Gesetzesvorstoß gegen die „Kind als Schaden-Rechtsprechung“ des OGH

Imago Hominis (2007); 14(3): 227-242
Thomas Piskernigg

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit dem Gesetzesvorstoß von FPÖ-Abgeordneten auseinander, welcher die „Kind als Schaden-Rechtsprechung" des Obersten Gerichtshofes auf legistischem Wege korrigieren möchte. Die Rahmenbedingungen dieser Initiative in Recht und Rechtsprechung, auch auf internationaler Ebene, werden ausführlich analysiert. Der freiheitliche Vorschlag findet im wesentlichen nachdrückliche Zustimmung. Soweit sich Korrektur- bzw. Ergänzungsbedarf ergibt, werden konkrete Umsetzungsvorschläge gemacht.

Schlüsselwörter: wrongful birth, Schadenersatzanspruch, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Recht auf Abtreibung

Abstract

This paper deals with a legal initiative taken by the Austrian Freedom Party (Freiheitliche Partei Österreichs, FPÖ) in the context of the wrongful birth-discussion which aims to correct the case law of the Austrian Supreme Court for civil and penal law (Oberster Gerichtshof). The (also international) regulatory framework of the initiative is discussed. In general, the FPÖ-proposition finds the approval of the author. Insofar as the author sees a need of amendment, he makes concrete proposals.

Keywords: wrongful birth, right to claim for damages, European Court of Human Rights, right to abort


I. Der Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Fichtenbauer u. a. Nr. 46/A (XXIII. Gesetzgebungsperiode) vom 29. 11. 2006

1. Die Vorgeschichte

Schon viele haben es unternommen, über die „Kind als Schaden-Judikatur“ des OGH zu schreiben1. Von Anfang an wurden Forderungen laut, diese Judikatur gesetzlich zu korrigieren2. Konkrete gesetzliche Initiativen wurden von der Politik – genauer: von der Koalition zwischen der ÖVP und der (seinerzeitigen) FPÖ – allerdings nicht gesetzt. Dies ist umso erstaunlicher, als eine gesetzliche Korrektur der OGH-Entscheidung ohne Veränderung des Abtreibungsstrafrechts erfolgen hätte können, wie das Beispiel Frankreichs eindrucksvoll zeigt: Das Gesetz 2002-303 vom 04. 03. 20023 über „Patientenrechte und die Qualität des Gesundheitsdienstes“ (hier wie auch im folgenden eigene Übersetzung), kundgemacht am 05. 03. 2002, enthält als entscheidende Passage folgenden Satz: „Niemand kann aus dem bloßen Faktum seiner oder ihrer Geburt einen Schadenersatzanspruch ableiten.“

Angesichts der vielen bereits vorliegenden Kommentare zur Judikatur des OGH möchte ich hier nicht näher auf die einzelnen Entscheidungen eingehen. Nur einige Bemerkungen zum Urteil 6 Ob 101/06f vom 14. 09. 2006 seien mir gestattet. Diese Entscheidung war die bisher einzige, in der es der OGH als angemessen erachtete, die wissenschaftlichen Reaktionen auf seine Vorjudikatur ernsthaft zu reflektieren; sie ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert.

Vom Standpunkt des Lebensschutzes aus ist zunächst positiv hervorzuheben, dass der OGH die Rechtswidrigkeit der Abtreibung „außerhalb der Indikationsfälle des § 97 Z 1 StGB“4 festgestellt hat. Bei der Bezugnahme auf „§ 97 Z 1 StGB“ handelt es sich offensichtlich um ein Versehen, weil § 97 (1) Z 1 StGB die sogenannte „Fristenlösung“ beinhaltet und gerade nicht die in Z 2 und 3 leg. cit. enthaltenen Indikationsfälle. Der OGH wollte wohl – und zwar verdienstvollerweise5 – die Rechtswidrigkeit von Abtreibungen im Rahmen der „Fristenlösung“ feststellen. Umso interessanter wäre es gewesen zu erfahren, welchen Indikationsfällen er tatsächlich Rechtfertigungswirkung zugesteht – nur der medizinisch-vitalen6 im Sinne des § 97 (1) Z 3 StGB oder auch den untereinander höchst verschiedenen in Z 2 leg. cit.?

Positiv ist zu werten, dass sich der OGH hier im wesentlichen der Auffassung F. Bydlinskis angeschlossen hat, dergemäß wegen der problematischen Reflexwirkung auf die Würde des Kindes der für ein Kind zu leistende Unterhalt nur dann als Schaden im Sinne der §§ 1293 ff. ABGB angesehen werden könne, wenn der Kindesunterhalt eine „außergewöhnliche Belastung“ darstelle7. Der Auffassung, die Beurteilung des Kindesunterhalts als Schaden berühre den personalen Eigenwert des Kindes nicht, weil diese Sphären „sauber“ zu trennen seien8, wird somit in überzeugender Weise eine Absage erteilt.

Zu betonen ist, dass diese Lösung F. Bydlinskis nicht für die Fälle unterbliebener Abtreibung gilt, die der Autor nachdrücklich als in den meisten Fällen rechtswidrig charakterisiert und die insoweit abweichende Auffassung des OGH in 1 Ob 91/99k zutreffend als rechtsdogmatisch nicht begründbares Zugeständnis an ein „allgemein abtreibungsfreund-liche[s] Meinungsklima“ entlarvt9. Die scharfsinnige Kritik an der „Kind als Schaden-Judikatur“ von J. Cornides10 trifft m. E. voll (nur) auf die Abtreibungsfälle zu. Soweit freilich bloß Fälle von etwa aufgrund des Fehlverhaltens von Arzt oder Apotheker misslungener Sterilisation oder Empfängnisverhütung11 betroffen sind, erscheint mir die Position des OGH nach wie vor zumindest vertretbar12. Klarzustellen hätte der OGH freilich noch seine in diesem Urteil zumindest missverständliche Position zu der Frage, ob auch der Unterhalt für ein gesundes Kind eine „außergewöhnliche Belastung“ darstellen könne13.

2. Inhalt und Begründung der FPÖ-Gesetzesinitiative

Mit dem gegenständlichen Antrag würde der § 22 ABGB um einen Absatz 2 ergänzt, sodass er nunmehr lauten würde:

„(1) Selbst ungeborne Kinder haben von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze. Insoweit es um ihre und nicht um die Rechte eines Dritten zu tun ist, werden sie als Geborne angesehen; ein totgebornes Kind aber wird in Rücksicht auf die ihm für den Lebensfall vorbehaltenen Rechte so betrachtet, als wäre es nie empfangen worden.

(2 [neu]) Aus der Tatsache der Geburt eines Menschen ist ein Anspruch auf Schadenersatz ausgeschlossen. Titel und Ansprüche jedweder Art, die bei Kundmachung dieses Gesetzes bestehen und die sich auf die Tatsache der Geburt eines Menschen gründen, sind hiermit erloschen.“

Die Begründung dieses Entwurfs kritisiert v. a. die von der „Kind als Schaden-Rechtsprechung“ nahegelegte Differenzierung zwischen behinderten und gesunden ungeborenen Kindern. Es bestehe die Gefahr, dass durch diese Rechtsprechung die Kategorie des „lebensunwerten Lebens“ (wieder) etabliert werde. Dies liege völlig abseits des ethischen Grundkonsenses unseres Gemeinwesens.14

Weiters werde diese Rechtsprechung dazu führen, dass „die Ärzte aus Selbstschutz möglicherweise eine Beratung entfalten, die im Zweifel für die Abtreibung und nicht im Zweifel gegen die Abtreibung gerichtet ist.“15

Diesen Gefahren könne nur begegnet werden, „wenn schadenersatzrechtliche Ansprüche, die sich auf die Tatsache der Geburt eines Menschen beziehen, prinzipiell ausgeschlossen sind. Genau auf diese Formulierung kommt es an, um legistisch Klarheit zu schaffen, dass sonstige allfällige Ansprüche, die im Zusammenhang mit der Geburt entspringen können, nicht berührt werden, wie etwa bei fehlerhafter ärztlicher Handlungsweise im Geburtshilfebereich.

Auch wird das sonst bestehende Recht des Schwangerschaftsabbruches und der medizinischen Indikation in keiner Weise berührt. Ebensowenig wird in das Recht auf Unterhalt eingegriffen.“16

3. Parlamentarische Reaktionen

In der 11. Sitzung des Nationalrates in der laufenden Gesetzgebungsperiode am 30. 01. 2007 erfolgte die erste Diskussion dieses Antrages im Plenum17. Die Reaktionen waren durchwegs kritisch, wobei im wesentlichen folgende Bedenken vorgebracht wurden:

Der Inhalt des Antrages sei noch „reichlich unausgegoren“, seine Verwirklichung brächte „eine Verschlechterung der rechtlichen und vor allem tatsächlichen Position von behindert geborenen Kindern und deren Eltern“ mit sich. Die „Symbolik dieses Antrages“ richte „sich gegen die Freiheit der Frau – und das ist ein Grundrecht auch im Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention –, sich zu entscheiden, eine Schwangerschaft auszutragen oder sie zu unterbrechen.“ Der vorliegende Antrag weise „in die falsche Richtung, weil dies dann in Wirklichkeit letztlich die Aufklärungspflicht des Arztes und der Behandlungseinrichtungen minimieren würde und auch die Notwendigkeit einer Haftung eines Arztes für seine Behandlungstätigkeit quasi vom Tisch wischen würde.“ Der Antrag verneine die Haftung selbst dort, wo bei rechtzeitiger Entdeckung von Anomalien das Kind schon im Mutterleib erfolgreich behandelt werden könne. Die Rückwirkung auch auf bereits bestehende Titel sei verfassungswidrig. In sozialer Hinsicht schütte der ggst. Antrag „ein Kind mit dem Bade" aus und lasse keine Diskussion zu, „die sicherstellt, dass Menschen mit Behinderungen und auch ihre Eltern gesetzliche Grundlagen erhalten, die es ihnen möglich machen, den behinderungsbedingten Mehraufwand finanziell abgegolten zu bekommen, um damit wirklich Chancengleichheit mit nicht behinderten Menschen in unserer Gesellschaft zu erlangen.“

Immerhin wurde die Problematik der „Kind als Schaden-Judikatur" grundsätzlich eingestanden und deren „erschreckende" Wirkung betont. Die Judikatur des OGH habe „zu einer großen Unsicherheit innerhalb der ärztlichen Kollegenschaft geführt“. Menschliches Leben könne niemals ein Schaden sein; diese Feststellung entspreche „dem Menschenbild unserer Gesinnungsgemeinschaft.“ Der Antrag sei insofern positiv, als man gegen Tendenzen „einer Defensiv- und Absicherungsmedizin“ vorgehen müsse.

Eine Würdigung dieser parlamentarischen Reaktionen erfolgt unten bei Punkt III.

II. Die FPÖ-Initiative im Spiegel der Grundrechtsjudikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)

1. Die Entscheidungen des EGMR Draon v. France, appl. nr. 1513/03 und Maurice v. France, appl. nr. 11810/03

Beiden Fällen, welche vom EGMR mit i. w. gleicher Begründung entschieden wurden, ist gemeinsam, dass aufgrund einer fehlerhaften Diagnose eine Behinderung der ungeborenen Kinder der Kläger vor dem EGMR nicht entdeckt wurde und somit deren Abtreibung nicht erfolgte. Daher verfolgten die Kläger zunächst Schadenersatzansprüche für den Unterhalt ihrer überlebenden Kinder vor französischen Gerichten, was angesichts der mit der österreichischen „Kind als Schaden-Rechtsprechung“ vergleichbaren französischen Judikatur durchaus erfolgversprechend war. Die diagnostische Fehlleistung, auf die sich die Kläger vor den französischen Gerichten stützten, war vor der gesetzlichen Einschränkung dieser Judikatur im Jahre 2002 erfolgt. Während des laufenden (teilweisen erfolgreichen) Verfahrens in Frankreich trat die erwähnte Gesetzesänderung in Kraft, sodass die Kläger die geltendgemachten Ansprüche letztlich doch nicht durchsetzen konnten. Daher wandten sie sich an den EGMR.

Der EGMR hatte zunächst zu klären, ob es sich bei dem von den Klägern vor französischen Gerichten erhobenen Schadenersatzanspruch um „Eigentum“ im Sinne des Artikels 1 1. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1. ZPEMRK) handle18. Dabei stellte er fest, dass nicht nur Eigentumsrechte i. e. S. von dieser Bestimmung erfasst seien, sondern „in gewissen wohldefinierten Situationen“ auch Forderungen. Nach der bisherigen Judikatur mussten Forderungen freilich vollstreckbar sein, um unter die Eigentumsgarantie zu fallen19.

Im Fall Draon v. France hatte das betroffene Spital gegenüber den Klägern explizit und unbedingt die Haftung dem Grunde nach anerkannt, nur die Höhe war im Verfahren strittig20. Der Anspruch der Kläger fiel somit gemäß der Judikatur des EGMR unter dem Schutz der grundrechtlichen Eigentumsgarantie, was auch von Frankreich im EGMR-Verfahren nicht bestritten wurde.

Im Fall Maurice v. France stand auf Basis des innerstaatlichen (französischen) Verfahrens hingegen nur fest, dass eine Verwechslung von Befunden passiert war; die Kausalität zwischen diesem Fehler und dem entstandenen Schaden war aber strittig, sodass nach Ansicht Frankreichs nicht von einem ausreichend verfestigten Anspruch im Sinne der bisherigen EGMR-Judikatur die Rede sein konnte21. Der EGMR beurteilte diese Frage jedoch anders und schloss aus den ihm bekannten Umständen, dass auf Basis der – vor der Gesetzesänderung – gesicherten Judikatur französischer Gerichte eine Haftung zu bejahen gewesen wäre, sodass sehr wohl ein Anspruch i. S. d. Artikel 1 1. ZPEMRK vorliege22.

Während man die Beurteilung des EGMR im Fall Draon v. France angesichts der Anerkennung des Haftungsanspruchs durch das Spital dem Grunde nach noch in die bisherige Judikatur des EGMR einordnen kann, geht Maurice v. France – in dem immerhin die Kausalität zwischen Fehlverhalten und Schaden strittig war – doch über die bisherigen Grundsätze des EGMR hinaus, in denen ein vollstreckbarer oder vergleichbar gesicherter Anspruch gefordert wurde. Da die Kausalitätsfrage wesentlich von in einem ordentlichen Beweisverfahren zu klärende Tatsachen abhängt, erscheint es zumindest bemerkenswert, dass der Gerichtshof diese im vorangegangenen innerstaatlichen Verfahren offenbar strittige Frage nur aufgrund der Aktenlage und von Statements des Klage- und Beklagtenvertreters ohne nähere Tatsachenermittlungen23 beurteilt hat24.

Nach dieser Vorentscheidung hatte der EGMR noch zu prüfen, ob der durch die Gesetzesänderung bedingte Eingriff in das Eigentumsrecht im öffentlichen Interesse und verhältnismäßig war.

Zur Frage des öffentlichen Interesses hielt der EGMR fest, dass hier ein großer Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers bestehe25. Er betonte, dass die vom französischen Gesetzgeber ins Treffen geführten (insbesondere ethischen) Gründe für diese Gesetzgebung als grundsätzlich taugliches öffentliches Interesse anzuerkennen seien26.

In bezug auf die Frage der Verhältnismäßigkeit nahm der EGMR Bezug auf seine Vorjudikatur, der gemäß die Wegnahme von „Eigentum“ (im weiten Sinne der EGMR- Rechtssprechung) ohne eine angemessene Entschädigung normalerweise einen unverhältnismäßigen Eingriff bedeute und ein völlig entschädigungsloser Eingriff nur unter ganz speziellen Umständen gerechtfertigt werden könne. Im konkreten Fall seien die von der französischen Gesetzgebung als Ersatz etablierten sozialrechtlichen Ansprüche nicht hoch genug, um eine angemessene Entschädigung zu bieten. Die für die Gesetzgebung ins Treffen geführten Gründe rechtfertigen nicht einen rückwirkenden Eingriff in das Eigentumsrecht.

Der EGMR lehnte es darüber hinaus als unnötig ab, die ggst. Problematik unter dem Gesichtspunkt der Artikel 14 (Verbot der Diskriminierung) EMRK in Verbindung mit 1 1. ZPEMRK und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK gesondert zu erörtern27. Auch das Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Artikel 13 EMRK sei nicht verletzt, weil aus Artikel 13 nicht geschlossen werden könne, dass der Staat eine Möglichkeit etablieren müsste, nationale Gesetze vor einer nationalen Institution anzufechten28.

Ausführlicher befasste sich der EGMR daraufhin mit der Frage, ob eine Verletzung des Artikels 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) vorliege29. Dazu stellte er unter Bezugnahme auf Vorjudikatur fest, dass Artikel 8 primär das Individuum vor willkürlichen Eingriffen öffentlicher Autoritäten schützen solle; zusätzlich könne es positive Verpflichtungen geben, welche einem effektiven Respekt des Familienlebens inhärent seien. Diesbezüglich bestehe wiederum ein weiter Ermessensspielraum. Jedenfalls müsse der Staat in einer Weise agieren, die es erlaube, dass „sich die Bande zwischen nahen Verwandten normal entwickeln“30. Weiters hielt der Gerichtshof fest: „Zugleich ruft das Gericht die grundlegend subsidiäre Rolle der Konvention in Erinnerung. Die nationalen Autoritäten haben eine direkte demokratische Legitimation und sind […] in einer besseren Position als ein internationaler Gerichtshof, um die lokalen Bedürfnisse und Umstände zu evaluieren“31.

In diesem Sinne hätte der französische Gesetzgeber eine tragbare Lösung getroffen, wenn er nach ausführlicher öffentlicher Diskussion entschieden habe, dass die Kosten für die Pflege behinderter Kinder nicht im Haftungswege, sondern im Rahmen nationaler Solidarität getragen werden sollen. Daher sei keine Verletzung des Artikels 8 EMRK festzustellen32.

2. Das Urteil Tysiac v. Poland, appl. nr. 5410/03

Zunächst zum Hintergrund der Entscheidung: Die stark sehbehinderte Klägerin war zum dritten Mal schwanger und wollte ihr Kind abtreiben lassen, weil sie aufgrund der Schwangerschaft bzw. Geburt eine weitere Verschlechterung ihrer Sehkraft befürchtete. Sie ließ sich von drei Augenärzten untersuchen, die freilich keine hinreichende Wahrscheinlichkeit der negativen Auswirkungen der Schwangerschaft feststellen konnten, um der Klägerin eine ärztliche Bestätigung für eine nach polnischem Recht legale Abtreibung ausstellen zu können33. Daraufhin suchte die Klägerin einen Arzt für Allgemeinmedizin auf, der feststellte, die dritte Schwangerschaft sei ein Risiko für die Gesundheit der Klägerin, weil sie angesichts der vorangegangenen beiden Kaiserschnittgeburten einen Riss im Uterus nach sich ziehen könnte. Ihre Augenkrankheit mache es weiters erforderlich, sich keinen physischen Anstrengungen auszusetzen.

Nunmehr meinte die Klägerin, eine legale Abtreibung durchführen lassen zu können und begab sich in eine gynäkologische Klinik. Dort wurde sie von Fachärzten untersucht, und diese fanden wiederum keinen Grund, der Klägerin eine legale Abtreibung zu ermöglichen. Ihr wurde sogar gesagt, sie könne mit Kaiserschnitt problemlos acht Kinder bekommen.

Nach der Kaiserschnittgeburt ihres dritten Kindes verschlechterte sich ihr Augenlicht weiter. Daher erstattete sie Strafanzeige gegen den Klinik-arzt, der ihr die Abtreibung letztlich verweigert hatte. Weder die in mehreren Instanzen geprüfte Strafanzeige noch ein Disziplinarverfahren gegen den Arzt brachte ein ärztliches Fehlverhalten zutage. Vielmehr wurde in allen Instanzen festgestellt, dass die Verschlechterung der Sehkraft der Klägerin mit oder ohne die letzte Schwangerschaft bzw. Geburt eingetreten wäre.

Angesichts dieser Vorgeschichte hätte man meinen können, die Klage vor dem EGMR wäre aussichtslos gewesen, weil sich das polnische System auch in der mehrfachen straf- und disziplinarrechtlichen Nachprüfung als taugliches Instrument erwiesen hatte, eine medizinisch richtige Entscheidung zu ermöglichen. Damit hätte man freilich die Rechnung ohne den EGMR (und die mitinvolvierten internationalen Abtreibungslobbyisten34) gemacht.

Immerhin anerkannte der EGMR, dass hier keine Verletzung des Artikels 3 EMRK (Verbot der Folter) stattgefunden habe35 und dass keine gesonderte Erörterung des ggst. Falles unter den Artikeln 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 14 (Verbot der Diskriminierung) erforderlich sei36. Dafür entfaltete er aber im Zusammenhang mit Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) eine umso erstaunlichere Argumentation.

Nach allgemeinen Ausführungen zur Interpretation des Artikels 8 EMRK37 betonte der Gerichtshof die positive Verpflichtung des Staates, bei der Etablierung von Regelungen der therapeutischen Abtreibung die physische und psychische Integrität werdender Mütter zu schützen38. Artikel 8 enthalte zwar keine expliziten prozeduralen Maßstäbe, die Garantien der EMRK zielen aber ganz allgemein nicht auf Rechte ab, die theoretisch oder illusionär wären; vielmehr müsse der relevante Entscheidungsprozess (hier: medizinisch indizierte Abtreibung – ja oder nein?) fair sein und insbesondere dem Patienten eine Position verleihen, die es ihm ermögliche, gehört zu werden und seine Interessen wirksam vertreten zu können39.

Nach Ansicht der „Polish Federation for Women and Family Planning“40 schrecke die polnische Abtreibungsgesetzgebung Ärzte davon ab, eine Abtreibung im Einklang mit den Gesetzen zu genehmigen. Auch der Bericht des Komitees für die Überwachung der Einhaltung des Internationalen UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte habe Polen eine zu restriktive Abtreibungsgesetzgebung vorgehalten. Der Gerichtshof schloss sich dieser Einschätzung an: Wenn ein Staat Abtreibung schon unter gewissen Umständen erlaube, dann dürfe er die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht so gestalten, dass sie den realen Abtreibungszugang beschränken41. Jedenfalls müsse die Stelle, die über den Abtreibungszugang entscheide, ein Verfahren gewährleisten, das die Auffassungen der Schwangeren berücksichtige, wobei die Entscheidungsgründe schriftlich festzuhalten seien. Dies alles müsse rasch geschehen, damit eine Abtreibung allenfalls noch rechtzeitig durchgeführt werden könne; eine bloße nachträgliche Entschädigung reiche nicht aus, ebensowenig die Möglichkeit der nachträglichen straf- bzw. disziplinarrechtlichen Verfolgung eines allenfalls unkorrekt handelnden Arztes42.

Die Schlussfolgerungen auf den konkreten Fall sind nun wahrhaft atemberaubend: Zunächst betont das Gericht noch, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Expertise der involvierten Ärzte hinsichtlich des Einflusses der Schwangerschaft auf das Augenlicht der Klägerin in Frage zu stellen. Es reiche aber aus, dass die Besorgnisse der Klägerin über die Auswirkungen der Schwangerschaft „nicht irrational genannt werden können“43. Nach polnischem Recht setze eine rechtmäßige Abtreibung übereinstimmende Voten zweier Ärzte voraus44, die nicht mit dem abtreibenden Arzt identisch sein dürfen. Darin unterscheide sich die Regelung noch nicht substantiell von anderen Rechtsordnungen. Die Durchführungsbestimmungen differenzieren jedoch nicht zwischen Situationen, in denen die Schwangere mit dem (medizinischen!) Urteil der Ärzte übereinstimme und solchen, in denen dies nicht der Fall sei (oder die Ärzte selbst uneinig seien); für den letzteren Fall enthalten die Bestimmungen keine ausreichende Regelungen: Es sei zwar für den Arzt möglich, eine Zweitmeinung einzuholen, ein prozedurales Recht der Schwangeren, verbindlich eine Zweitmeinung zu verlangen oder die Meinung zu bekämpfen, sei jedoch nicht vorgesehen. Dies alles habe für die Klägerin eine Situation „prolongierter Unsicherheit“ geschaffen. Daraus resultiere eine Verletzung des Artikels 8 EMRK45.

Man fragt sich nun: Was hat die Klägerin daran gehindert, sich an andere Ärzte zu wenden, wenn ihr die drei augenfachärztlichen bzw. die gynäkologischen und endokrinologischen Expertisen, die übereinstimmend das Vorliegen einer medizinischen Indikation verneinten, noch immer nicht genügten? Der polnischen Rechtslage in der vom EGMR referierten Form ist jedenfalls keine Bestimmung zu entnehmen, die eine „Quasi-Rechtskraft“ der Verneinung der medizinischen Indikation durch einen bestimmten Arzt normieren würde. Eine Formalisierung des Verfahrens zur Zulassung einer medizinischen Indikation würde wohl eher eine Verlangsamung und Verkomplizierung der Entscheidungsprozesse mit sich bringen.

Das vorliegende Urteil ist m. E. daher sachlich völlig unverständlich und gründet sich auf bloßen subjektiven Befürchtungen der Klägerin, wie der Gerichtshof selbst einräumt46. Diese Befürchtungen wurden aber, was der EGMR nicht bezweifelte, durch sämtliche medizinischen Instanzen sowohl ex ante als auch ex post objektiv widerlegt. Es wurde, wie gesagt, stattdessen festgestellt und vom EGMR auch nicht angezweifelt, dass keinerlei nachweisbare Kausalität zwischen der Schwangerschaft bzw. Geburt und der Verschlechterung der Sehkraft der Klägerin nachweisbar sei. Letztlich bleibt unklar, was der EGMR auf welchem Wege erreichen möchte. Eigene Spekulationen über die Intentionen des Gerichtshofes und seiner weltweit vernetzten Gefolgsleute (oder VordenkerInnen?) unterlasse ich hier bewusst – zumindest ist das Urteil eine bloße Kammerentscheidung und war im Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages noch nicht rechtskräftig –, sondern lasse das abweichende Votum des Richters Borrego Borrego sprechen47:

„Ich denke, dass die Gerichtsentscheidung in diesem Fall ‚Abtreibung auf Verlangen’ favorisiert. […]

14. Ich merke höflich an, dass es nicht die Aufgabe des Gerichts ist, solche Statements abzugeben. Ich bedauere, das sagen zu müssen.

Es ist wahr, dass hier eine Kontroverse besteht. Einerseits haben wir das polnische Recht, die einhellige Meinung von medizinischen Experten und den bestätigten Mangel an einer Kausalverbindung zwischen der Geburt und der Verschlechterung des Augenlichts der Klägerin. Andererseits haben wir die Ängste der Klägerin.

Wie hat die Vertragspartei [gemeint: der Staat Polen] diese Kontroverse gelöst? In Übereinstimmung mit heimischem Recht. Aber das Gericht entschied, dass dies keine angemessene Lösung war, und dass der Staat seine positive Verpflichtung, die Klägerin zu schützen, nicht erfüllt hat. Schutz in Einklang mit heimischem Recht und medizinischer Expertise? Nach Auffassung des Gerichts hätte der Staat die Klägerin entgegen dem heimischen Recht und medizinischem Sachverstand schützen sollen, weil sie sich gefürchtet hat. Und das Urteil, allein auf Basis der Ängste der Klägerin, schloss daraus, dass eine Verletzung der Konvention erfolgt sei.

15. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Heute hat der Gerichtshof entschieden, daß ein Mensch geboren wurde als Ergebnis einer Verletzung der EMRK. Diesen Erwägungen gemäß gibt es hier ein polnisches Kind, gegenwärtig sechs Jahre alt, dessen Recht geboren zu werden der Konvention widerspricht.

Ich hätte niemals gedacht, dass die Konvention so weit gehen würde, und ich finde es erschreckend.“

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

3. Weitere relevante aktuelle Urteile des EGMR

Entgegen dem tatsächlich erschreckenden zuletzt dargestellten Urteil hat der EGMR im Fall D. against Ireland (appl. nr. 26499/02, mittlerweile rechtskräftig) vom 06. 09. 2005 entschieden, dass die Beschwerde gegen das vermeintliche Verbot einer Abtreibung unter Berufung auf die embryopathische Indikation nach irischem Recht mangels Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges unzulässig sei48. In diesem Urteil nahm das Gericht Bezug auf die irische Rechtslage, dergemäß das Lebensrecht der Mutter den gleichen Rang wie das des Kindes einnehme, sodass nach irischer höchstgerichtlicher Rechtsprechung nur im Falle der vitalen Indikation eine Abtreibung zulässig sei; der EGMR hat diese Rechtslage per se nicht als konventionswidrig beurteilt. Der EGMR deutete allerdings an, dass er ein Abtreibungsverbot dann als konventionswidrig ansehen könnte, wenn eine Schwangerschaft zwar für die Mutter nicht lebensbedrohlich, das Kind aber nach der regulären Geburt nicht lebensfähig wäre49; seiner Ansicht nach wäre eine Ausnahme vom Abtreibungsverbot in diesem Fall auch unter der – wie gesagt, vom Gerichtshof grundsätzlich nicht angefochtenen – Prämisse der Gleichrangigkeit des Lebensrechts von Mutter und Kind nach irischem Recht möglich gewesen50.

Im Fall Evans v. UK (appl. nr. 6339/05)51 vom 10. 04. 2007 ging es um eine Frau, die bei aufrechter Lebensgemeinschaft im Wissen, dass sie in Zukunft unfruchtbar sein werde, mit (jederzeit widerruflichem) Einverständnis ihres Partners eine künstliche Befruchtung durchführen hatte lassen. Trotz Beendigung der Lebensgemeinschaft wollte sich die Frau die Embryonen schließlich einpflanzen lassen, wobei jedoch der Mann sein Einverständnis zurückgezogen und die Zerstörung der Embryonen angeordnet hatte52. Der Schwerpunkt der Entscheidung der Großen Kammer lag auf der Erörterung, ob im Rahmen des Artikels 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) das Interesse der Frau, ihre letzte Chance auf ein genetisch verwandtes Kind zu wahren, oder das des Mannes, kein genetisch verwandtes Kind von eben dieser Frau zu haben, höher zu bewerten sei. Das Gericht zeigte zwar Verständnis für die besondere Situation der Frau, stellte aber bei der Interessensabwägung das Fehlen eines europäischen Konsenses in dieser Frage fest und sah mehrheitlich53 die die Interessen des Mannes bevorzugende Abwägung des britischen Rechts als im Einklang mit dem Artikel 8 EMRK stehend an. In der Frage, ob Artikel 2 EMRK auf Embryonen anwendbar sei, hielt die Große Kammer54 im Einklang mit der Kammer55 unter Bezugnahme auf die Vorentscheidung Vo v. France (appl. nr. 53924/00) fest, dass mangels europäischen Konsenses der nationale Gesetzgeber hier einen großen Entscheidungsspielraum habe. Dem Embryo komme kein Recht auf Leben im Sinne des Artikels 2 EMRK zu. Daher liege in der Entscheidung des britischen Rechts, dem Embryo kein eigenständiges Recht auf Leben zu geben, keine Verletzung der Konvention56.

Die Berufung des Gerichtshofes auf die Vorentscheidung Vo. v. France ist freilich unzutreffend. In Vo v. France hat sich der EGMR mangels „europäischen Konsenses“ in der Frage der Anwendbarkeit des Artikels 2 EMRK auf ungeborene Kinder nämlich gerade nicht festgelegt, sondern diese Frage explizit offengelassen und es sogar als nicht wünschenswert bezeichnet, sie abstrakt zu beantworten57. Im Fall Evans v. UK scheint der EGMR daher eine Art „Rechtsfortbildung durch ungenaue Bezugnahme auf die Vorjudikatur“ zu pflegen; ein solches Verfahren entspricht allerdings nicht dem anerkannten Kanon der Auslegungsmethoden und kann dem Gerichtshof daher weder im Ergebnis noch in der Begründungsweise zum Ansehen gereichen.

III. Schlussfolgerungen für die Beurteilung des vorliegenden Gesetzesantrages

1. Gibt es ein „Recht auf Abtreibung“ in Österreich?

Trotz der nach Ansicht eines beteiligten Richters teilweise „erschreckenden“ (eine Einschätzung, der ich mich nachdrücklich anschließe) Judikatur des EGMR kann man es nicht oft genug betonen: Es gibt kein Recht auf Abtreibung in Österreich; dies hat die Volksanwaltschaft (VA) gerade kürzlich wieder unmissverständlich festgestellt58. Selbst im Fall Tysiac v. Poland hat der EGMR keine generelle Verpflichtung des Staates festgehalten, ein allgemeines Recht auf Abtreibung zu etablieren. Vielmehr hat er im Fall D. against Ireland sogar eine Rechtslage, die ein gleiches Lebensrecht von Mutter und ungeborenem Kind anerkennt, nicht beanstandet. Eine solche Gleichstellung, die im übrigen zumindest im rechtsethischen Grenzbereich der medizinisch-vitalen Indikation durchaus einen gewissen Ermessensspielraum bietet, nimmt nach der richtigen Auffassung der VA59 auch § 22 ABGB vor60. Wenn nach der Judikatur des EGMR mangels „europäischen Konsenses“ schon ein so großer „Ermessensspielraum nach unten“ (vgl. Evans v. UK) besteht, so gibt es einen solchen auch nach „oben“ (vgl. D. against Ireland), sodass die österreichische Rechtslage insoweit nicht zu beanstanden ist.

Grundrechtliche Bedenken gegen die vorliegende Initiative auf Basis eines angeblichen „Entscheidungsrechts“ der Schwangeren, wie sie in der ersten parlamentarischen Diskussion des ggst. Antrages61 bisweilen artikuliert wurden, wären daher selbst dann unangebracht, wenn eine Änderung der Rechtslage betreffend die Straflosigkeit der Abtreibung im Rahmen der eugenischen Indikation intendiert wäre62. Tatsächlich greift der aktuelle Vorstoß dieses heikle Thema ohnehin nicht auf.

Nicht zu leugnen sind aber auch die – am demokratischen Willensbildungsprozess in den einzelnen betroffenen Staaten vorbeigehenden – Bestrebungen auf internationaler Ebene, so insbesondere im „Soft Law“-Bereich und auf seiten von gewissen NGOs63 oder gar „EU-Expertennetzwerken“64, ein „Recht auf Abtreibung“ gleichsam „herbeizureden“. M. E. sollte die österreichische Außen- und EU-Politik diesen Versuchen, etablierte und bewährte nationale Vorschriften – wie gesagt ohne demokratische Legitimation – zu unterhöhlen oder gar ganz abzuschaffen, größere Aufmerksamkeit und v. a. entschiedeneren Widerstand entgegenbringen.

2. Die Initiative im Lichte von Draon und Maurice v. France

Eindeutig kann man auf Basis dieser Urteile sagen, dass die in Satz 2 des durch die Initiative neu einzuführenden § 22 (2) ABGB normierte Rückwirkung der Eigentumsfreiheitsgarantie des Artikel 1 1. ZPEMRK widerspricht, wie sie vom EGMR ausgelegt wird; insofern sind die in der ersten parlamentarischen Diskussion angemeldeten Bedenken zutreffend. Man sollte diesen Satz daher streichen. M. E. würde die positive und lebensbejahende Tendenz des Gesetzesvorschlages dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt.

Der EGMR hat in den letztgenannten Urteilen explizit den großen Ermessensspielraum der Einzelstaaten betont, Menschen mit Behinderungen auf dem Wege des Sozial- und nicht des Schadenersatzrechts zu helfen. Ein nicht näher präzisiertes Mindestmaß an sozialer Absicherung als Ersatz für Schadenersatzansprüche scheint er aber bei der Akzeptanz der Abschaffung der „Schadenersatzlösung“ vorauszusetzen, wobei ihm die französische Lösung als angemessen erscheint65; diese bietet m. E. wertvolle Anhaltspunkte für die Überprüfung und allfällige Anpassung der österreichischen Rechtslage. Nähere Ausführungen dazu müssen mangels tiefergehender sozialrechtlicher Expertise des Autors hier unterbleiben.

Auch in der Formulierung der engeren zivilrechtlichen Materie könnte das französische Vorbild Anlass zu einer weiteren Klarstellung sein. Nach der Regelung, dass aus der bloßen Tatsache der Geburt weder für das Kind selbst noch für die Unterhaltspflichtigen ein Schadenersatzanspruch geltend gemacht werden kann, stellt der französische Gesetzgeber noch klar, dass ein Ersatz nur dann ausgeschlossen wird, wenn die drohende Behinderung nur durch eine Abtreibung „abgewendet“ hätte werden können. Schäden wegen Behandlungsfehler oder schuldhaft unterbliebener Behandlungen mangels Kenntnis der Behinderung bleiben ersatzfähig66.

Bei sinngemäßer Übernahme dieser Klarstellung in den zu verfassenden österreichischen Gesetzestext könnten einige in der parlamentarischen Diskussion aufgezeigte Bedenken weitgehend zerstreut und nützliche Klarstellungen nicht erst in den Gesetzesmaterialien, sondern schon im Gesetz selbst getroffen werden, sodass der neu einzufügende Absatz 2 des § 22 ABGB m. E. lauten könnte wie folgt:

„(2) Aus der Tatsache der Geburt eines Menschen ist ein Anspruch auf Schadenersatz ausgeschlossen. Sonstige Ansprüche, insbesondere aufgrund von Leistungsstörungen oder aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis, bei Verträgen, deren Inhalt Maßnahmen zur Verhinderung der Empfängnis sind, bleiben unberührt. Weiters bleiben unberührt Ansprüche des (ungebornen) Kindes bzw. seiner Eltern wegen nicht ordnungsgemäßer Durchführung oder Unterbleibens von Heilbehandlungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt insoweit, als der Heilungszweck der Behandlung reicht, sowie sonstige Ansprüche (Satz 2) im Zusammenhang mit solchen Behandlungsverträgen.“

Der unveränderte Satz 1 stellt, wie schon bisher, klar, dass sämtliche Ansprüche, die sich auf die Geburt bzw. die bloße Existenz eines Menschen gründen und daher eine negative Bewertung seines – schicksalhaften, naturbedingten, gottgewollten, wie auch immer man dies formulieren möchte – „Daseins“ und „Soseins“ implizieren, ausgeschlossen sind. Die nachfolgenden Sätze betonen, dass Ansprüche aufrecht bleiben, die keine negative Bewertung der Existenz eines Menschen bedeuten. Hier zeigt sich, dass die von F. Bydlinski exemplarisch dargelegten Kriterien nicht nur Wege zur sachgerechten Interpretation der geltenden Gesetzeslage aufzeigen, sondern auch in der legistischen Diskussion unterscheiden helfen zwischen Ansprüchen, die ausgeschlossen werden müssen, und solchen, die aufrecht bleiben können.

Mit dem nunmehr vorgeschlagenen Satz 2 Absatz 2 wird klargestellt, dass jemand, der einen Vertrag über den Verkauf eines Verhütungsmittels oder die Durchführung einer Sterilisation abschließt, nach allgemeinen zivilrechtlichen Regeln etwa bei Leistungsstörungen nach wie vor entweder auf Erfüllung des Vertrages bestehen (und damit dem Vertragspartner eine zweite Chance geben) oder aber vom Vertrag zurücktreten und den allenfalls bereits bezahlten Preis zurückverlangen bzw. vom vertragsbrüchigen Partner sogar z. B. die Mehrkosten einer Sterilisation bei einem anderen Arzt fordern kann. Der Vertragspartner (z. B. der Apotheker) könnte ein etwa falsch verschriebenes Medikament zurückfordern. Sollte der Patient frustrierte Aufwendungen hinsichtlich der Behandlung (Zeitaufwand, Fahrtkosten etc.) zu verzeichnen haben, wären auch diese ersatzfähig. Nur der Anspruch, (vermögensrechtlich) vollends so gestellt zu werden, als wäre der Vertrag ordnungsgemäß erfüllt worden (d. h. kein Kind und daher insbesondere keine Unterhaltspflichten zu haben), entfällt.

Weiters wird in Satz 3 klargestellt, dass sämtliche Schäden aufgrund von Körperverletzungen oder unterbliebenen Behandlungen des Embryos bzw. der Mutter ersatzfähig bleiben, also z. B. Schmerzensgeldansprüche des Embryos oder auch (auf seiten der Eltern) erhöhte Unterhaltsbelastungen wegen der pränatalen Verletzung oder unterbliebenen Behandlung des Kindes (selbstverständlich aus Kausalitätsgründen nur im Ausmaß der Erhöhung durch das ärztliche Fehlverhalten). Dasselbe gilt für Schäden, die bei der Mutter entstehen (z. B. erhöhte Belastung durch die Schwangerschaft oder gar direkte Körperverletzung) oder sonstige mit dem Behandlungsvertrag verbundenen Ansprüche (frustrierte Aufwendungen etc., siehe oben).

Hinsichtlich der Abtreibung als solcher wird die Rechtslage nicht verändert. Insoweit die Abtreibung rechtmäßig möglich und als Heilbehandlung zu verstehen ist, kommen – wiederum neben Ansprüchen aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis etc. – bei Nicht- oder Schlechterfüllung ebenfalls die allgemeinen zivilrechtlichen Ansprüche in Betracht, allerdings nur insoweit, als der Heilungszweck der Abtreibung reicht: Wenn also z. B. in einer Situation, welche ex ante eine medizinisch-vitale Abtreibungsindikation begründet, überraschenderweise sowohl Kind als auch Mutter wegen bzw. trotz misslungener Abtreibung überleben, können die Unterhaltsbelastungen an sich nicht geltendgemacht werden (dies würde ja die Zuerkennung eines Anspruches aus der Tatsache der Geburt bedeuten), sondern nur etwa Schmerzensgeldansprüche, Verdienstentgang etc. der Mutter wegen der Gesundheitsbeeinträchtigung, da nur diese vom Heilungszweck des Vertrages mit dem Abtreiber erfasst sind.

3. Ist die Initiative angesichts des letzten einschlägigen Urteils des OGH 6 Ob 101/06f überhaupt noch erforderlich?

Oben67 wurde dargelegt, dass der OGH in seinem letzten einschlägigen Urteil einen m. E. einigermaßen gangbaren „Notweg" aufgezeigt hat, um mit der „Kind als Schaden-Problematik“ umzugehen. Dies heißt jedoch nicht, dass es nicht noch bessere Wege gäbe. Die selbst gegen diese Lösung erhobenen Bedenken bleiben nämlich durchaus gravierend: Selbst dann nämlich, wenn keine Abtreibung im Spiel ist, wird dem Kind zwar nicht signalisiert, es existiere nur, weil ein Fehler des Arztes seine vorgeburtliche Tötung verhindert habe, es schwingt aber doch nach wie vor mit, seine Existenz wäre z. B. ohne den Fehler des Apothekers nicht zustande gekommen. Dies ist sowohl psychologisch als auch von der Menschenwürde her prekär und nur ausnahmsweise zu rechtfertigen, wenn der Kindesunterhalt eine außergewöhnliche Notlage der Eltern verursacht. Dann können die Eltern dem Kind auch eher vermitteln, weshalb man seine Zeugung zu verhindern trachtete und nunmehr – mangels Alternative – Hilfe in der Not durch das Schadenersatzrecht zu erlangen versucht.

Die wesentlich bessere Lösung wäre allerdings die Verbesserung der sozialrechtlichen Absicherung von Familien, die solche „außergewöhnlichen Lasten“ treffen, unter Ausschluss schadenersatzrechtlicher Konstruktionen. Abgesehen davon ist das einigermaßen akzeptable letzte Judikat des OGH keineswegs gesichert, es könnte jederzeit wieder – womöglich durch eine „bestandsfestere“ Entscheidung eines verstärkten Senates – ein „Rückfall“ erfolgen. Und selbst auf Basis der eingeschränkt positiven letzten Entscheidung ist nicht sicher, ob der OGH die Rechtswidrigkeit der Abtreibung im Rahmen der eugenischen Indikation feststellen würde.

Doch nicht nur auf dieser grundsätzlichen Ebene lässt sich „Handlungsbedarf“ orten: Auch wenn man die komplizierten Umsetzungsfragen der in Lehre und Judikatur entwickelten Grundsätze näher betrachtet, zeigen sich respektable Verwerfungen: So führt der OGH in 6 Ob 101/06 f etwa die praktischen Probleme ins Treffen, die sich aus der (vom OGH abgelehnten) Auffassung ergeben, eine nachträgliche Änderung der Einstellung zum Kind ins Positive68 führe zum Wegfall des Haftungsanspruchs: In diesem Fall müsse nicht nur im Titelverfahren, sondern auch im Exekutionsverfahren laufend überprüft werden, wie sich die Einstellung der Eltern dem Kinde gegenüber gestalte.

Die Notwendigkeit einer ständigen Überprüfung gilt freilich auch für die sozialen Verhältnisse der Eltern, die zur „außergewöhnlichen“ Belastung durch den Kindesunterhalt führen. C. Hirsch hat gezeigt, wie kompliziert die Frage sein kann, nach welchen Grundsätzen eine Notlage festzustellen sei, und hat diesbezüglich die Anwendung der Existenzminimumrichtlinien des Exekutionsrechts vorgeschlagen69. Weiters ergeben sich u. U. schwierige rechtsdogmatische Fragen bei der Beurteilung, welche Zuwendungen bei der Berechnung des Einkommens der Eltern zu berücksichtigen sind und welche nicht70.

Letztlich ist zu befürchten, dass damit eine ähnliche, die Gerichte stark belastende „Problemzone“ geschaffen wird wie etwa im Bereich der Unterhaltsleistungen an Ehegatten und/oder Kinder nach Scheidung bzw. Trennung. Die Gerichte könnten gleichsam in die Rolle von Sozialämtern gedrängt werden, wenn sie – womöglich ein Menschenleben lang – laufend über die Frage der „außergewöhnlichen Belastung“ durch Unterhaltsverbindlichkeiten zu entscheiden haben. Solche Fragen sollten durch die für Sozialmaterien primär zuständigen Sozialämter und nicht durch Gerichte auf Antrag der Schadenersatzschuldner (die damit gezwungen wären, ständig in den privaten Verhältnissen ihrer Gläubiger „herumzuspionieren“) entschieden werden.

4. Resümee

Der vorliegende Initiativantrag stellt eine höchst begrüßenswerte und längst fällige Maßnahme dar, um der äußerst problematischen „Kind als Schaden-Judikatur“ ein Ende zu setzen.

Die vor dem Hintergrund der EGMR-Judikatur bestehenden grundrechtlichen Bedenken lassen sich, wie oben dargelegt, ganz einfach beseitigen.

Die in den Erläuterungen des Entwurfes enthaltene Klarstellung über die auch nach dieser Novelle verbleibenden Ansprüche aufgrund ärztlichen Fehlverhaltens (etwa bei Schädigung des Kindes im Mutterleib oder Unterbleiben medizinischer Behandlung des Kindes mangels rechtzeitiger Entdeckung der Krankheit bzw. Behinderung) sollten, wie beim französischen Vorbild, zur Klarstellung schon in den Gesetzestext selbst aufgenommen werden. Ich hoffe, diesbezüglich mit den obigen legistischen Vorschlägen einen weiterführenden Diskussionsbeitrag geleistet zu haben.

Überlegungen dahingehend, inwieweit Bedarf nach sozialen Abfederungen besteht, würden eine wertvolle Ergänzung des ggst. Vorstoßes darstellen und – gerade angesichts parlamentarischer Wortmeldungen, die eine kompensationslose finanzielle Schlechterstellung von Eltern behinderter Kinder befürchten – seine politische Akzeptanz sicherlich erhöhen. Diesbezügliche Evaluierungen und allfällige Lösungsvorschläge sollten daher womöglich noch vor der weiteren parlamentarischen Behandlung des Antrages vorgelegt werden.

So sehr man sich schließlich aus Lebensschutzerwägungen auch eine Verschärfung der strafrechtlichen Abtreibungsregelung wünschen würde, so sehr ist die politische Klugheit der für den ggst. Antrag Verantwortlichen zu loben, die ein solches Junktim vermeidet. Tatsächlich wäre es nicht sinnvoll, hier eine zusätzliche politische Front zu eröffnen, die den Erfolg dieser, wie das französische Vorbild zeigt, eigentlich auf breiter Basis konsensfähigen Initiative wohl verhindern würde. Dass manche parlamentarischen Wortmeldungen dennoch Befürchtungen äußern, die „Entscheidungsfreiheit der Frau“ könnte eingeschränkt werden, und daraus Argumente gegen die Initiative gewinnen wollen, ist sachlich nicht gerechtfertigt und eigentlich bedauerlich.

Alles in allem kann man den für diesen Vorstoß Verantwortlichen nur viel Erfolg bei der Durchsetzung ihres Anliegens wünschen. 

Der Autor ist Prüfbeamter der Volksanwaltschaft. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Referenzen

  1. Die ausführlichste und fundierteste, auch rechtsvergleichende Aspekte einbeziehende Auseinandersetzung stammt wohl von Hirsch C., Arzthaftung bei fehlgeschlagener Familienplanung [2002]; zur Kritik an der OGH-Judikatur hinsichtlich der Abtreibungsproblematik s. insbesondere S. 100 ff. mit umfassenden Nachweisen zum damaligen Diskussionsstand. Eine ausführliche Dokumentation auch der weiteren Entwicklung finden sich z. B. in dem kürzlich erschienenen beachtlichen Beitrag von Cornides J., Zur Haftung des Arztes bei fehlerhafter pränataler Diagnose, JBl 2007, 137 und in der OGH-Entscheidung 6 Ob 101/06f. Vgl. auch in diesem Heft Memmer M., Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zum „Familienplanungsschaden“, Imago Hominis (2007); 14: 195-211; Zemanek J., Der Arzt – ein Vermögensberater? Oder: Auf welcher Rechtsebene ist Menschenleben verhandelbar?, Imago Hominis (2007); 14: 213-225
  2. So schon Hirsch C., Arzthaftung infolge unerwünschter Geburt eines Kindes, RdM 1999, 163 (170 f); vgl. neben etlichen anderen jüngst wieder Grof, Übersetzungsprobleme und Fragezeichen, Juridicum 2007/1, 26 (28) und ausführlich Merckens S., Kein Schaden ohne Kind. Rechtliche Erwägungen zur jüngsten „wrongful birth“-Judikatur des OGH, 5 Ob 165/05h, AnwBl 2007, 237 (247 ff).
  3. Näher zur diesbezüglichen französischen Regelung und zu den sich daraus ergebenden Fragen Rebhahn, Entwicklungen zum Schadenersatz wegen „unerwünschter Geburt“ in Frankreich, ZEuP 2004, 794 (808 ff); der Beitrag enthält auch interessantes rechtsvergleichendes Material zu einschlägigen Regelungen in weiteren Staaten.
  4. Punkt 7.1. des Urteils
  5. Wie auch schon mehr als ein Jahr zuvor die Volksanwaltschaft (VA), Entscheidung GZ W/203-Schu/02, veröffentlicht in IMABE-Studie Nr. 52 (2005), insbesondere 23 ff, auf welche der OGH allerdings nicht Bezug nimmt. Im von den Volksanwälten (Dr. Peter Kostelka [SPÖ], Mag. Ewald Stadler [FPÖ] und Rosemarie Bauer [ÖVP]) einstimmig beschlossenen Bericht der Volksanwaltschaft an das Parlament aus dem Jahre 2005, in dem ein „Lehrausgang“ von minderjährigen Hauptschülern in eine nach wirtschaftlichen Grundsätzen geführte Abtreibungsklinik (!) kritisiert wird, heißt es dazu (S. 352): „Die VA hat diesen Lehrausgang als mit den bezughabenden schulrechtlichen Bestimmungen unvereinbar erachtet, zumal Abtreibungen in den meisten Fällen, in denen sie in Österreich straflos bleiben, doch nach wie vor als rechtswidrig angesehen werden müssen und ein ‚Recht auf Abtreibung‘ der österreichischen Rechtsordnung fremd ist.“ – Dieses Zitat stammt übrigens aus dem Grundrechtsteil, der auch auf Englisch übersetzt wird und gleichsam eine „internationale Visitenkarte“ der VA darstellt (vgl. auch den Beitrag in der Zeitschrift „Nachrichtenbrief“ des „Bürgerbeauftragten in Europa“, S. 54 f). Der gesamte Bericht ist abrufbar auf der Homepage der VA www.volksanwaltschaft.gv.at.
  6. So in überzeugender Argumentation die VA, IMABE-Studie 31 ff.
  7. Im Anschluss an die Gedanken dieses Rechtsgelehrten habe ich meine Besprechung des Urteils 1 Ob 91/99k (Ein Kind als Schaden?, Imago Hominis 2000, 7) gestaltet. F. Bydlinski selbst hat diese Lösung in seinem Beitrag „Das Kind als Schadensursache im Österreichischen Recht“ in Magnus/Spier, Liber amicorum for Helmut Koziol (2000) 29 (34 ff.) näher entfaltet. Im Ergebnis trifft sich diese Auffassung – in etwa – mit dem schon vorher von Koziol H. (Österreichisches Haftpflichtrecht I3 [1997] 33 f.) vorgeschlagenen Kriterium der „außergewöhnlichen Belastung“. Die Begründung sowie die nähere Konkretisierung dieses Kriteriums sind aber erst bei F. Bydlinski überzeugend gelungen (im wesentlichen zutreffend kritisch zum das Kind allzusehr quasi in ein bewertendes „Geben und Nehmen-Schema“ einordnenden Ansatz von Koziol H. J. Cornides, JBl 2007, 140 ff.), sodass er m. E. insoweit zurecht als Pionier bezeichnet werden kann.
  8. So etwa der österreichische Gewährsmann der Erstentscheidung des OGH für die „Trennungsthese“, Koziol, 31 f.
  9. Liber amicorum 65 f.
  10. In JBl 2007, 141 f. FN 23 kritisiert er die Ansicht F. Bydlinskis unter der (von ihm freilich selbst hypothetisch formulierten) Prämisse, die Frage der Gewährung von Schadenersatz hänge von der Möglichkeit „der gedankliche[n] Aufspaltung des Lebenssachverhalts einer unerwünschten Geburt in das Ereignis selbst und die dadurch ausgelösten Unterhaltspflichten“ ab, woraus im Falle der Möglichkeit der Trennung die prinzipielle Statthaftigkeit der Zuerkennung von Schadenersatz für Unterhaltspflichten, im Falle der Unmöglichkeit das Gegenteil folge. M. E. ist diese Prämisse nicht ausreichend begründet. F. Bydlinski hat vielmehr einen methodisch legitimen und überzeugenden Weg aufgezeigt, auch bei Ablehnung der „Trennungsthese“ und damit Anerkennung der problematischen Auswirkungen der Qualifikation des Kindesunterhalts als möglichen Schaden im Rechtssinne auf die Würde des Kindes (welche im Falle misslungener Empfängnisverhütung/Sterilisation weit geringer sind als im Falle unterbliebener Abtreibung) ausnahmsweise eine solche Qualifikation vorzunehmen. Auch die Kritik J. Cornides’ an der teilweisen Verwandlung des Schadenersatzrechts in ein „Instrument der sozialen Umverteilung“ dadurch, dass man die Schadensqualifikation des Unterhalts von den sozialen Umständen der Unterhaltspflichtigen abhängig macht (a. a. O. 154), kann in dieser Allgemeinheit m. E. nicht überzeugen: Erstens erfolgt diese „Umwandlung“ durch den OGH und seine Gewährsleute ja nicht grundsätzlich, sondern nur in besonderen Ausnahmefällen; zweitens ist die Berücksichtigung sozialer Umstände im Haftpflichtrecht etwa bei der Milderung der Haftung des Arbeitnehmers schon seit längerem auch gesetzlich anerkannt und wird ganz allgemein ein „Grundsatz der proportionalen Haftungsmilderung“ vertreten (Bydlinski F., System und Prinzipien des Privatrechts (1996) 225 ff.). Den Ansatz F. Bydlinskis freilich nur mit der Bemerkung abzulehnen, es handle sich dabei um „Mitleidsmoral“ (so der ansonsten sehr lesenswerte Beitrag von Merckens S., AnwBl 2007, 246 im Anschluss an andere Stimmen), wird dem rechtsdogmatischen Anspruch der Argumentation F. Bydlinskis schon in formaler Hinsicht nicht gerecht. Dass eine rechtsdogmatisch lege artis ausgearbeitete Argumentation mit bestimmten Moralvorstellungen konvergiert, ist per se kein ausreichendes Gegenargument.
  11. Diese Eingriffe kann man gewiss mit guten Gründen als bedenklich einstufen, wie der OGH unter Hinweis auf die „kirchliche Morallehre“ einräumt (Punkt 7.1. des Urteils). Daraus folgt aber nicht, dass auch der säkulare Staat diese Ablehnung mit einer Rechtswidrigkeitssanktion im „weltlichen Recht“ behaften muss; in Österreich ist dies jedenfalls nicht der Fall, wie der OGH a. a. O. zutreffend feststellt. Allenfalls könnte man an eine Sittenwidrigkeitssanktion gemäß § 879 (1) ABGB denken. Dazu müsste sich aber das öffentliche Moralbewusstsein, an welches das Sittenwidrigkeitsverdikt anknüpft (dazu grundlegend Mayer-Maly T., Was leisten die guten Sitten?, AcP 194 [1994] 104), enger an der Morallehre der Katholischen Kirche orientieren; dass dies nicht der Fall ist, kann man – gerade aus demographischen Gründen und damit aus wohlverstandenen „säkularen Staatsinteressen“ – mit Recht bedauern. Man wird den rechtlich relevanten empirischen „Sittlichkeitsbefund“ der österreichischen Gesellschaft aber zunächst wohl zur Kenntnis zu nehmen haben.
  12. Auch die Kritik von Harrer in Schwimann, ABGB Praxiskommentar 63 (2006) RZ 37 ff. zu § 1293 scheint vorwiegend auf die Abtreibungsfälle bzw. auf die Differenzierung zwischen behinderten und gesunden Kindern fokussiert. Dieser Autor schlägt im Übrigen unter Verweis auf das Vorbild der Arbeitsunfälle ebenfalls überzeugend einen Transfer dieser Problematik vom Schadenersatz- ins Sozialrecht vor (a. a. O. RZ 42 m. w. N.).
  13. Vgl die widersprüchlich erscheinenden Punkte 7.2. und 7.5. des Urteils.
  14. S. 2 des Antrages.
  15. A. a. O S. 2 f.
  16. A. a. O. S. 3
  17. Stenographisches Protokoll der 11. Sitzung des Nationalrates in der XXIII. GP, S. 143 ff.
  18. Wortlaut: (1) Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, daß das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
    (2) Die vorstehenden Bestimmungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.
  19. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2 (2005) 360: „sufficiently established to be enforcable“; ausführlich Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar2 (1996) 767 ff.; beide m. w. N.
  20. Vgl. insbesondere Punkte 19 und 61 des Urteils
  21. A. a. O. Punkt 67
  22. A. a. O. Punkte 68 ff.
  23. Welche dem EGMR durchaus offenstehen, vgl. bloß Grabenwarter, a.a.O. 81.
  24. Dies geht jedenfalls aus dem Bericht über den Verfahrensablauf in den Punkten 1 ff. des Urteils hervor.
  25. Punkt 83 f. des Urteils
  26. A. a. O. Punkt 85
  27. A. a. O. Punkt 100 und 104
  28. A. a. O. Punkt 107
  29. A. a. O. Punkte 114 ff.
  30. A. a. O. Punkt 115 (eigene Übersetzung)
  31. A. a. O. Punkt 117 (eigene Übersetzung)
  32. Vgl. a. a. O. Punkte 118 ff.
  33. Der Sachverhalt findet sich in den Punkten 7 ff. des Urteils.
  34. Das „Center for Reproductive Rights“ mit Sitz in New York, vgl. die Homepage www.reproductivereights.org, und die die Klägerin vertretende Organisation „Interights“ mit Sitz in London, die sich der laut Selbstdarstellung auf „www.interights.org“ ganz allgemein dem Kampf für die Menschenrechte widmet. Es wäre m. E. überaus interessant zu erfahren, mittels welcher Kanäle solche „Global Player“ auf eine – tatsächlich bemitleidenswerte und (wenngleich auf andere Art) hilfsbedürftige – Dame aus Warschau, die offenbar hart am Existenzminimum leben muss, aufmerksam werden. Dass das Urteil auch abtreibungskritische Organisationen (Punkt 96 ff.) zu Wort kommen lässt, kann angesichts dessen, dass deren Argumentation vom Gerichtshof nicht entsprechend berücksichtigt wird, das Gesamtbild nicht verbessern.
  35. Punkte 62 ff. des Urteils
  36. A. a. O. Punkte 131 ff. und 136 ff.
  37. A. a. O. Punkte 109 ff., vgl. oben Punkt 1 dieser Abhandlung.
  38. A. a. O. Punkt 107
  39. A. a. O. Punkte 110 ff., insbesondere 113
  40. Diese ist eine weitere im Verfahren involvierte, scheinbar polnische (u. a.) Abtreibungslobbyorganisation, vgl. die Homepage „www.federa.org.pl“, auf der sich auch höchst aufschlussreiche Bücher in englischer Sprache herunterladen lassen, z. B. das 340 Seiten umfassende Werk „Advocating for Abortion Access: Eleven Country Studies“ (2001), herausgegeben von Barbara Klugman und Debbie Budlender vom „Women’s Health Project“ der „School of Public Health, University of the Witwatersrand, Johannesburg, South Africa“ – fürwahr eine Welt ohne Grenzen.
  41. Punkte 114 ff. des Urteils
  42. A. a. O. Punkt 117 f., 125 ff.
  43. A. a. O. Punkt 119 (eigene Übersetzung)
  44. A. a. O. Punkt 121; dies ist freilich nach eigener Darstellung der polnischen Rechtslage durch den Gerichtshof unzutreffend: Es reicht vielmehr eine einschlägige Fachexpertise (vgl. Punkte 38 f.).
  45. A. a. O. 121 ff.
  46. A. a. O. Punkt 119
  47. Punkt 13 ff. (eigene Übersetzung)
  48. Punkt 103 f. des Urteils
  49. Ein solcher Sachverhalt lag der ggst. Entscheidung zugrunde, vgl. a. a. O. Punkt 2 ff.
  50. Vgl. a. a. O. Punkt 90 f.
  51. Kammerentscheidung vom 07. 03. 2006, endgültige Entscheidung der Großen Kammer des EGMR vom 10. 04. 2007
  52. Punkte 13 ff. der Entscheidung der Großen Kammer
  53. Eine abweichende Meinung äußerten unter Bezugnahme auf Artikel 8 und 14 EMRK (nicht aber hinsichtlich Artikel 2) immerhin vier von 17 Richtern.
  54. Punkte 53 ff. des Urteils
  55. Punkte 45 f. des Urteils
  56. Zur Entscheidung Vo v. France kritisch Piskernigg, Fällt das ungeborene Kind unter den Schutz des Artikels 2 EMRK?, Imago Hominis 2004, 163; vgl. auch Groh/Lange-Bertalot, Der Schutz des Lebens Ungeborener nach der EMRK, NJW 2005, 713.
  57. Piskernigg, a. a. O. 164 f.; Groh/Lange-Bertalot, a. a. O. 715
  58. Parlamentsbericht 2005, S. 352 (Grundrechtsteil).
  59. Vgl. IMABE-Studie insbesondere 26 f., 39 f.
  60. Nach richtiger Auffassung hat diese Bestimmung im Zusammenspiel mit § 16 ABGB („Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten [...].“) materiell Grundrechtscharakter, vgl. VA, IMABE-Studie 26; dazu grundlegend und mit zahlreichen auch historischen Belegen Klecatsky, Unvergeßbare Erinnerungen an § 16 ABGB, in: Ebert (Hg.), Iustitia et scientia, Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger (2001) 275.
  61. Vgl. oben Punkt I.3. dieser Abhandlung.
  62. Eine solche schlägt zur Verhinderung besonders brutaler Spätabtreibungen etwa Bernat E., Pränataldiagnostik und Spätabtreibung bei schweren Behinderungen, JRP 2006, 113 (121 f.) vor. M. E. wird die praktische Bedeutung einer Gesetzesänderung in diesem Bereich – bei aller positiven Signalwirkung – überschätzt; dies gilt jedenfalls dann, wenn die sehr weit gefasste, auch psychische Probleme (die sich relativ leicht und schwer widerlegbar behaupten lassen) der Schwangeren umfassende medizinische Indikation unverändert bestehen bleibt (zu den Erfahrungen nach der Abschaffung der eugenischen Indikation in Deutschland vgl. Müller G., Unterhalt für ein Kind als Schaden, NJW 2003, 697 [702 ff.]).
  63. Vgl. den die Nachweise im EGMR-Urteil Tysiac v. Poland Punkte 48 ff. Neuerdings scheint sogar die Organisation Amnesty International, die sich ansonsten verdienstvollerweise insbesondere um die Rechte von Gefangenen und Flüchtlingen kümmert, in diese Reihe einzuordnen sein (vgl. Frankfurter Rundschau, 15. Juni 2007; Bericht in www.kath.net, 23. 05. 2007).
  64. Ein besonders bedenkliches Beispiel stellt in diesem Zusammenhang das auch in Tysiac v. Poland zitierte (Punkt 52 des Urteils) „EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights“ dar. In seiner auf Ersuchen der EU-Kommission abgegebenen „Opinion No 4-2005“ vom 14. 12. 2005 gibt das „Netzwerk“ ein negatives Votum ab zur in einem Konkordatsentwurf zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakischen Republik enthaltenen Klausel, die katholischen Ärzten (wie § 97 [2] österreichisches Strafgesetzbuch) ein Recht auf Verweigerung der Mitwirkung an Abtreibungen aus Gewissensgründen einräumt. In der „Opinion“ wird u. a. behauptet, gemäß „Art.“ 338 bis 342 des österreichischen Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) sollen Ärzte Abtreibungen auch ohne medizinische Indikation, welche in den ersten drei Monaten „erlaubt“ seien, „als Teil ihrer Verpflichtungen als Partner des nationalen Krankenversicherungsprogramms“ (S. 9 der „Opinion“, eigene Übersetzung) durchführen. Tatsächlich sind nichtindizierte Abtreibungen in Österreich kein Teil der Krankenversicherungsleistungen, auch wenn die „Abtreibung auf Krankenschein“ von radikalfeministischer Seite immer wieder gefordert wird. Abgesehen von der „handwerklichen Qualität“ dieser sehr lesenswerten „Opinion“ ist u. a. bemerkenswert, dass das „Netzwerk“ über den eigentlichen von der EU-Kommission vorgegebenen Untersuchungsgegenstand hinaus auch gleich die Gelegenheit nützt, die weitgehende Abschaffung des Tendenzschutzes etwa von Organisationen wie der Katholischen Kirche und deren Unterorganisationen zu behaupten, indem sie auf Basis von EU-Antidiskriminierungsbestimmungen z. B. ein an die Kirche gerichtetes allgemeines Verbot postuliert, Personen selbst bei öffentlich praktizierter Homosexualität als Arbeitnehmer abzulehnen (a. a. O. S. 25 ff.). Damit wird also der Kirche die Pflicht auferlegt, sich von Personen unterwandern zu lassen, die einen Kernbestand der Lehre der Kirche, ihr Menschenbild, in Theorie und Praxis ablehnen und angreifen. Würden die europäischen Institutionen bzw. Gerichte (auch die der Einzelstaaten) dieser „Opinion“ folgen, wäre wohl mit einem Schlag die institutionelle Freiheit der Kirche zur internen Selbstorganisation im Russland des gerade von „KämpferInnen für die Menschenrechte“ vielgeschmähten Wladimir Putin größer als in der EU. – Wer noch nicht bemerkt hat, dass hier bereits die Instrumente für eine respektable Kirchenverfolgung in der EU geschärft werden, sollte beizeiten aufwachen.
  65. Vgl. dazu das Zitat des Gesetzes Nr. 2005-102 vom 11. 02. 2005, in dem eine Reihe sozialrechtlicher Ansprüche normiert wird, im Urteil Maurice v. France Punkte 54 ff.
  66. Vgl. dazu die Erläuterung der französischen Regelung bei Rebhahn, ZEuP 2004, 808 ff.
  67. Punkt I.1.b) dieser Abhandlung.
  68. Die der bemerkenswert bibelfeste OGH als „Damas-kuserlebnis“ bezeichnet, s. Punkt 7.4. des Urteils.
  69. Arzthaftung 53 ff., insbesondere 82 ff.
  70. A. a. O. 78

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Dr. Thomas J. Piskernigg, Imabe-Institut
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