Kommentar zum Fall

Imago Hominis (1998); 5(3): 211-212
Martin Schlag

Die rechtliche und auch – obwohl in geringerem Masse – die ethische Analyse eines komplexen Lebenssachverhalts muß abstrahieren und Elemente außerachtlassen, die für eine gesamtmenschliche Sicht, die Gefühle und Emotionen einbezieht, bedeutsam sind.

In diesem – reduktiven – Sinn scheinen mir im vorliegenden Fall vier Probleme moralisch relevant zu sein: die Vornahme einer In-vitro-Fertilisation; das Ansinnen, einen selektiven Fetozid vorzunehmen; Haftungsfragen; die Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht.

Zunächst zur In-vitro-Fertilisation. Im Rahmen einer Fallbesprechung kann dazu freilich nicht umfassend Stellung genommen werden. Es sei lediglich auf einige Aspekte hingewiesen. Gerade die in diesem Fall auftauchenden Argumentationsweisen und Komplikationen sind Gründe für die negative Beurteilung, d.h. die moralische Unzulässigkeit der IVF. Es wurde eine Hormonstimulation vorgenommen, die mehrere Follikel zur Reifung gebracht hat, danach wurden vier Eizellen simultan befruchtet, die in den Uterus transplantiert wurden. Dieser „multiple Transfer“ geschah in der Hoffnung und mit dem Wunsch, daß zwei bis drei dieser vier Embryonen abgehen würden.

In diesem Vorsatz liegt jedoch eine Verdinglichung des einzelnen menschlichen Embryos, die seine Personenwürde verletzt. Der einzelne Embryo aus der Gruppe der vier wird nicht um seiner selbst willen gezeugt und transferiert, sondern als Masse zur Verbesserung der statistischen Erfolgsrate der IVF. Die Willenshaltung oder der Vorsatz bezüglich jedes einzelnen Embryos ist nicht jener der bedingungslosen Bejahung seines Lebens. Bejaht wird nur einer aus mehreren. Der Tod jener Embryonen, die im Normalfall absterben, wird vorsätzlich gutgeheißen. Eine Handlung (Erzeugung und Transfer von Menschen), die von einem solchen Vorsatz strukturiert ist, stellt eine Tötungshandlung dar und ist daher ethisch unzulässig.

Aus dem gleichen Grund ist der selektive Fetozid unzulässig: Es ist nie erlaubt, einen unschuldigen Menschen direkt zu töten. Geschützt ist nicht die Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern der Mensch selbst. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob eine Tötung zur Rettung der anderen nicht ausnahmsweise – etwa als indirekte Tötung – zulässig sein könnte. Der Vorsatz – so könnte man argumentieren – richtet sich ja nicht auf die Tötung eines bestimmten Menschen, sondern darauf, die anderen zu retten: Die Alternative zum selektiven Fetozid ist im Normallfall der Tod aller Föten. Diese Frage ist zu verneinen. Obwohl es manchmal zulässig und sogar geboten sein kann, das eigene Leben hinzugeben, um andere zu retten, wenn dies auf Grund höherer Gewalt unvermeidlich ist, ist es niemals zulässig, sich selbst oder andere zu töten. Man darf für andere „sterben“, aber man darf nicht für andere „töten“. Das Leben ist eine inkommensurable Größe. Es kann nicht mit anderen Leben in Abwägung gebracht werden.

Die Eltern haben daher im vorliegenden Fall insofern richtig gehandelt, als sie eine selektive Abtreibung ablehnen. Die Ärzte dürfen sie nicht für die Komplikationen, auch nicht für den natürlichen Tod zweier Kinder, verantwortlich machen, sondern diese sind Folge eines medizinischen Fehlverhaltens, nämlich einer unzureichenden anfänglichen Aufklärung. Wäre das Ehepaar vorher umfassend informiert worden, hätte es möglicherweise von diesem Eingriff Abstand genommen.

Diese Pflichtverletzung läßt Haftungsfragen entstehen. In den letzten Jahren ist in mehreren Staaten eine „wrongful-birth“-Judikatur aufgekommen, die die Geburt eines Kindes entgegen dem Abtreibungswunsch der Eltern als Schaden klassifiziert. Das Leben selbst, eventuell das behinderte Leben, wird als Schaden eingestuft, für das der Arzt Schadenersatz zu leisten hätte. Dies übt natürlich einen erheblichen Druck auf die Ärzte aus, die Geburt eines solchen Kindes zu verhindern, was möglicherweise auch hier hinter der Abkühlung des Arzt-Patienten Verhältnisses steht. Die „wrongful-birth"-Doktrin ist mit einem richtigen Verständis der Menschenwürde unvereinbar. Das Leben eines Menschen, auch eines behinderten Menschen, stellt nie einen Schaden dar, weil der Mensch nicht Mittel oder Ding ist, mit dem etwas, z.B. das Wohlergehen seiner Eltern, erreicht wird, sondern immer Ziel, Zweck. Sobald eine menschliche Person mit der Empfängnis ins Dasein kommt, tritt mit ihr etwas Unbedingtes, Absolutes in der Gesellschaft auf, das eine unbedingte Bejahung erfordert. Jedes Leben, gerade auch das behinderte, ist eine Bereicherung der Gesellschaft, das ungeplante oder sogar ungewünschte Leben der Härtetest der Humanität einer Gemeinschaft. Im vorliegenden Fall ist mehreres hervorzuheben: Die Ärzte sind zunächst vor „wrongful-birth“ Klagen zu schützen: Das Verlangen nach Tötung eines ungeborenen Kindes ist eine Ungeheuerlichkeit, die jeder Arzt unbehelligt zurückweisen muß und darf. Andererseits aber ist der Arzt für jene Verletzungen des Fötus haftbar, die er durch rechtswidriges Handeln bewußt verursacht. Dies ist hier der Fall. Den Ärzten war es durchaus zumutbar, die Komplikationen vorauszusehen. Tatsächlich raten sie zum selektiven Fetozid aufgrund dieser vorhergesehenen Schädigungen. Dieser Haftung können sie sich wiederum nicht durch die Tötung der Föten entziehen.

Nicht immer sind Folgekomplikationen Zeichen eines ursprünglich unmoralischen Verhaltens. Oft jedoch schon. In diesem Fall durchaus.

Anschrift des Autors:

Dr. iur. Dr. theol. Martin Schlag
Università Pontificia della Santa Croce
Piazza dei Sant'Appolinare 49
I-00186 Roma

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: