Tapferkeit als ärztliche Tugend

Imago Hominis (2001); 8(4): 291-295
Oswald Jahn

Zusammenfassung

Im ärztlichen Beruf bedeutet Tapferkeit sowohl aktives Einschreiten „aggredi“ bei notwendigen, auch mit Risiko verbundenen therapeutischen Eingriffen, als auch Wartenkönnen „resistere“ bei unnötigen oder falschen Maßnahmen. Immer ist der Schutz der persönlichen Integrität des Patienten - vom Einzeller bis zum Toten - die Richtlinie für den Arzt, der auch seine eigene Gesundheit in die Wagschale wirft, allerdings unter Einhaltung der notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft kann ebenfalls bei Begehren der Patienten oder Angehörigen zu Konfliktsituationen führen, wo die Tapferkeit notwendig wird.

Schlüsselwörter: Fortitudo, Starkmut, Arztberuf, Heroismus, Risikobewusstsein, Wartenkönnen, Verantwortung, Arzt-Patient-Verhältnis

Abstract

Working as a medical doctor needs both: „aggredi“ – activity, starting a necessary intervention even when a risk con not be excluded, „resistere“ – passivity, when an intervention is unnecessary, false or can be delayed. The main goal of every action is the integrity of the personality af his patient, from the conception to the dead patient. Also the possible risk of his own health can be demanded, with proper precaution measurements. His responsibility against the society can causes problems, where bravery is necessary.

Keywords: fortitudo, bravery, medical profession, heroism, risk-awareness, perseverance, resposibility, physician-patient-relation


Einleitung

Die dritte der Kardinaltugenden wird laut Brockhaus als „Ausharren und Ertragen misslicher, schwieriger, Situationen, wie Schmerz, Leid, Schmähung, etc.“ definiert. Erinnert man sich an Geschichten, die man als Kind gelesen hat, wie Ritter- oder Heldensagen, oder auch Märchen – z.B. „das tapfere Schneiderlein“, so steht hier im Vordergrund der Angriff, die Aktion, die Tätigkeit. Die lateinischen Begriffe sind für beide Aktionen „aggredi“ resp. „resistere“. Ausharren und Angreifen – in Angriff nehmen – sind die beiden Stoßrichtungen der Tapferkeit, Mut wird durch Klugheit vervollkommnet. Ohne Klugheit wird Tapferkeit zur Tollkühnheit und ohne richtiges Ziel zu Fanatismus. Tapferkeit heißt auch, eine Sache zu Ende zu führen, „Schlusssteine zu setzen“. Auszuharren ist schwieriger als anzugreifen – sustinere difficilius ist quam aggredi – weil Beharrlichkeit gefordert ist, „man gibt gerne nach, man ist bequem, man wird müde.“

Der äußerste Grad der Tapferkeit verwirklicht sich in der Selbsthingabe, die sich im Leben bis zum Martyrium steigert, eine Situation, die „normale“ menschliche Leistung weit übersteigt.

Pieper nennt als Voraussetzung der Tapferkeit die metaphysische Tatsache der Existenz des Bösen, das durch Verwirklichung des Guten bekämpft und überwunden werden sollte. Die Notwendigkeit der Tapferkeit ergibt sich somit aus den Widrigkeiten, die sich erfahrungsgemäß der Erreichung des Guten entgegenstellen.

Was bedeutet für den Arzt „das Gute“? Wo tritt er dafür ein, wo muss er dies verteidigen?

Ziel des Arztseins ist die gute und richtige Behandlung seines Patienten, unter Berücksichtigung von dessen Person, dessen Wünschen, dessen Möglichkeiten und dessen Umfeldes.

Ausbildungszeit

Jedem jungen Studenten, der vor der Berufswahl steht, müsste klar sein, dass Arzt-werden allein schon ein Ausharren in schwierigen Zeiten bedeutet, um sein Ziel zu erreichen, ärztlich zu arbeiten:

Massenstudium, Warten auf einen Ausbildungsplatz, Warten auf eine Anstellung. Bei jeder dieser Stationen wird Tapferkeit gefordert. Für den Studierenden stellt sich primär die Frage, ob er die Prinzipien des Arztseins, jeder ärztlichen Handlung: der Schutz und die Bewahrung jedes menschlichen Lebens vom Anfang bis zum Ende, der Zeugung bis zum Tod, vom Einzeller bis zum Hirntoten, die Begleitung des Kranken bis zum Ende, die Ehrfurcht vor dem menschlichen Körper, das Mittragen und Mitleiden – nicht nur Mitleid – auf sich nehmen will und dies auch verteidigen möchte.

Schon als Student sieht man sich Situationen gegenüber, wo Zivilcourage gefordert ist, wenn die Ehrfurcht gegenüber einem Patienten oder auch einem Toten nicht entsprechend eingehalten wird. Der Patient wird als gewöhnliche Sache degradiert, es wird ein biologisch mechanistisch funktionierender Körper, ein Zusammenspiel von Zellen gesehen, dies oft auch von Lehrern, die ihre Ideen, ihre Forschungen, ihr eigenes Ansehen höher werten und die Würde des ihm anvertrauten und ihm vertrauenden Patienten zurückstellen. Dieses Einhalten des Respekts bedeutet dann in solchen Situationen für den Studenten von den Kollegen als verschroben angesehen zu werden.

Prof. Antoine verwies bei der Vorstellung eines Patienten gegen Ende seiner Vorlesung auf den Spruch im Hörsaal der ehemaligen 1. chirurgischen Universitätsklinik – „praesente aegroto, effudit risu, taceant colloquia...“ – weil die allgemeine Unterhaltung begann, obwohl noch ein Patient als Beispiel anwesend war. Mancher Student riss weiter seine Witze und war vom Lehrer nicht zu überzeugen – jedoch von einem Mitstudenten, der hier doch Tapferkeit bewies, als er die Störenfriede zurechtwies.

Die Zeit nach der Promotion, die sozusagen „nutzlos“ verstreicht, weil für den Arzt in Österreich keine Arbeitsmöglichkeit besteht, erfordert ganz bewusstes Ausharren und Ertragen. Manchmal könnte ein Posten angetreten werden, wenn dem Arzt Pflichten auferlegt werden, die gegen sein Gewissen gerichtet sind: z.B. die Mithilfe bei Abtreibung, ev. auch die Durchführung, die Ausführung widersinniger oder schädlicher angeordneter Medikationen, bei deren Nichterfüllung eine Abweisung oder die Kündigung droht. Die Folge sind Zeitverlust und Arbeitslosigkeit. Das Eingeständnis bzw. das Stehen zu humanitären Prinzipien ist hier als ein großartiger Akt von Tapferkeit zu sehen. Ebenso ist die bewusste Nutzung dieser Zeit zur Weiterbildung, eventuelle Tätigkeiten im Ausland ein Zeichen und eine Hilfe beim Ertragen dieser misslichen Situation.

Tägliche Herausforderungen

Für die Tapferkeit ist die Verwundbarkeit Voraussetzung (Pieper).

Wo kann der Arzt verwundet werden?

Beginnen wir mit dem leiblichen Wohl des Arztes:

Gegen viele Infektionen gibt es Schutz durch Impfungen; solche Schutzmaßnahmen nicht einzuhalten bzw. durchzuführen wäre Waghalsigkeit, Verwegenheit, Vertrauen auf „sein Glück“. Solche Schutzmaßnahmen gibt es nicht gegen Hepatitis C oder HIV-Viren. Bedeutet es Tapferkeit, solche Patienten zu betreuen? Mancher Arzt verlangt als Bedingung seiner Behandlung einen negativen Test, ehe er ärztlich handelt. Wenn er den Patienten abschiebt und nicht behandelt, ist das wohl kein Zeichen von Tapferkeit. Der geforderte Test kann dagegen als Schutzmaßnahme und besondere Sorgfalt gewertet werden. Vor einer möglichen Infektion bei der Behandlung wird er hier entsprechende Handschuhe tragen, einen Gesichtsschutz, etc. Es gibt viele Beispiele von Ärzten, die sich bewusst um solche Patienten kümmern. Probleme könnten auch in Notsituationen, z.B. bei Unfällen oder bei der Reanimation unbekannter Patienten bestehen, da hier sofortiges Handeln notwendig ist und die Selbsthingabe gefordert wird.

Andere Ärzte gehen in Seuchengebiete, in Krisengebiete, nehmen also bewusst das Risiko der eigenen Verwundbarkeit auf sich. Deren Tapferkeit empfängt „Sinn durch Bezogenheit auf das Gut, die Gesundheit des Anderen“. Sie begeben sich aber nicht blind in diese Gefahr, sondern bereiten entsprechende Maßnahmen vor, durch Klugheit geleitet, sodass sie nicht hasardieren, sich auf „ihr Glück" verlassen und blind in die Gefahr laufen. Aus menschlicher Überlegung heraus ist dies wohl nicht als Tapferkeit sondern eher als Waghalsigkeit und Tollkühnheit zu werten. Tapferkeit ist nicht Furchtlosigkeit, lebensmüde Gleichgültigkeit oder Blindheit gegenüber den Gefahren. Bei solchen Entscheidungen setzt sich der Arzt über seine Ich-Zentriertheit hinweg und zeigt Bereitschaft zum Angriff, zu Mut, Selbstvertrauen und Hoffen auf Gelingen seiner Handlungen. Solche heroischen Entscheidungen kommen selten von selbst, sondern ergeben sich aus der Einstellung des Arztes und werden durch richtige Entscheidungen in den „kleinen Dingen“ aufgebaut – dies erfordert realistischen Optimismus.

Auch die soziale Stellung des Arztes ist durch das Eingebundensein in hierarchische Strukturen – das Gesundheitswesen, die Abhängigkeit von Krankenkassen, Ärztekammern, Behörden – und auch von den Patienten angreifbar und beeinflussbar. Anordnungen von oben, die dem Gewissen des Arztes widersprechen, sowie Wünsche von Patienten mit ungehörigem Begehren (krankschreiben, Kurantrag, Zeugnisse, Medikamentenverschreibung – Pille) können das Weiterbestehen von Verträgen, Honorierung und Behandlungsfortführung, letztlich die Existenz des Arztes verändern. Kleinmütiger, ängstlicher Passivismus, Nachgeben in Konflikten auf Kosten der Wahrheit und der Fakten ist letztlich „Feigheit vor dem Feind“. Wird dem Begehren des Probanden, „krank geschrieben“ zu werden nicht nachgegeben, so verliert der Arzt nicht nur einen Patienten, sondern auch die Familienmitglieder und deren Freunde – ein nicht unbeträchtlicher Verlust.

In der informativen Zeit, wo für den Arzt Richtlinien nach Statistik, „state of the art“ oder „evidence based medicine“ gelten, deren Korrektheit oft nur schwer überprüfbar sind, bedeutet es ein gewaltiges Maß an Standhaftigkeit und Tapferkeit, die eigene Verantwortung in die Patientenbehandlung einzubeziehen. Als Arzt könnte man leicht den Boden unter den Füßen verlieren, wenn man diese Änderungen ohne genaue Überprüfung mit dem Mut zur Relativierung in das eigene Therapieschema einplant.

Da das Sicherheitsbedürfnis des Patienten den Ausschluss jedes möglichen Risikos erfordert, steht der Arzt bei seinen therapeutischen Maßnahmen oft vor dem Problem, zu viele und dem Risiko nicht angepasste Medikamente zu geben, z.B. bei beginnendem Schnupfen mit hochdosierter Antibiotikakombination einzuschreiten. Solche Maßnahmen nicht einzuleiten, kann Schwierigkeiten verursachen, wenn die weitere Kontrolle unterbleibt, andererseits kann eine Übertherapierung zu Nebenwirkungen führen, die weit gefährlicher sind als die Ersterkrankung. Hier spielt neben dem Wissen und der Erfahrung des Arztes das Standhalten eine wichtige Rolle, die man als Tapferkeit ansehen muss.

Auch das Eingestehen einer falschen Maßnahme, sei es unbewusst oder aus Mangel an Wissen, oder eines Misserfolges erfordert das Überwinden der Ich-Bezogenheit, das Annehmen auch widriger Ereignisse. Man könnte dies oft auch als eine unvorhergesehene Komplikation bezeichnen, die aber dem Patienten vorher mitgeteilt werden sollte. Meist ist vor Eingriffen eine umfassende Aufklärung gefordert, die eher zur Entmutigung des Patienten führt. Wenn dies nach Check-Listen-Mentalität erledigt wird, führt das zur Verängstigung des Patienten und zum Verlust des nötigen Vertrauens. Das korrekte und komplette Erklären aller Möglichkeiten erfordert Zeit und Geduld des Arztes, auch den Mut, das Unangenehme auszusprechen – aber mit der einfühlenden Ausdauer und einem fast unendlichen Verständnis für den Patienten. Es ist schwer, das positive Denken aufrecht zu halten, den Optimismus dem Patienten nicht zu nehmen durch die Aufrechterhaltung der Hoffnung und Geduld, speziell bei lästigen Patienten, die sich als „mündige“ gleichberechtigte Partner betrachten oder schon die Flinte ins Korn geworfen haben.

Visitenzeiten bei aussichtslosen Patienten sind nach mehreren Untersuchungen kürzer, seltener und oberflächlicher. Hier wird das „Ich-Bewusstsein“ des Arztes durch das Eingeständnis des Versagens geschädigt; er muss seine Machtlosigkeit anerkennen und über diese Schwachstelle siegen, indem er der Situation standhält und auch hier die Behandlung, den Kontakt weiter in ausreichendem Maß, vielleicht bewusst etwas vermehrt durchführt und der Versuchung standhält, bis zum Ende auszuharren und an der Seite des ihm anvertrauten Patienten zu stehen.

Schwierigkeiten hat man als Arzt, einem Patienten eine negative Situation zu erklären; meist spricht man mit Angehörigen, lässt den Patienten in der Unwissenheit, sodass er wichtige Entscheidungen hinausschiebt oder überhaupt nicht trifft. Es ist Vermessenheit, die Diagnose einer tödlichen Krankheit einfach wie einer banalen Infektion dem Patienten ins Gesicht zu schleudern – damit muss ja jeder einmal rechnen! – Je besser das Arzt-Patient-Verhältnis, desto eher gelingt es dem Arzt, hier alle Details mitzuteilen und weiterhin auch die Hoffnung und die Ausgeglichenheit beim Patienten zu erhalten. Worauf kann sich dann der Arzt berufen, wenn er nicht den Rückhalt der Religion, das Wissen um die letzen Dinge und den Glauben daran selbst besitzt? Wie kann er dem Patienten den Weg durch das Tor des Todes in die Ewigkeit sonst erklären, erleichtern, ja als Krönung seines Lebens darstellen? Das Überhandnehmen des Rufes nach Euthanasie, das schmerzlose rasche Abtreten aus dieser Welt ist ohne Glauben einigermaßen verständlich und hat in einer lustbetonten Gesellschaft entsprechend Platz bekommen.- Die Schizophrenie der Jetztzeit, siehe das neue Gesetz der Niederlande, die das Vernichten „unwerten Lebens“ im „dritten Reich“ verurteilt, fordert 50 Jahre danach diese Maßnahme vom Arzt, der damit zum Handlanger des Todes, zum Mörder wird. Die holländischen Erfahrungen verursachen mehr als nur Gänsehaut, noch mehr schockt das in der Presse bekannt gemachte Ergebnis einer Umfrage mit der Mehrheit der Befürworter der Euthanasie! Hier wird jedoch das mutige Einschreiten des Arztes gegen solche Ansinnen gefordert, speziell gegen Wünsche von Angehörigen. Er muss das Wohl des Patienten im Auge behalten gegenüber Aussagen wie: „die arme Tante muss ja nur mehr leiden, können sie dies nicht abkürzen, ihr Leben hat keinen Sinn mehr“ – solche Argumente werden nicht selten an Arzt und Krankenschwester herangetragen, um nicht nur das Begehren des Erbens zu verdecken! – dass hier auch Verleumdungen des Arztes, ja einer gesamten Station eines Spitals passieren können, die vielleicht auch gerichtlich verfolgt werden, dies sind Konsequenzen, die über die erste der drei Stufen der Tapferkeit nach Pieper hinausgeht.

Tapferkeit durch Starkmut sind für den Arzt in keiner Zeit verzichtbar. Das Bekenntnis zum Menschen als zu schützende und richtig zu behandelnde Person vom Beginn des Lebens als „Einzeller“, als Person, die hier als neues und unwiederholbares Leben beginnt, bis zum letzten Atemzug begleitet jede ärztliche Handlung; dieses Charisma sollte auch das Leitbild für einen guten Arzt sein und bleiben.

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Anthropologie und Bioethik
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