles, dienstbar, genannt und der vita activa zugeordnet: Sie dienen der Leistung, dem Bebauen und Pflegen, also Kultivieren der Natur, was der Mensch als den ihm angemessenen göttlichen Auftrag begriff. Reine vita contemplativa ist nach Thomas von Aquin sogar eine Übersteigung des Menschlichen, da sie als solche „nicht eigentlich menschlich, sondern übermenschlich sei“, non proprie humana sed superhumana.15

Freilich steigerte sich fortschreitend in der Neuzeit die Hochschätzung des eigenen Tuns. Überscharf zeichnet sich darin eine Umwertung zum labor probus ab: Arbeit wird Ausweis der Tüchtigkeit, ja der Lebenstauglichkeit überhaupt. Die Renaissance sieht den Menschen als „zweiten Gott“, deus secundus,16 der die Welt zu jener Voll-Endung führt, die Gott ihr noch absichtlich offengelassen habe. Es kommt damit richtungsmäßig zu einer Sakralisierung der Arbeit, wie sie seit dem 16. Jahrhundert auch der Calvinismus in die Lebenspraxis umsetzte. Selbst Denken wird Arbeit. Eindeutig gilt bei Kant die „herkulische Arbeit“ des Philosophierens mehr als die Intuition, die er ironisch der Romantik zuordnet, „bei der man nicht arbeiten, sondern nur das Orakel in sich selbst anhören und genießen darf“.17 Gegen die romantische „Ahndung“ gelte „das Gesetz der Vernunft, durch Arbeit sich einen Besitz zu erwerben“. Ausdrücklich tadelnd gegen Platon gerichtet urteilt Kant: „Die Philosophie des Aristoteles ist dagegen Arbeit.“

4. Arbeit als Rausch und Verführung: Work- oholismus

Damit kann Arbeit jedoch zum Herrengötzen werden, der birgt und trägt – im Ganzen einer ameisenhaften Betriebsamkeit. „Die größte Gefahr liegt nicht in der Neigung des Kollektivs, die Person zu erdrücken, sondern in der Neigung der Person, sich ins Kollektiv hineinzuwerfen, in ihm unterzugehen.“18 Hier wartet der Rausch, die Orgiastik eines Aufgehens im gemeinsamen Tun und Treiben. Auch die Fabrik kennt und nutzt diesen Rausch, um jene willenlose Einstimmung in den Arbeitsprozess zu erzielen, die Simone Weil (1909 – 1943) aus eigener Erfahrung ihrer Fließbandarbeit bei Renault in den 1930er Jahren kennt und klassisch beschreibt: „Alle Geräusche haben einen Sinn, sie sind alle rhythmisch, sie vermischen sich gewissermaßen in der großen Atmung der kollektiven Arbeit, an der teilzuhaben berauschend ist. Da das Gefühl des Alleinseins nicht beeinträchtigt wird, ist die Teilnahme umso berauschender. Es gibt nur Geräusche von Metall, Räder, die sich drehen, das Schlagen von Metall auf Metall; Geräusche, die weder von der Natur noch vom Leben sprechen, sondern allein von der ernsten, standhaften, ununterbrochenen Tätigkeit des Menschen an den Dingen. Man ist verloren in diesem großen Lärm und beherrscht ihn zugleich; denn was auf dem Hintergrund dieses andauernden, beständigen und ständig wechselnden Basses aufsteigt - und sich darin verliert –, das ist der Klang der Maschine, die man bedient. Man fühlt sich nicht klein wie in der Menge, man fühlt sich unersetzlich. Die Übertragungsriemen erlauben, […] mit den Augen die Einheit des Rhythmus zu trinken, die man durch die Geräusche und die leichte Vibration der Dinge am ganzen Körper spürt. In den dämmrigen Stunden in der Früh und an den Winterabenden, wenn nur das elektrische Licht brennt, haben alle Sinne teil an einem Universum, das in nichts an die Natur erinnert, in dem nichts umsonst gegeben ist, alles ein Zusammenstoß, ein harter und zugleich bezwingender Zusammenstoß des Menschen mit der Materie. Die Lampen, die Riemen, die Geräusche, das harte und kalte Eisen, alles läuft zusammen in der Verwandlung des Menschen zum Arbeiter.“19

Weil sieht diese Verwandlung nicht mehr als eingelösten Schöpfungsauftrag, sondern als folgenschwere Besessenheit des Menschen durch die Maschine und die Produktion, wie sie es der marxistischen Arbeitstheorie schneidend hellsichtig vorwirft.

So gesehen, ist Arbeit Ausdruck einer bitteren und brennenden Sinnlosigkeit: „Man muss arbeiten, wenn schon nicht aus Geschmack daran, so aus Verzweiflung. Denn, alles auf eine letzte Wahrheit gebracht: die Arbeit ist weniger langweilig als das Vergnügen.“20 Lässt sich Arbeit aus Besessenheit und Verzweiflung herausholen in ein sinnvolles Tun?

5. Zum Unterschied von Zweck und Sinn

Die Umgangssprache unterscheidet Zweck und Sinn nur selten; dennoch handelt es sich um eine tiefreichende Gegenpoligkeit – sie darf nur nicht in moralische Schwarz-Weiß-Malerei abgleiten.

Zweck meint Ziel, das durch die Zusammenführung der richtigen Mittel (durch „Zusammenzwicken“) rasch erreicht werden soll, also in material- mäßiger Rationalität und zeitlicher Begrenzung. Als Beispiel nimmt schon Aristoteles den Hausbau: Hätte man einen Architekten gewählt, der im Verlauf des Baues äußern würde, Hausbauen sei der Sinn seines Lebens, deswegen wolle er das Bauen nicht abschließen, sondern so lange wie möglich hinauszögern, so würde dieser Architekt zweifellos entlassen. Zweckliches Arbeiten meint effektives, zielorientiertes Handeln; wenn das Ziel erreicht ist, rückt ein anderes in den Blick.

Demgegenüber hat Sinn kein Ziel in der Zeit und deswegen keine zeitliche Begrenzung, ist auch nicht rationell durchzuführen. Sinn ist zeitfrei „selbsttragend“, wie das Beispiel der Musik zeigt: Das Hören einer Symphonie ist sinnvoll vom ersten bis zum letzten Ton; schneller spielen, um die Musik „endlich hinter sich zu haben“, heißt, dass es sich weder um gute Musik noch um einen guten Hörer handelt. Man kann Sinn zweifellos häufig auch in Zweck umwandeln: Es ist nachgewiesen, dass bei leiser Mozart-Musik Kühe im Stall mehr Milch geben (übrigens nicht bei Rock-Musik). Trotzdem hat Mozart seine Musik nicht zur Steigerung der Erträge der Viehwirtschaft geschrieben. Musik ist sinnvoll, aber nicht zweckhaft. Ihr Verlauf und ihre Schönheit sind von Anfang bis zum Ende von nutzenfreier Aussage.

Wer einen Beruf als Berufung ausübt und nicht als Job, arbeitet nicht nur die Stunden ab für den aufatmend erreichten Feierabend, für das Wochenende, für das Ausgeben des Verdienstes, sondern im Arbeiten selbst soll und kann Befriedigung, ja Erholung stecken: in labore requies.21 Dann ist ein Beruf sinnvoll und nicht bloß zweckhaft, wenn schon im Tun die Freude am Tun selber aufspringt. Dazu zählen – idealtypisch – viele Berufe, die mit Menschen oder mit der Natur zu tun haben: Der Lehrer ebenso wie der Landwirt können ja eigentlich nicht „fertigwerden“; zu solchem Tun gehört Geduld, Wartenkönnen, Wachsenlassen.

Denkt man dies weiter, so ist allerdings für die meisten Arbeiten eine Mischform zwischen Zweck und Sinn gegeben: Selbstverständlich stecken in den alltäglichen Beschäftigungen auch Zwecke und müssen erreicht werden. Doch ist es wichtig, dass „Beruf“, in ganzen Umfang des Wortes verstanden, nicht nur einzelne Zwecke erfüllt, sondern jene innerste Befriedigung gewährt, die allem richtig Getanen und Gewählten innewohnt.

6. Sinnlichkeit und Sinn: Zum Einsatz von Leib und Leben in der Arbeit

Die Arbeitsteiligkeit und Technisierung der Arbeitswelt erfordert heute viele Simulationen. Wer Pilot wird, darf nicht sofort fliegen, sondern muss den Flug in der Simulation üben; wer Zahnarzt wird, darf verständlicherweise nicht sofort am Patienten proben, sondern erst an einem Plastikkopf. Diese „sekundäre“ Welt, die über die wirkliche Welt gespannt wird, ist eine klare Erleichterung für das Leben. Auch die Aufhebung von Raum und Zeit, so im Internet, erleichtert Kommunikation – der Postbote fährt nicht mehr mit dem Schlitten durch die Wälder. Trotzdem ist die Rückseite oder sogar Schattenseite dieser sekundären Welt spürbar: Die Sinnlichkeit der Welt springt nicht mehr an, ihre sapientia, ihr Geschmack, geht verloren; Elektronik schafft einen undurchdringlichen Kokon um den Nutzer. Aber Sinn hängt zutiefst mit Sinnlichkeit zusammen, gerade damit: mit dem erstrangigen Leben, der sinnfälligen Welt, in die jeder leibhaft eingebunden ist.

Leben lässt sich nur in der wirklichen, handgreiflichen und selbst „ergreifenden“ Welt. Im Deutschen hängen Leib-Leben-Liebe in der Wortwurzel lb- zusammen; alle grundlegenden menschlichen Vollzüge, von der Geburt über die Liebe bis zum Sterben vollziehen sich nur wirklich, nicht virtuell, und in der Regel auch nur einmal, so dass sie sich nicht einmal – über die repeat-Taste - üben lassen.

Viele Arbeiten haben heute nur mit der sekundären Welt zu tun, wodurch die handgreifliche Welt, die Welt der Sinne, des Spürens, des naturhaften Rhythmus, des Lebens mit Blühen und Verwelken verblasst. Aber damit verblasst eben Sinn. Heute werden Mediziner ausgebildet, die nie einen Patienten zu Gesicht bekommen, sondern ein Leben lang Analysen im Labor machen. Die Landwirtschaft, das Handwerk, alle Berufe, die mit Menschen in der Ausbildung zu tun haben, haben aber mit der ursprünglichen, begrenzten und wirklichen Welt zu tun: mit dem Gegenstand, ja Widerstand der Dinge und Menschen. Botho Strauß (*1944), in vielem ein Sprecher seiner Generation, legte vor der Jahrtausendwende das Buch Aufstand gegen die sekundäre Welt vor.22 Arbeit, die mit der „wirklichen Welt“ umgeht, hat darin trotz aller Simulationen eine wichtige, sogar unersetzliche Bedeutung für Sinnerfahrung jenseits aller Zwecklichkeit. Sinnlosigkeit ist begründet in Unsinnlichkeit.

7. Zwecklos, aber sinnvoll: die Werke der Muße

„Wir sind unmüßig, um Muße zu haben“:23 Eindeutig ist für Aristoteles das geschäftige Tun das Abgeleitete und Zweitrangige.24 Welches Tun führt in der Lebensspannung zur Muße, zum Lebenssinn – nicht als Widerspruch zur Arbeit, sondern als ihr notwendiges Gegengewicht?

Auf der Linie solcher Sinnfülle liegt beispielhaft das Spiel, als „zweckfreies, sich ausströmendes, von der eigenen Fülle Besitz ergreifendes Leben“.25 Ebenso ist Kunst nicht in erster Linie zweckhaft zu sehen, sondern „um ihrer selbst willen“. Auf eindrucksvolle Weise verknüpfen sich Spiel und Kunstwerk in der Liturgie. Auch sie ist keineswegs „zweckmäßig“ – weder hat sie erzieherische noch absichtlich ästhetische Aufgaben; ihr tiefster Sinn ist einfach „Schau“, theoria, von Gottes Herrlichkeit. Romano Guardini zeigte unnachahmlich, wie die „Zwecklosigkeit“ der Liturgie zum großen Spiel wird, so in dem ungeheuren Bild aus den Gesichten Ezechiels: „Wie sind diese flammenden Cherubin, die ‚gerade vor sich hingingen, wohin der Geist sie trieb … und sich nicht umwendeten im Gehen … hin- und zurückgingen wie das Leuchten des Blitzes … gingen … und standen … und sich vom Boden erhoben … deren Flügelrauschen zu vernehmen war wie das Rauschen vieler Wasser … und die, wenn sie standen, die Flügel wieder sinken ließen …’ – wie sind sie ‚zwecklos’! Wie geradezu entmutigend für einen Eiferer vernünftiger Zweckmäßigkeit!“26

Kein Sollen, nur ein Hören und Schauen im Absichtslosen, keine gewollte „Kreativität“, nur ein großer, in sich selbst sinnvoller Vollzug – daraus wird einsichtig, weshalb gerade der Kult die Stelle des Ursprungs der Kultur, des Theaters, der Kunst ist. „Freiwillige, schenkende Darbietung, gerade nicht Nutzung, just das denkbar äußerste Gegenteil von Nutzung. So entsteht im Mitvollzug des Kultes, einzig von dort her, ein durch die Arbeitswelt nicht aufzuzehrender Vorrat, ein durch das sich drehende Rad des Verschleißes unberührbarer Raum nicht-rechnender Verschwendung, zweckentbundenen Überströmens, wirklichen Reichtums: der Fest-Zeitraum.“27

So lässt sich festhalten: Zwecklos, aber sinnvoll sind die Grundvollzüge des menschlichen Daseins. Manche Religionen wissen von der Freiheit des unerarbeitet sich Einstellenden. Denn gehört es zur biblischen Einsicht, dass Gott die Mühe des Menschen nicht als „Tribut“ in Anspruch nimmt, während im babylonischen Schöpfungsmythos Gilgamesch die Menschen für die Götter Wasser schöpfen müssen, mehr noch: überhaupt zur Erleichterung der Arbeit der Götter geschaffen wurden. Der Psalmist weiß umgekehrt, in preisendem Zuruf: „Du bist mein Gott, denn meiner Hände Werk bedarfst Du nicht.“28

Es lohnt sich, mitten in der zehrenden Arbeit von ferne immer wieder den Saum dieser Erfahrung des großen „Umsonst“ zu berühren: gratis e con amore ist offenbar das Leben verliehen.

Referenzen

  1. vgl. Hörath I., Die sieben Plagen, in: Der Neue Mensch. Wie wir im 21. Jahrhundert leben, leiden und lernen, Friedrich. Forschungsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg, Jg. 38, Nr. 113 (Oktober 2013), S. 50-61
  2. Zitate von Josef Kornhuber, Direktor der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik in Erlangen, ebd., S. 55
  3. vgl. Pieper J., Muße und Kult, München (1947)
  4. Vergil, Georgica / Vom Landbau, lat.-dt. hg. v. Heinrich Naumann, München (1970), 41
  5. ebd., S. 37 ff.
  6. Sophokles, Chorlied aus der Antigone
  7. Gen 4,1-16
  8. Ijob 5,7
  9. Aphorismen II, 4, 83 (unpubliziert; www.kafka.org/index.php?aphorismen)
  10. Friedrich Hölderlin, Der Archipelagus
  11. Koh 11,6
  12. Gen 1,28
  13. ebd.
  14. Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum, zit. nach Schipperges H., Hildegard von Bingen. Ein Zeichen für unsere Zeit, Frankfurt (1981), S. 161
  15. Thomas von Aquin, De virtutibus cardinalibus 1
  16. Nicolaus Cusanus, De coniecturis II, 14, 143
  17. Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie [1796], AA VIII, S. 387-406; hier: S. 390; zit. nach Pieper J., siehe Ref. 3; ebd. die folgenden Zitate
  18. Weil S., Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, übers. v. Friedhelm Kemp, München (1956), S. 18
  19. Weil S., L’expérience ouvrière et l’adieu à la révolution, S. 290; übers. und zit. v. Büchel Sladkovic A., Verborgene Frauenwelten, in: Labyrinth 2 (2000)
  20. Baudelaire C., Intime Tagebücher, Bildnisse und Zeichnungen, München (1920), S. 42
  21. aus dem Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus: „In der Arbeit schenke Ruh“
  22. Strauß B., Aufstand gegen die sekundäre Welt, Hanser Verlag, München (1999)
  23. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 10,7, 1177b
  24. Obwohl gerade die schwäbische Mentalität als dem „Schaffen“ besonders zugeneigt gilt, kennzeichnet sie sprachlich die „Unmuße“ als Unruhe und Abweichung vom Sich-Zukommen-Lassen.
  25. Guardini R., Vom Geist der Liturgie [1918], Freiburg (1983), S. 99
  26. ebd., S. 97 f.
  27. Pieper P., siehe Ref. 3, S. 81
  28. Ps 15,1

Anschrift der Autorin:

em. Univ.-Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
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