Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2015); 22(3): 221-222
Titus Gaudernak

Klar ist, dass die Hausärztin nicht für Handlungen des sie vertretenden Allgemeinarztes, der ein Jus practicandi hat, haftet. Dementsprechend richteten sich auch alle Vorwürfe gegen den Vertretungsarzt. Die Schwerpunkte des Falles fokussieren sich auf das prinzipielle Arzt-Patientenverhältnis, auf die Fragestellung „was ist ein Fehler“, „was ist ein Schaden“ und „wofür haftet eigentlich ein Arzt“. Zwischen Arzt und Patient entsteht dadurch ein Behandlungsvertrag, dass der Patient – bei Minderjährigen mit seinem Berechtigten – den Arzt aufsucht und mit ihm direkten Kontakt aufnimmt. Die Besonderheit des Behandlungsvertrages besteht darin, dass der Arzt dem Patienten keinen Erfolg, aber eine Behandlung nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften (eine lege artis Behandlung) schuldet.

Ein bewusstes oder unbewusstes, unbegründetes oder nicht begründbares Abweichen von der „Regel“ wird als Fehlbehandlung bezeichnet. Der Oberste Gerichtshof definiert dazu: Jedes Fehlverhalten, das zu einer Schädigung führt, ist ein Behandlungsfehler (ein juridischer Begriff). Liegt keine Schädigung vor, dann ist auch kein Behandlungsfehler anzunehmen.

Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass es gar nicht einfach ist zu definieren, was ein Fehler und was ein Schaden ist. Aus der Erfahrung des Gerichtssachverständigen kann ein Fehler folgendermaßen definiert werden: ein Abweichen von der gebotenen Sorgfalt, die ein durchschnittlich ausgebildeter Arzt dem Patienten schuldet. Da eine Behandlung in verschiedenen Schritten erfolgt, sind auch in den einzelnen Behandlungsabschnitten Fehler möglich. Genannt sei als Beispiel ein Anamnesefehler. Im gegenständlichen Fall wurde die Anamneseerhebung gemeinsam mit der Mutter korrekt durchgeführt. Wird die Diagnose nicht korrekt erhoben, dann könnte ein Diagnosefehler vorliegen.

Der Vertretungsarzt erhebt bei der klinischen Untersuchung einen geröteten Rachen, abrinnenden Schleim, eine leichte Trommelfellrötung und eine ungewöhnliche Magerkeit. Er diagnostiziert offensichtlich eine banale Erkältung und bestellt das Kind zwei Tage später zur Kontrolle und kann feststellen, dass eine Besserung eingetreten ist. Ob das Kind bereits mit einer Krankengeschichte in der Ordination dokumentiert war, wird nicht erwähnt, wäre aber möglicherweise eine wichtige Anamneseergänzung (Dokumentationspflicht des Arztes). Die von der Großmutter geklagte Müdigkeit wird als Folge der Verkühlung und der zarten Konstitution des Kindes gedeutet. Tatsächlich aber war das Kind zu diesem Zeitpunkt ein Diabetiker und hatte wahrscheinlich auch bereits erhöhte Blutzuckerwerte. Lag also in diesem Fall ein Diagnosefehler, eine fehlerhafte Diagnose vor? Wichtig ist, dass ganz allgemein Behandlungsfehler, aber im speziellen Fall jetzt der Diagnosefehler, prinzipiell ex ante und nicht ex post zu betrachten sind (im Nachhinein weiß man immer alles besser).

Der Praktische Arzt hat aufgrund seiner umfassenden klinischen Untersuchung eine korrekte Diagnose gestellt und eine Behandlung eingeleitet, die die vorherrschenden Symptome der offensichtlich akuten Erkältung auch deutlich gebessert hat.

Die Frage, ob nicht der Arzt aber doch fahrlässig gehandelt hätte, machte es notwendig, die Begriffe „Fahrlässigkeit und Sorgfaltswidrigkeit“ zu diskutieren, zudem ja im Ärztegesetz auch die Sorgfaltspflicht des Arztes verankert ist. Man kann zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit unterscheiden und die leichte Fahrlässigkeit als eine Handlung, die gelegentlich auch einem sorgfältigen Menschen passieren kann, einstufen und die grobe Fahrlässigkeit, als eine Handlung, die einem sorgfältig handelnden Menschen nie passiert. Eine grobe Sorgfaltswidrigkeit liegt also dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte Erkenntnisse verstößt und einen Fehler begeht, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, da er einem Arzt einfach nicht unterlaufen darf.

Die Patientenanwaltschaft erklärt dann den Eltern auf Basis eines fachärztlichen Gutachtens, dass dem Praktischen Arzt kein gravierender Fehler unterlaufen sei, zumal das Kind keinen Schaden erlitten habe.

Als nächstes soll hier der Begriff des „Schadens (juristisch: Schade)“ beleuchtet werden. Dabei kann ABGB §1293 und ABGB §1325 zitiert werden: Jeder Nachteil, der jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist, ist ein Schade, und der Schädiger haftet für Heilungskosten, Verdienstentgang und Schmerzengeld.

Nachdem die Eltern aber offensichtlich in der Annahme, dass ein strafbarer Tatbestand vorliege, auch bei der Polizei Anzeige erstattet haben, ist auch die Frage zu diskutieren, wofür ein Arzt eigentlich haftet. Vereinfacht müssen für die Haftung des Arztes wesentliche Kriterien vorliegen:

  • Ein Verschulden in Form einer Fehlbehandlung, einer Fahrlässigkeit oder Sorgfaltspflichtverletzung.
  • Ein Schaden, der durch die Behandlung oder durch die Unterlassung einer gebotenen Maßnahme entstanden ist.
  • Es muss eine Kausalität vorliegen.

Unter Kausalität ist zu verstehen, dass die Handlung oder Unterlassung nicht weggedacht werden kann, ohne dass nicht auch der Schaden entfallen würde.

Umgelegt auf den gegenständlichen Fall ist in Übereinstimmung mit der Tatsache, dass das Verfahren eingestellt wurde, festzustellen, dass kein Schaden durch die möglicherweise zu benennende Sorgfaltswidrigkeit des Praktischen Arztes entstanden ist. Der Arzt haftet natürlich nicht dafür, dass das Kind Diabetiker ist.

Man kann sich auch die Frage stellen, „welche Wissenskriterien und Ausbildungskriterien an einen Arzt anzulegen sind“, da ja zweifellos Ärzte an einer Universitätsklinik einen anderen Kenntnisstand über bestimmte Krankheitsbilder haben als ein niedergelassener Praktischer Arzt.

Erfahrungsgemäß werden an Ärzte hohe Anforderungen gestellt, es werden  ihnen außergewöhnlicher Fleiß und außergewöhnliche Kenntnisse unterstellt. Trotzdem ist für die Beurteilung des Wissens, das ein Arzt haben müsste, ein durchschnittlich ausgebildeter Arzt in der jeweiligen Fachrichtung heranzuziehen. Die Fragestellung für die Beurteilung lautet daher: „Wie würde ein durchschnittlich ausgebildeter Arzt in dieser Situation entscheiden bzw. zu entscheiden haben?“

Zu der im Gutachten des Kinderarztes gemachten Äußerung: „Kinder sollten generell nur von Kinderärzten behandelt werden und nicht vom Praktischen Arzt“, muss auf die Gefahr der „Überspezialisierung“ hingewiesen werden.

Ob ein praktizierender niedergelassener Arzt Patienten ablehnen kann, wie es im letzten Absatz anklingt, kann prinzipiell bejaht werden, wenn es sich nicht um einen Notfall mit Behandlungspflicht handelt. Allerdings würde eine solche Maßnahme gerade im ländlichen Bereich unter Umständen negative Auswirkungen haben.

Insgesamt zeigt sich an diesem Fall, dass Mediziner zunehmend mehr in juridische Probleme involviert sind, wobei die Verständigung zwischen Juristen und Medizinern oft schwierig sein kann.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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