Kind mit Verkühlung beim vertretenden Allgemeinarzt

Imago Hominis (2015); 22(3): 219-220

Eine Mutter sucht mit ihrer 13-jährigen Tochter einen praktischen Arzt auf. Das Kind sei seit 2 Tagen verkühlt, habe erhöhte Temperatur und sei müde. Andere Beschwerden oder Auffälligkeiten werden nicht genannt.

Der Arzt kennt weder Kind noch Mutter, da diese vertretungsweise und zum ersten Mal zu ihm kommen, weil deren Hausärztin auf Urlaub ist. Das Kind wird klinisch umfassend untersucht. Auffällig ist ein geröteter Rachen und abrinnender Schleim an der Rachenhinterwand. Das linke Trommelfell ist randständig leicht gerötet. Das Kind ist afebril. Beim Auskultieren der Lunge finden sich keine pathologischen Geräusche, jedoch fällt dem Untersucher auf, dass das Mädchen sehr mager ist. Die Rippen treten stark vor, sodass er kaum das Stethoskop flächig auflegen kann. Auf die Frage, ob dies schon länger so sei, bejaht dies die Mutter. Ein Gewichtsverlust in letzterer Zeit sei ihr nicht aufgefallen.

Der Arzt verordnet Inhalationen, schleimlösende Mittel und bestellt das Kind zwei Tage später (Freitag) zur Kontrolle, um zu sehen, ob eventuell doch wegen des Ohres oder sonstiger Verschlechterung ein Antibiotikum benötigt würde. Bei dieser Kontrolle, zu der das Kind mit seiner Großmutter kommt, ist das Trommelfell gebessert, der Rachen nicht mehr verschleimt, und auch die Lunge weiterhin frei. Es werden daher keine Antibiotika gegeben. Die von der Großmutter bei dem Kind beklagte Müdigkeit wird als Folge der Verkühlung und der zarten Konstitution des Kindes gedeutet.

Am folgenden Montag ruft die Großmutter aufgeregt und vorwurfsvoll den Arzt an und berichtet ihm, dass ihr das Kind am Wochenende zu müde und nicht gut vorgekommen war. Deshalb habe sie der Mutter gegenüber auf eine Spitalsaufnahme gedrängt, zu der es in der Folge gekommen war. Das Kind wurde in einem Universitätskrankenhaus aufgenommen. Im Rahmen der Blutabnahme bei der Aufnahme habe man einen Blutzuckerwert über 400mg% festgestellt, obwohl das Kind bei der Aufnahme im Bewusstsein nach wie vor unbeeinträchtigt war. Die Ärzte dort hätten ihr gesagt, dass durch diese Zuckerentgleisung die Gefahr eines Hirnödems mit einem bleibenden Gehirnschaden bestehe. Eigentlich hätte nach Meinung der Spitalsärzte der Kollege in der Praxis schnell reagieren müssen. Sie bedeutet dem Arzt, dass dieser an einer möglichen Schädigung des Enkelkindes schuld sei, weil er nicht sofort eine Einweisung veranlasst habe. Sie überlegt, ob sie den Arzt nicht anzeigen sollte.

Der Hausarzt erkundigte sich daraufhin in der Klinik nach dem Kind und erfuhr von dem behandelnden Oberarzt, dass es dem Kind gut geht. Es handle sich um einen juvenilen Diabetes Typ I. Angesprochen auf die geäußerten Vorwürfe meint der Oberarzt: Das sei natürlich Blödsinn und von einem unerfahrenen jungen Kollegen in Ausbildung geäußert worden. Der praktische Arzt meint daraufhin, die Ärzte sollten ihre Aussage vor den Verwandten korrigieren, was aber nicht geschehen ist.

Hingegen erhielt der Hausarzt einige Wochen später einen Brief von der Patientenanwaltschaft, in dem er aufgefordert wird, zu den Vorwürfen der Eltern des Kindes, er hätte fahrlässig gehandelt und die Gesundheit des Kindes gefährdet, Stellung zu nehmen. Der Hausarzt erkundigte sich nochmals in der Klinik nach dem Zustand des Kindes und erfuhr, dass es keine Komplikationen gegeben hätte.

Daraufhin verfasste der praktische Arzt einen Antwortbrief an die Patientenanwaltschaft, in dem er den Hergang genau schilderte und darauf hinwies, dass zum gegebenen Zeitpunkt auf Grund der Anamnese (kein Gewichtverlust in letzter Zeit, Halsinfekt) eine Blutzuckerbestimmung nicht zwingend indiziert war. Abgesehen davon habe das Kind keinen Schaden erlitten. Die Patientenanwaltschaft hat daraufhin noch ein Gutachten von einem Kinderarzt eingeholt. Dieser bestätigte, dass das Kind keinen Schaden erlitten hat. Seiner Meinung nach hätte der praktische Arzt jedoch das Kind an einen Kinderarzt überweisen sollen, denn dieser hätte sicher gleich an die Diagnose Diabetes gedacht. Kinder sollten daher generell nur von Kinderärzten behandelt werden und nicht vom praktischen Arzt.

Der Patientenanwalt erklärte daraufhin den Eltern, dass dem praktischen Arzt kein gravierender Fehler unterlaufen sei, zumal das Kind keinen Schaden erlitten habe. Es sei den Eltern aber unbenommen, trotzdem Anzeige zu erstatten.

Das haben die Eltern dann auch tatsächlich gemacht. Der praktische Arzt wurde daraufhin von der Polizei verhört und nach einigen Wochen des Bangens wurde das Verfahren eingestellt.

Bei einem Bezirksärztetreffen hat der praktische Arzt die Hausärztin der Familie getroffen. Sie erzählt, dass diese Familie immer schon eine Neigung zur Kritik an den Ärzten gehabt hat. Sie überlegt jetzt, ob sie nicht diesen Patienten nahelegen sollte, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. Beide Ärzte sind sich einig, dass auch das Verhalten der Klinikärzte nicht korrekt war.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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