Zur Beziehung von Geist, Genetik und Epigenetik

Imago Hominis (2013); 20(3): 205-215
Matthias Beck

Zusammenfassung

Die moderne Genetik zeigt, dass die genetische Information für den Körper und für Krankheiten nicht allein in den Genen liegt. Die Gene sind nur ein Teil der Gesamtinformation. Gene müssen aktiviert und inaktiviert werden. Daher ist die Frage entscheidend, welche Zusatzinformationen aus der Umgebung die Gene an- und abschalten. Nur ein aktiviertes Gen entfaltet seine Wirkung, dass Eiweißstoffe synthetisiert oder Krankheiten manifest werden. Diese Schaltinformationen nennt man epigenetische Faktoren oder einfach Epigenetik. Diese Faktoren liegen zum Teil auf den Chromosomen in den Bereichen zwischen den Genen, sie liegen aber auch in den Proteinen, im Cytoplasma und den Zellmembranen, schließlich auch im gesamten Innenleben des Menschen mit seinem Denken und Fühlen sowie seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Der vorliegende Artikel will zeigen, dass für die genetisch-epigenetischen Verschaltungen auch die religiöse und spirituelle Ausrichtung des Menschen eine Rolle spielt.

Schlüsselwörter: Genetik, Epigenetik, Spiritualität, Krankheit, Heilung

Abstract

Modern genetics shows that the information for the body and for diseases is not only fixed in the genes. Genes are only a part of the information. They have to be switched on and off. Therefore it is much more interesting, to know which the additional factors for these switch-on and switch-off mechanisms are. Only a switched-on gene expresses its function. The additional information in the environment can be found in the sections between the genes, in the cytoplasm, the membranes, but also in the whole organism up to the brain, the thinking and feeling of a person as well as interpersonal relationships. These additional influences are called epigenetic factors or epigenetics. This article wants to show that also the religious and spiritual life of a person is involved in these genetic-epigenetic interactions.

Keywords: Genetics, Epigenetics, Spirituality, Disease, Healing


1. Hinführung

Will man die verschiedenen Ebenen von Spiritualität und Medizin betrachten, die in dem einen Menschen miteinander verschränkt vorkommen, muss man sie wissenschaftlich zunächst strikt voneinander trennen. Die Fragen der Spiritualität gehören in den Kontext der Theologie und sind damit ein geisteswissenschaftliches Gebiet, während die Medizin in den Bereich der Naturwissenschaften und im Kontext der psychosomatischen Medizin in jenen der Psychologie gehört.

Es ist der eine Mensch in seiner Einheit von Geist, Seele und Leib, der krank ist. Krank sind nicht Organe, sondern Menschen. Und doch gibt es in dem einen Menschen verschiedene wissenschaftliche Zugänge, die versuchen, die Krankheitsphänomene menschlichen Lebens zu erfassen. Im vorliegenden Fall ist es die nach wie vor weithin naturwissenschaftliche Medizin, die auch psychosomatische Hintergründe beleuchtet, aber kaum Fragen des menschlichen Geistes – zumal in seiner Ausrichtung auf das Absolute – in Augenschein nimmt. Rainer Tölle, emeritierter Ordinarius für Psychiatrie hat es in der 12. Auflage seines Psychiatrie Lehrbuches so auf den Punkt gebracht:

„Während die Psychiatrie von den philosophisch-anthropologischen Bemühungen profitierte, läßt sich Entsprechendes für die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Theologie nicht feststellen. Von den Weltreligionen ist wenig Einfluß auf die Psychiatrie ausgegangen, und die Psychiatrie befaßte sich wenig mit der Religiosität der Patienten… Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten.“1

Allerdings sind die Begriffe Religion und Spiritualität zu unterscheiden. Unter Spiritualität wird eher eine „frei flottierende“ Wendung des Individuums nach innen verstanden, während „Religion“ ein Begriff ist, der mehr für religiöse Gemeinschaften verwendet wird, die eine Struktur und Organisation haben.

So haben wir einen naturwissenschaftlichen und einen geisteswissenschaftlichen Zugang zum Phänomen Krankheit und müssen zusehen, wie diese beiden Zugänge zusammengehören. Beide sind zu unterscheiden und doch ist es der eine Mensch, in dem die Phänomene aufeinanderstoßen. Es stellt sich die Frage, wie sie gemeinsam zu interpretieren sind.

2. Wissenschaftstheoretische Zugänge

Das Paradigma der naturwissenschaftlichen Medizin ist es zu messen, was zu messen ist. Schon René Descartes unterschied in seiner Philosophie die res extensa (das ausgedehnte Ding) wie einen Tisch oder ein Haus, das man in seiner Länge, Breite und Ausdehnung messen kann, und die res cogitans (die denkende Sache) wie Gedanken, Geist, Verstand, Vernunft, die keine Ausdehnung haben und insofern zunächst nicht messbar sind. Allerdings versucht man heutzutage im Zuge der Hirnphysiologie auch Gedanken messbar und damit sichtbar zu machen. Allerdings ist dieses Messen von Potentialschwankungen im Gehirn nicht das Erfassen der Gedanken selbst, sondern nur deren Korrelation mit bestimmten Vorgängen im Gehirn.2 Wenn der Mensch denkt, verändern sich bestimmte Areale im Gehirn. Das kann man messen und sichtbar machen, aber damit ist nicht der Gedanke als Gedanke erfasst, sondern nur dessen „Außenseite“.

So geht es in der Medizin zunächst einmal um die ausgedehnten Dinge, die messbar sind: Zellveränderungen, Blutdruck, Hormonhaushalt, elektrische Ströme im Herzen (Elektro-Kardio-Gramm, EKG), elektrische Ströme im Gehirn (Elektro-Enzephalo-Gramm, EEG) oder im Muskel (Elektro-Myo-Gramm, EMG). Neben diesen messbaren Anteilen versucht die psychosomatische Medizin, auch seelische Hintergründe von Krankheiten zu erfassen: Ängste, Abhängigkeiten, ungelöste Konflikte, das Unbewusste.

Diese Phänomene sind schwerer zu messen, sie sind aber intersubjektiv zwischen verschieden Personen mit ähnlichen Symptomen und vergleichbaren seelischen Nöten zu vergleichen. Mittels Statistik können bestimmte Korrelationen zwischen seelischen Hintergründen und bestimmten Krankheiten hergestellt werden. Insofern sind auch die Zusammenhänge zwischen seelischen Problemen und Krankheiten in gewissem Sinne messbar. Noch schwieriger messbar sind geistige und geistliche Hintergründe von Krankheiten. Sie sind zunächst indirekt erschließbar aufgrund philosophisch-theologischer Überlegungen, aber es gibt auch schon viele valide Studien zur Frage von Spiritualität und Medizin.3 Wenn hier über Spiritualität und Medizin gesprochen wird, dann soll nur die christliche Spiritualität betrachtet werden. Die Verbindung zu anderen Spiritualitäten kann vom Leser selbst gezogen werden.

Der Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin ist ihre Universalisierbarkeit. Die messbaren Anteile im Menschen sind überall auf der Welt in ähnlicher Weise zu erfassen. Man kann dieselben Messungen in China, Südamerika und Europa durchführen. Das gilt auch für die Biologie: Zellkulturen wachsen in China ähnlich wie in Wien oder New York. Seelische Hintergründe und geistige Kontexte hingegen unterscheiden sich in den Kulturen erheblich. Sie hängen von der Kultur ab, von der Religion, von den gesellschaftlichen Normen, von den Familienstrukturen und vielem mehr.

Sind naturwissenschaftliche Daten weithin verallgemeinerbar, geht es bereits in der psychosomatischen Medizin mehr um Einzelbiographien, die mit anderen Einzelbiographien verglichen werden (mit Hilfe der Methode der Statistik). Noch mehr um den Einzelnen geht es bei der Betrachtung der geistig-geistlich-spirituellen Dimension. Hier geht es um die individuelle Biographie des Einzelnen und seine Fragen zu seiner je einzigartigen Berufung, die nicht mehr mit anderen Biographien vergleichbar ist. Jeder hat seinen eigenen Weg durch dieses Leben, jeder hat letztlich auch seinen eigenen Tod. So gibt es das allgemeingültig Vergleichbare im Menschen, das partiell Vergleichbare und das nicht mehr Vergleichbare. Jeder hat seine individuelle Krankheit. Selbst wenn sie äußerlich ähnlich mit anderen Krankheiten ist, ist sie doch etwas ganz Individuelles. Es ist meine Krankheit, ich bin krank.

Interessant ist, dass sich auch die naturwissenschaftliche Medizin immer mehr dem Individuum zuwendet. Man spricht von individualisierter oder auch personalisierter Medizin. Dabei muss gesagt werden, dass der Begriff der personalisierten Medizin nicht zutreffend ist, da es bei dieser gegenwärtigen Forschungsrichtung gerade nicht um die Person als Ganzes in ihrer Umgebung und ihrer Innenwelt geht, sondern vornehmlich um die individuelle genetische Ausstattung des einzelnen Menschen und sein Ansprechen auf Arzneimittel aufgrund seiner spezifischen genetischen Grundausstattung: Pharmaco-genomics heißt diese neue Forschungsrichtung: Sie erforscht einerseits komplexere Zusammenhänge und Ganzheiten innerhalb des Genoms (daher das Suffix -omics) und andererseits die ganz individuelle genetische Ausstattung des Menschen. Hier werden Antworten gefunden auf lange gestellte Fragen, etwa warum einige Menschen auf bestimmte Arzneimittel ganz anders reagieren als andere, obwohl das Krankheitsbild relativ ähnlich zu sein scheint. Diese unterschiedliche Reaktionsweise hat mit der ganz individuellen genetischen Grundausstattung des Individuums zu tun.

Diese Forschung der Pharmaco-genomics und die anderen Forschungszweige der individualisierten Medizin bleiben weithin auf der genetischen Ebene und damit wiederum auf einer ganz naturwissenschaftlichen Ebene stehen. Eine wirklich personalisierte Medizin müsste sich um den ganzen Menschen kümmern in seiner Umwelt, seinem Selbstverhältnis und seiner Innenwelt. Denn auch diese Umgebungsbedingungen des Menschen, sein Verhältnis zu sich selbst sowie seine ganze Innenwelt haben Einfluss auf die Gene und die genetischen Verschaltungen.

3. Genetik und Epigenetik

Im Kontext der genetischen Verschaltungen tut sich ein weiterer großer Forschungszweig auf. Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass Gene nicht nur die Grundausstattungen des Menschen darstellen, sondern auch, dass Gene an- und abgeschaltet werden müssen. Sie müssen aktiviert und inaktiviert werden. Diese zusätzlichen Schaltinformationen nennt man epigenetische Einflüsse oder einfach nur die Epigenetik.

Diese epigenetischen Zusatz- und Schaltinformationen liegen zum Teil in den Bereichen zwischen den Genen, die man bisher für cheap junk (sinnloses Zeug) gehalten hat. Man hielt diese Abschnitte lange Zeit für informationsloses Material. Seit einiger Zeit weiß man aber, dass diese Bereiche zwischen den Genen nicht nur nicht sinnlos sind, sondern ganz zentral mitverantwortlich sind für die genetischen Verschaltungen. Es wird immer gesagt, der Mensch habe 98% gemeinsame Gene mit der Maus und 99% mit dem Affen. Das trifft zu, entscheidend ist aber vielmehr, wie auf dieser Klaviatur der genetischen Grundinformation gespielt wird. Wichtiger als die genetische Grundinformation ist die Frage, welche Gene wann und durch welche Einflüsse aktiviert oder inaktiviert werden. Und für diese Schaltung spielen verschiedene Ebenen eine entscheidende Rolle.

Genannt wurden schon die Bereiche zwischen den Genen. Diese Bereiche stellen beim Menschen viel größere Anteile dar als bei Tieren.4 Diese Areale sind mitverantwortlich für die Komplexität der Verschaltung der Gene. Also spielt weniger die genetische Grundausstattung des Menschen eine Rolle, sondern vor allem die Komplexität der genetisch-epigenetischen Verschaltungen. Ein krankes Gen macht noch nicht krank, sondern eine Krankheit entsteht erst, wenn ein krankes Gen aktiviert wird. Welches die epigenetischen Einflüsse auf die An- und Abschaltmechanismen sind, wird derzeit intensiv erforscht.

Denn nicht nur der Bereich zwischen den Genen ist für die Aktivierung und Inaktivierung von Genen verantwortlich, sondern auch das Cytoplasma, die Proteine, die Membranen zwischen den Zellen, die Interaktionen der Gene mit den Proteinen, letztlich die Beziehung der Gene zum ganzen Organismus. Schließlich spielt sogar die Umwelt des Menschen und seine Innenwelt, seine Ernährung, seine Lebensgewohnheiten, seine Lebensstile bis hin zu seinem Denken und Fühlen eine Rolle. „Auch das Gehirn … nimmt direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden.“5 Der Untertitel eines Werkes von Joachim Bauer lautet: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.6

Die Psychoneuroimmunologie hat schon längere Zeit erkannt, dass dauerhafte seelische Ungleichgewichte negativen Einfluss auf das Immunsystems haben und es unterdrücken können, so dass Krankheiten leichter entstehen. Heute kennt man sogar einige genetische Schaltmechanismen im Hintergrund des Immunsystems, die für dessen Schwächung verantwortlich sind. Im Kontext von Depressionen hat man erkannt, dass „der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab[stellt], die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind.“7

Inzwischen sind etliche Zusammenhänge zwischen Lebensstilen und der Veränderung der Hirnphysiologie sowie der Veränderung der genetischen Verschaltungen gefunden worden. Die Palette der neuesten Erkenntnisse ist groß: Das menschliche Verhalten wird neu erklärt, Erbanlagen und Umwelt beeinflussen sich gegenseitig.8 Es werden zunehmend verschiedene Schalter im Gehirn gefunden, die für die Entwicklung des Gehirns und für Krankheiten eine besondere Rolle spielen.9 Auch die Epigenetik von neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer wird genauer erforscht.10 Schließlich wird das Sozialverhalten der Menschen in ihren Auswirkungen auf das Genom untersucht.11 Etwas zu kurz kommt bei diesen Untersuchungen die Betrachtung der Innenwelt des Menschen mit seiner spirituellen Dimension und seinem Bezug zum Absoluten. Was diese Dimension bedeutet, soll im Folgenden für das Christentum entfaltet werden.

4. Was ist christliche Spiritualität?

4.1. Der Hinweg zum Christentum

Bevor auf das Christentum und seine Spiritualität eingegangen wird, muss kurz etwas über die Entwicklung hin zum Christentum und die Entwicklung des Menschen mit seiner Suche nach den letzten Dingen gesagt werden. Der Mensch als Wesen des Geistes fragt nicht nur nach dem Warum seines Lebens und nach dessen Sinn, sondern er ist als geistbegabtes Wesen immer schon auf das Absolute ausgerichtet. Sonst könnte er das Relative nicht als relativ erkennen, so hat es der Philosoph Hegel formuliert. Der Mensch steht immer schon im Raum des Absoluten, und Menschen haben daher immer auch nach diesem Absoluten gesucht. Sie versuchten es zu finden in Schicksalsmächten, in der Natur, in den Göttern. Die griechische Philosophie des Aristoteles sprach vom unbewegten Beweger, der allem Bewegten in der Welt zugrunde liegt.

Das Absolute ist entweder Es-haft, Du-haft oder A-personal. Zur Erklärung dieses Absoluten, aber auch des Unerklärlichen in der Welt wurden in der Geschichte Göttergestalten eingeführt. In Mythen und Göttergeschichten wurden die Wirkkräfte von Göttern und ihr konkretes Wirken in der Welt beschrieben. Die Verbindung von Unerklärlichem in der Natur mit verschiedenen Götternamen machte es möglich, diese Götter anzubeten, ihnen zu opfern und sie gnädig stimmen.

Die Suche der Menschen nach dem letzten Grund der Welt sowie die „Vergöttlichung“ von manchem, was man sich nicht erklären konnte, verlief über den Vielgötterhimmel des Hinduismus (und in anderer Weise der griechischen Philosophie) und anderer Kulturen schließlich hin zum Ein-Gott-Glauben des Volkes Israel. Dieser eine Gott tritt aus seinem dunklen und unergründlichen „Versteck“ hervor und offenbart sich dem Volk Israel, dem Abraham, dem Jakob, dem Mose, den Propheten. Moses fragt ihn nach seinem Namen, auch Jakob fragt danach, erhält aber keine Antwort.12 Mose wird gesagt, er solle dem Volk sagen, dass der Name des unbekannten Absoluten ist: „Ich-bin-da“.13 Mit dieser Selbstoffenbarung tritt Gott erstmals in der Geschichte aus seinem Versteck hervor.

Geschichtlich gesehen ist dieses Geschehen noch nicht so lange her. Die Welt ist etwa dreizehn Milliarden Jahre alt, der Mensch existiert erst seit  200.000 Jahren, und erst vor etwa 3.500 Jahren fängt Gott an, sich der Welt zu zeigen und sich zu offenbaren. Eine recht kurze Zeit. Offensichtlich war der Mensch erst jetzt in der Lage, die Wucht einer personalen Gottesbegegnung zu ertragen. Jakob ringt mit Gott und wird dabei verletzt.14 Er sagt, er habe mit Gott gerungen, ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen und sei doch mit dem Leben davongekommen.15 Allerdings bleibt insgesamt die Gottesbegegnung mit dem Volk Israel noch recht schemenhaft. Der Gott Israels, der Gott Jahwe, zeigt noch nicht sein ganzes Wesen. Niemand hat Gott je gesehen, heißt es im Alten Testament, und bleibt am Leben, oder anders: wer Gott sieht, stirbt. Eine Ausnahme bildet Jakob, der mit Gott ringt und sagt, er habe Gott ins Angesicht geschaut.16

Gott scheint sich also in der Weltgeschichte in „kleinen Dosen“ Schritt für Schritt zu offenbaren. Der Mensch seinerseits beginnt langsam, sich auf diesen personalen Gott einzulassen. Gott wiederum bestätigt die Suche des Menschen, indem er seinen Namen preisgibt, es ist ein dialogisches Geschehen: „Ich-bin-da“ heißt einfach ausgedrückt: Es gibt mich. Ihr Menschen habt so lange nach mir gesucht, und nun zeige ich mich und offenbare der Welt, dass es mich gibt. Erst jetzt könnt ihr mich in dieser „Direktheit“ ertragen.

Dieser Gott führt das Volk Israel durch die Wüste in die Freiheit. Aber das Volk versteht nicht genau, was Gott von ihm will, es murrt. Da entschließt sich Gott – wenn man das so menschlich sagen darf – sich noch genauer der Welt zu zeigen: Er wird Mensch. Das ist die Auffassung des Christentums, dass Gott Mensch wird, genauer, dass der Logos Gottes, das Wort Gottes sich in der Person Jesu Christi inkarniert und sich der Welt zeigt. Auch hier heißt es: Als die Zeit erfüllt war,17 schickte Gott seinen Sohn. Vielleicht war jetzt eine neue Stufe der Reifung des Menschen erreicht, die ihn fähig machte zu dieser Begegnung. Diese Person Jesu Christi spricht nun den Gott Jahwe als seinen Vater an und gibt kund, was sein Auftrag in dieser Welt ist: Den Willen seines Vaters zu erfüllen. Meine Speise ist es, den Willen des Vaters zu erfüllen.18

4.2. Christliche Spiritualität für den Menschen

Diese Grundhaltung Jesu Christi, den Willen seines göttlichen Vaters erfüllen zu wollen, sollte auch Vorbild sein für jeden Christen. Die Frage ist, warum der Mensch das tun sollte und was er dabei gewinnt (so fragen oft Jugendliche). Was bedeutet das konkret? Ist das nicht Fremdbestimmung, wenn der Mensch den Willen eines anderen erfüllen soll? Innerhalb dieser Welt ist das so. Wenn der Mensch den Willen eines anderen erfüllen muss (im Büro, in der Familie, im Geschäftsleben), dann ist das oft ein Stück Fremdbestimmung.

Bei Gott aber ist es genau umgekehrt. Gott ist nicht der Raum-nehmende, wie der Mensch, sondern Gott ist Raum-gebend. Daher wird der Mensch überall dort, wo er den Willen Gottes findet und in die Tat umsetzt, mehr er selbst, er findet mehr seine Identität und mehr seine je individuelle Berufung. Durch die täglich neue Erfüllung des göttlichen Willens, wird der Mensch immer mehr er selbst. Das heißt, er kann und sollte sich immer neu überschreiten auf diese andere göttliche Person hin, um sich selbst zu finden und bei sich zu sein. Im Inneren des Menschen und nach außen hin wohnt ein dialogisches Prinzip.

Nach innen hin formuliert es Augustinus so, dass Gott ihm innerlicher ist, als er sich selbst je sein kann, und Pascal ergänzt, dass der Mensch den Menschen um ein Unendliches überschreitet. Das heißt, der Mensch darf nicht bei sich selbst stehen bleiben, sondern muss sich immer neu überschreiten in eine unbekannte Zukunft hinein. Er soll ganz konkret aus drei Talenten sechs machen und aus zwei Talenten vier, das heißt er soll mitschöpferisch in dieser Welt tätig sein und in etwas für ihn noch Unbekanntes hineinwachsen sowie Neues hinzugewinnen, was er bisher noch nicht hatte. Er ist für sich selbst nicht genug, er soll wachsen und zunehmen, er soll immer tiefer hineinwachsen in diese andere Dimension des Göttlichen. Was gewinnt er dabei, könnte man noch einmal fragen. Und die kurze Antwort kann lauten: Durch dieses je neue sich selbst Überschreiten nach innen hinein und auf den anderen zu, kommt er in einen dynamischen Prozess, der ihn sich selbst schrittweise finden lässt und ihn seine innere Freiheit, seine Berufung, seinen inneren Frieden und seine Identität finden lässt. Und hier kommen wir wieder zum zentralen Thema dieses Artikels zurück: Medizin und Spiritualität, Heil und Heilung, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

5. Genetik, Epigenetik und die Geiststruktur des Menschen

Der Mensch kann nur leben, weil in jeder Sekunde milliardenfache physiologische Abläufe miteinander koordiniert werden: Das Herz schlägt von selbst, die Verstoffwechselung der Nahrung geschieht von selbst, die Reparatur und Aussonderung von schadhaften Zellen im Körper geschieht von selbst, das Immunsystem wehrt in jeder Sekunde Bakterien, Viren, Pilze und andere Schadstoffe ab, auch das geht von selbst. Gesundheit und Krankheit sind also immer ein dynamisches Geschehen, Gesundheit muss immer wieder neu hergestellt werden, es ist ein dauernder Auseinandersetzungsprozess mit der Umwelt und der Innenwelt des Menschen.

Ganz physiologisch gibt es im Menschen Bakterien, die zum Teil sehr nützlich sind (Darmbakterien), aber auch schädlich sein können. Die schädlichen müssen vom Immunsystem bekämpft werden. Das Immunsystem ist an den meisten Krankheiten beteiligt. Bei Infektionskrankheiten und zum Teil auch bei Krebserkrankungen reagiert es relativ zu schwach, bei Allergien reagiert es zu stark und bei Autoimmunerkrankungen richtet es sich gegen den eigenen Körper.

Manche dieser Mechanismen sind bekannt, andere sind unbekannt. Man kennt zum Teil die genetischen Hintergründe der Funktionen des Immunsystems und auch manche genetischen Hintergründe von Krankheiten. Zum Beispiel hat jede Krebserkrankung einen genetischen Hintergrund.19 Gene aber müssen aktiviert und inaktiviert werden, d. h. nicht jede genetische Veränderung führt auch schon zu einer Krankheit. Nur aktivierte angeschaltete geschädigte Gene lösen eine Krankheit aus. Und die zentrale Forschungsfrage heute ist, wer die „Hand am Schalter“ hat, d. h. welche Einflüsse die Aktivierung und Inaktivierung von Genen steuern.

Nun wurde oben schon ausgeführt, dass die Umgebung der Gene (sowohl die direkte Umgebung auf den Chromosomen als auch die weitere Umgebung in der Umwelt) Einfluss hat auf die Schaltungen der Gene. Was noch zu wenig untersucht ist, ist der Einfluss der Innenwelt des Menschen mit seinem Denken und Fühlen auf die genetischen Verschaltungen. Gerade zu diesen Einflüssen des Innenlebens auf die Gene gibt es noch einen großen Forschungsbedarf. Man weiß allerdings schon ganz allgemein, dass der menschliche Geist die Materie verändert. Zum Beispiel wusste man schon vom sogenannten Lügendetektor, dass der Mensch, der lügt, anfängt leicht zu schwitzen. Und dieses Schwitzen kann man durch Messung des Hautwiderstandes sichtbar machen und dadurch indirekt auf die Lüge schließen. Heute kann man mit Computertomographien Vorgänge im Gehirn darstellen und zeigen, wie sich die Gehirnaktivität beim Denken und beim Fühlen verändern. Geist also verändert Gehirnstrukturen und diese Veränderungen wirken sich aus bis in die genetischen Verschaltungen hinein.

Wenn man jetzt von der naturwissenschaftlichen Sicht den Überstieg wieder zurück macht in die oben beschriebene geistige Dimension des Menschen und nicht mehr nur vom materiellen Gehirn spricht, sondern vom Geist und von den Gedanken des Menschen, die schon immer auf das Absolute ausgerichtet sind, kann man die Zusammenhänge folgendermaßen zusammenfassen: Das Absolute ist aus christlicher Sicht ein lebendiges personales Gegenüber. Dieses Gegenüber findet sich als Grund allen Seins als Schöpfer der Welt, und es findet sich auch im Inneren des Menschen als göttlicher Geist (Heiliger Geist). Dieser Geist ist dem einzelnen Menschen innerlicher als er sich selbst ist. Und dieser göttliche Geist zeigt sich auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Biblisch heißt das: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.20 Wenn es dieses Absolute gibt, dann ist es überall (indirekt) da: als Grund der Welt und als tiefster Grund im Menschen als Seelengrund (daher kommt auch der Begriff „Grund“: vom Seelengrund im Menschen).

6. Der letzte Grund – der personale Gott

Wenn dieser Grund „da“ ist, dann kommt es für den Menschen darauf an, ob er sich diesem letzten Grund zuwendet und sich ihm gegenüber öffnet oder verschließt. Das ist in gewisser Weise seine freie Entscheidung, allerdings ist diese Freiheit nur relativ, denn wenn das Leben des Menschen gelingen soll, sollte er sich dem Positiven und Guten zuwenden: Denn es macht auch in den Auswirkungen einen Unterschied, ob der Mensch sich auch in alltäglichen Dingen mehr der Wahrheit öffnet oder der Lüge, ob er sich mehr dem Guten zuwendet oder dem Bösen.

So macht es auch einen Unterschied, ob der Mensch sich dem guten Gott zuwendet oder sich ihm verweigert. Der Mensch kann – schon von der Logik menschlichen Denkens her – das Böse nur als Abweichung vom Guten interpretieren und nicht umgekehrt das Gute als Abweichung vom Bösen. Und so kann er auch die Lüge als Lüge nur von der Wahrheit her beurteilen lernen. Der Orientierungsmaßstab ist immer das Positive, selbst wenn man es nicht immer genau bestimmen kann. Wenn aus christlicher Sicht das Gute eine gute Person ist (Warum nennst Du mich gut, niemand ist gut außer Gott dem Einen),21 und die Wahrheit ebenfalls eine Person ist (Ich bin die Wahrheit),22 dann hängt das Gelingen des Lebens unter anderem davon ab, ob der Mensch sich diesem Guten und der Wahrheit zuwendet oder nicht.

Der Mensch ist ein Stück weit seines Glückes Schmied. Schon aus sich selbst heraus ist er zum Guten unterwegs, weil er – allem Anschein zum Trotz – doch mehr nach dem Guten als nach dem Bösen und mehr nach der Wahrheit als nach der Lüge strebt, weil sonst der Alltag kaum zu bewältigen ist. Wenn der Mensch mehr lügt als die Wahrheit spricht und wenn er mehr nach dem Bösen trachtet als nach dem Guten, werden seine Beziehungen nicht glücken und wird sein Leben nicht gelingen.

7. Die innere Stimmigkeit als epigenetischer Einfluss

Dieses personale Gute und die personale Wahrheit sind also „da“, sie bewirken etwas in der Welt und der Mensch kann sich dieser Wahrheit zuwenden oder sich von ihr abwenden. Wenn er sich der absoluten Wahrheit, die nach christlicher Auffassung in der Person Jesu Christi in dieser Welt erschienen ist, öffnet und sich schrittweise auf einen Dialog mit dieser letzten Wahrheit einstellt, findet er seine eigene Wahrheit, seine Identität, sein eigenes Gutsein, seinen inneren Frieden, seine Freude, sein Fruchtbringen im Leben. Und dieser innere Friede, diese innere Stimmigkeit, die eine innere Lebensdynamik in sich enthält, führt auch zu einer Stimmigkeit zwischen Geist und Materie, zwischen Seele und Leib.

„Es ist Gestimmtsein als Übereinstimmung mit dem Rhythmus Gottes selbst, deshalb Zustimmung nicht nur zu seinem Sein, sondern zu seinem freien, je neu dem Menschen zuwehenden Wollen. Und erst durch diese Fügsamkeit ist es zuletzt auch das Stimmen im Menschen selbst, seine augustinische rectitudo, die ihn selber zum Werk des göttlichen Künstlers macht.“23

Es ist das sich je neue Einstimmen in den Rhythmus und den Willen Gottes. Dieses Einstimmen assoziiert Hans Urs von Balthasar mit den Begriffen „Schönheit“ und „Herrlichkeit“.

So wie die Gesundheit immer wieder neu hergestellt werden muss, so muss auch diese Stimmigkeit immer wieder hergestellt werden. Aus dieser Sicht der je neu zu erreichenden inneren Stimmigkeit definiert Balthasar den christlichen Glauben als ein Einstimmen der gesamten Existenz auf Gott und nennt ihn von daher Gehorsam. „Ist der Glaube Einstimmung und Anpassung der gesamten Existenz auf und an Gott, dann kann man den Glauben ebensogut Gehorsam nennen, und er ist es auch.“24 Dies ist aber weniger ein Gehorsam einer äußeren Autorität gegenüber, sondern Gehorsam der inneren Autorität des göttlichen Geistes gegenüber im Innersten des Menschen. „In existentieller Hingabe verlässt sich der Mensch auf einen anderen hin, verliert sich dabei aber nicht, sondern gewinnt in der Erfahrung des Geistes die tiefstmögliche Selbsterfahrung, Identität und Freiheit.“25

So gibt es einen geisteswissenschaftlichen Bereich und einen naturwissenschaftlichen, in dem es immer wieder um ein neues Einjustieren des Menschen geht: Spirituell gesehen sollte sich der Mensch immer wieder neu einstellen auf das Wirken des Geistes in ihm, und naturwissenschaftlich gesehen stehen Krankheit und Gesundheit in einem dauernden Wechselverhältnis. Gesundheit muss immer wieder neu hergestellt werden. Womöglich besteht nun zwischen beiden Bereichen eine Beziehung: Wenn der innere Geist auf die Materie einwirkt, dann sollte auch der innere Frieden und die innere Stimmigkeit auf der einen Seite sowie die innere Zerrissenheit, Angst, Unruhe, Unfrieden auf der andren Seite auf das Immunsystem und die genetische Verschaltung einwirken. Somit hätte auch die Ausrichtung des Menschen auf einen letzten Grund sowie seine Spiritualität Einfluss auf Krankheit und Gesundheit.

Mit diesem Ansatz könnte man nun auch die anderen Spiritualitäten vergleichen: den achtfachen Weg des Buddhismus, eine Zen-Meditation, esoterische Praktiken. Dabei mag es um Versenkung gehen, um das rechte Denken und Beten, um Wachsamkeit im Alltag, um das Üben des Meditierens, das Still-Werden, das in Sich-Hineinhorchen. Deshalb soll hier noch einmal zusammengefasst werden, was christliche Spiritualität meint: ein Still-Werden und In-Sich-Hineinhorchen, Sich-öffnen für den, den die Christen Gott nennen, fragen, was der Wille Gottes ist und diesen Willen je neu in den Alltag umsetzen (wie im Vater Unser gebetet wird: Dein Wille geschehe). Dieser Wille zeigt sich als äußerer Rahmen in den Zehn Geboten, dann aber auch im Innern des Menschen als innerer Friede, Stimmigkeit, Freude, Wahrhaftigkeit, Authentizität.

Es kommt darauf an, dass der Mensch seinen je eigenen Weg findet, seine Talente vermehrt, seinem Ruf folgt und so seine Identität und Berufung findet. Dies alles soll er tun auch im Dienst am Armen, Kranken und Benachteiligten.

Der Mensch soll zum Finden des göttlichen Willens auf seine inneren Seelenregungen achten und versuchen, dem guten Geist (dem Heiligen Geist) zu folgen. Dazu ist es sinnvoll, mehrmals am Tag etwas Stille von zehn oder fünfzehn Minuten einzulegen, um zu schauen, ob der Weg und die Richtung noch stimmt. Der Mensch kann leibhaftig erfahren, ob er mit dem göttlichen Willen eins ist, indem er dem tiefen Frieden des Herzens, der Freude, dem Enthusiasmus (en theos, in Gott sein) traut und folgt.

Die anderen Seelenregungen im inneren des Menschen stammen aus dem Egoismus und der Egozentrik sowie aus jenem Geist, der den Menschen vom Weg abbringen will. Es ist dies jener Geist, der stets verneint (Goethe). Diese letztgenannten „Geister“ bringen keinen inneren Frieden, sondern Getriebenheit, Angst, Trägheit, Lauheit, innere Entfremdung und Zerrissenheit. Ignatius von Loyola benutzt für die erste innere Seelenverfassung den Begriff des „Trostes“ und des inneren Friedens und für die zweite jenen der „Trostlosigkeit“, der Getriebenheit und der Unruhe. Gerade letztere Gemütslage der inneren Leere, Trägheit und Selbstentfremdung findet man auch bei der Beschreibung von Depressionen, die inzwischen Volkskrankheit Nummer eins zu werden drohen.26

Der Mensch hat es ein Stück weit in der Hand, diesen guten Geist herauszufinden und die Geister in seinem Inneren, d. h. seine Seelenregungen unterscheiden und interpretieren zu lernen. Die guten und friedenstiftenden Bewegungen der Seele soll er aufnehmen und jene, die ihn in Unruhe, Angst und Getriebenheit versetzen, beiseite lassen. Die innere Stimmigkeit, die innere Ausgeglichenheit und die innere Freude werden sich auch auf die Materie des Immunsystems und die genetischen Verschaltungen auswirken. Das heißt nicht, dass man mit „positivem Denken“ die genetischen Verschaltungen beeinflussen könnte (das mag im Einzelfall gelingen), sondern umgekehrt, dass man sein Leben neu ausrichten muss, um von dort her wieder den inneren Frieden zu finden. Ein zentraler Satz könnte lauten: Ohne Umkehr keine Heilung.

Das heißt nun nicht, dass ein „richtig ausgerichteter“ Mensch immer gesund ist und ein „falsch“ ausgerichteter immer krank wird. Krankheiten haben viele Ursachen, und es gibt viele Fremdeinflüsse durch die Umwelt und die Umgebung. Daher müssen organische Erkrankungen womöglich zunächst auch einer Operation, einer Bestrahlung oder einer medikamentösen Behandlung zugeführt werden. Die innere Umkehr allein vermag oft keine Heilung zu bewirken. Andersherum greift auch eine rein naturwissenschaftliche Therapie zu kurz, wenn der Mensch nicht auch sein Leben ändert. Dazu bedarf er womöglich einer Aufarbeitung der psychischen Hintergründe und der Grundfragen nach dem Sinn des Lebens und der Ausrichtung auf das Absolute, christlich gesprochen auf den göttlichen Willen, mit dem der Mensch in Einklang kommen sollte.

Ein Mensch, der im inneren dynamischen Frieden lebt, hat günstigere Voraussetzungen, dass auch sein Immunsystem und seine genetischen Verschaltungen besser funktionieren. So kann eine innere Umkehr zur Heilung beitragen, muss es aber nicht. Aber auch ohne Heilung ist eine innere Umkehr von Bedeutung, weil es sinnvoll ist, dass der Mensch sein Leben ordnet und möglicherweise seine Handlungsweise und seine Entscheidungen besser verstehen lernt. Im letzten geht es darum, über die organische, seelische und auch geistige Heilung hinaus als ganzer Mensch in allen Dimensionen des eigenen Lebens heil und ganz zu werden. Der Begriff „Heil“ im theologischen Sinn geht über eine irdische Heilung hinaus und meint das Heilsein und Ganzsein im Angesicht des ganz Heilen, des Heilands, des ewigen Gottes.

8. Zusammenfassung

Christliche Spiritualität bedeutet, sich auf eine tiefere Dimension des Lebens einzulassen. Diese Dimension zeigt sich nach christlicher Auffassung als ein personales Gegenüber. Der Mensch soll sich diesem personalen Gegenüber öffnen und sich von ihm führen lassen. Vorbild für ein solches sich Einlassen ist der Menschensohn, er lässt sich ein auf den Willen seines Vaters. So soll auch jeder Christ den göttlichen Willen suchen und finden. Nicht um einem fremden Über-Ich zu folgen, sondern um zu seiner tiefsten Identität, inneren Stimmigkeit, Berufung und Wahrheit zu finden.

Die Wahrheitsfindung des Menschen hat also dialogischen Charakter. Der Mensch soll hinhören auf das, was in ihm vorgeht, auf die „Stimme“ der Wahrheit in seinem Inneren. Wenn hier von „Stimme“ die Rede ist, dann ist das im übertragenen Sinne zu verstehen. Es hat nichts zu tun mit den Stimmen, die ein Schizophrener zu hören meint oder tatsächlich hört. Diese Stimme, von der hier die Rede ist, redet in der Weise des Schweigens, wie Heidegger es formuliert hat.

Diese innere „Wahrheitsstimme“ ist auch von anderen Stimmen des Vaters, der Mutter, des Über-Ich geprägt. Sigmund Freud meinte, diese Stimmen des internalisierten Über-Ich seien schon das ganze Gewissen. Theologisch muss man sagen, dass innerhalb dieser vielen Stimmen des Über-Ich auch die Stimme des Absoluten, die Stimme Gottes zu vernehmen ist. Sie kann und sollte von den anderen Stimmen unterschieden werden. Die geistliche Tradition nennt dies die Unterscheidung der Geister.

Der Mensch kann und soll diese Geister unterscheiden lernen, d.h. er kann die inneren Seelenregungen (also das, was in ihm vorgeht), daraufhin verstehen lernen, aus welcher Ebene seines Seins, aus welchem Geist sie aufsteigen: aus der Stimme des Ich, der Eltern, des Über-Ich, des Geistes, der stets verneint, oder aus dem göttlichen Geist. Die Stimme des göttlichen Geistes führt den Menschen, wenn er ihr folgt, zu tiefem inneren Frieden und Freude. Die anderen Stimmen führen ihn womöglich in innere Zerrissenheit, Fremdheit, Unfrieden, Angst.

Will man christliche Spiritualität mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften und der psychosomatischen Medizin zusammendenken, dann muss man – wissenschaftstheoretisch gesehen – zunächst die verschiedenen Zugänge zur Interpretation von Krankheiten auseinanderhalten und klar den naturwissenschaftlichen und psychosomatischen Zugang von den spirituellen Zugängen, die von der Theologie reflektiert werden, trennen. Dann aber sollte man sie komplementär wieder zusammendenken, da die verschiedenen Ebenen in dem einen Menschen gemeinsam ineinander verwoben vorkommen. Dies wollte der vorliegende Artikel versuchen: die spirituelle Dimension des Menschen mit der Frage der Interpretation von Krankheit und Gesundheit zu verknüpfen. Dazu wurden die aktuellen Erkenntnisse von Genetik und Epigenetik herangezogen und weiter gedacht.

Referenzen

  1. Tölle R., Psychiatrie. Einschließlich Psychotherapie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von R. Lempp, Zwölfte, neu verfasste und ergänzte Auflage, Berlin/ Heidelberg/ New York u. a. (1999), S. 12
  2. vgl. dazu Beck M., Seele und Krankheit. Psychosomatische Medizin und theologische Anthropologie, Schöningh Verlag, Paderborn u. a. (2003), S. 31 f.
  3. So z. B. im deutschsprachigen Raum: Hefti R., Bee J., Spiritualität und Gesundheit. Ausgewählte Beispiele im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis, Peter Lang Verlag, Bern (2012); Büssing A., Kohls N. (Hrsg.), Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, Springer Verlag, Berlin/ Heidelberg (2011).
  4. vgl. dazu: Mattick J. S., Das verkannte Genom-Programm, in: Spektrum der Wissenschaft (Dossier), Das Neue Genom, 1/2006, S. 26-33, hier S. 29 (Tabelle)
  5. Huether G., Doering St., Rüger U., Rüther E., Schüßler G., Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Ein erweitertes Modell des Streßreaktionsprozesses für das Verhältnis zentralnervöser Anpassungsprozesse, in: Kropiunigg U., Stacher A., Ganzheitsmedizin und Psychoneuroimmunologie. Vierter Wiener Dialog, Wien (1997), S. 126-139, hier S. 126
  6. Bauer J., Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. (2002)
  7. ebd., S. 136
  8. vgl. Riemann R., Neue Erklärungen für menschliches Verhalten, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013, S. 6-10
  9. vgl. Nestler E. J., Verborgene Schalter im Gehirn, Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2013, S. 23-29
  10. vgl. Fischer A., Die Epigenetik neuro-degenerativer Erkrankungen, Spektrum der Wissenschaft, Spezial 2/2013, S. 42-50
  11. Shanahan M. J., Freeman J., Vom Sozialverhalten zur DNA und zurück, Spektrum der Wissenschaft, Spezial 2/2013, S. 52-61
  12. Gen 32,30
  13. Ex 3,13-20
  14. Gen 32,26
  15. Gen 32,31
  16. ebd.
  17. Gal 4,4-7
  18. vgl. Joh 4,34
  19. vgl. dazu Beck M., Der Krebs und die Seele: Gen-Geist-Gehirn-Gott, Schöningh Verlag, Paderborn u. a. (2010)
  20. vgl. Mt 18,20
  21. Mk 10,18
  22. Joh 14,6
  23. Balthasar H. U. v., Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. I, Schau der Gestalt, Johannes Verlag, Einsiedeln (1961), S. 242
  24. ebd., S. 212
  25. ebd., S. 233
  26. So der Titel eines Buches als Frage formuliert: Kasper S., Möller-Leimkühler A. M., Volkskrankheit Depression? (hrsg. von Ehalt H. Ch.) Picus Verlag, Wien (2009)

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Mag. pharm. Matthias Beck
Institut für Systematische Theologie
Theologische Ethik, Forschungsschwerpunkt Medizinische Ethik
Schenkenstr 8-10, A-1010 Wien
Matthias.Beck(at)univie.ac.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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