Die Tugend der Gerechtigkeit

Imago Hominis (2001); 8(4): 283-290
Rupert Klötzl

Zusammenfassung

Zur Umsetzung der Tugend der Gerechtigkeit in der ärztlichen Praxis ist eine Analyse ihrer Grundgestalten unumgänglich. Dabei zeigen sich zwei Aspekte: Gerechtigkeit dem Einzelnen und dem Gemeinwesen gegenüber. Diese Bereiche werden näher beschrieben. Gerecht kann es in einem Gesundheitswesen nur dann zugehen, wenn der Einzelne das bekommt, was ihm in vielerlei Hinsicht zusteht. Andererseits müssen die vorhandenen Ressourcen innerhalb des Gemeinwesens gerecht verteilt werden. Die Lösung der dabei auftretenden Fragen und Probleme erfordert ein immer neues Ringen der Entscheidungsträger in der je einzelnen Entscheidungssituation. Allgemeingültige Kriterien lassen sich dabei nur begrenzt aufstellen. Durch das individuelle Gerechtigkeitsstreben kann der Quantensprung von persönlich unbeteiligter Befolgung von Prinzipien hin zur Menschlichkeit bewältigt werden. Das äußere Tun ist dann Ausdruck einer inneren Bejahung. Es ist die Verwirklichung des in der konkreten Situation Bestmöglichen und damit des Guten.

Schlüsselwörter: Tugendethik, Gerechtigkeit und ihre Grundgestalten, Zuteilung der Güter (med. Ressourcen), Gesundheitswesen

Abstract

The transposition of the virtue of justice in medicinal matters makes an analysis of it’s basic forms absolutely necessary. Two aspects must be taken into account: justice for the individual and justice for society. Justice in a health system can only be realized if the individual receives everything he is in all cases entitled to. On the other hand all the resources in a given society must be distributed in a just manner. The solution to the many question and problems which thereby arise require ever renewed struggling on the part of the decision maker in each individual situation. General criteria for this purpose can only be marginal. The quantum jump from the personal disassociated following of principles to humaneness can only be brought about by an individual personal striving towards justice. Then the external action becomes an expression of the interior affirmation. It is the realization of the best possible in a concrete situation and therefore good.

Keywords: Virtues ethics, justice and it’s basic forms, distribution of medical resources, health organizations


I. Allgemeine Grundlagen

Gerechtigkeit ist die Haltung, kraft derer einer standhaften und beständigen Willens einem jeden sein Recht zuerkennt.1 „Jedem das Seine“ ist die klassische Definition. Das Recht ist also Gegenstand der Gerechtigkeit und liegt dieser voraus. Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, bei der es um das Verhältnis zu den anderen geht. Als Tugend ist es jene willentliche Haltung, die jedem das Seine, das ihm unabdingbar Zustehende, geben lässt, eine Kardinaltugend des Willens. Wo es auf seiten des Partners nichts ihm Zustehendes gibt, besteht auch keine Gerechtigkeitspflicht.

Der letzte Grund, warum jemand etwas zusteht, liegt darin, dass er als geistiges Wesen erschaffen ist. „Das Zustehen meint so etwas wie Zugehören und Gehören. Ein nichtgeistiges Wesen aber kann nicht eigentlich etwas ihm Gehöriges haben.“2

Die Unabdingbarkeit, jedem zu geben, was ihm zusteht gehört so sehr zum Richtigsein des Menschen, „dass, wer das Zustehende nicht gibt, wer es vorenthält oder raubt, sich selbst verwundet und entstellt; er ist es, der etwas verliert, der sogar im äußersten Fall sich selbst zerstört. Es geschieht ihm jedenfalls etwas unvergleichlich Schlimmeres als dem, der Unrecht erleidet: so unverletzlich ist das Recht, so sehr behauptet sich die Unabdingbarkeit des Zustehens.“3

Wir müssen uns also fragen, worauf der Patient ein Recht hat, das sich letztlich aus der Natur seiner Geschaffenheit ableitet.

„Weil der Mensch Person ist, das heißt, ein geistiges, in sich ganzes, für sich und auf sich hin und um seiner eigenen Vollkommenheit willen existierendes Wesen – darum hat er unabdingbar ein suum, ein ‚Recht‘, gegen jedermann vertretbar, jeden Partner verpflichtend, mindestens zur Nichtverletzung.“4 Bestreitet man die menschliche Natur als Grundlage dafür, dass dem Menschen etwas unabdingbar zusteht, würde man eine totalitäre Machtpraxis rechtfertigen. Jeder könnte dann mit dem Menschen machen, was ihm gut erscheint, ohne dass es zurückgewiesen werden könnte.

Der Akt der Gerechtigkeit hat noch eine weitere essentielle Voraussetzung. Aufgrund der Klugheit muss die Wahrheit der wirklichen Dinge erkannt werden und in eine Entscheidung umgesetzt werden. Sonst kommt es dadurch zur Ungerechtigkeit, dass der Mensch das Wahrheitsverhältnis verloren hat. Dann wird die Frage, ob jemandem etwas zusteht oder nicht, gar nicht mehr gestellt. „Darin aber tritt etwas viel radikaler Unmenschliches zutage als in der formellen Ungerechtigkeit. Menschliches Tun nämlich ist dadurch menschlich, dass in ihm das Sehen von Wirklichkeit »maßgebend« wird.“5

Bei der Verwirklichung der Gerechtigkeit ist eine Trennung von Tat und Gesinnung möglich. Man kann etwas Gesetzentsprechendes auch ohne die Haltung der Gerechtigkeit tun. Umgekehrt kann man aufgrund eines Missverständnisses etwas objektiv Ungerechtes tun, ohne damit selbst ungerecht zu sein. Zum Richtigsein als Mensch gehört es – und erst dann kann man von Tugend sprechen – das Gerechte nicht nur zu tun, sondern auch gerecht zu sein, das heißt, das Gerechte „nämlich mit Freude und ohne Zögern“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik) zu tun. „Wo im vollen Sinn Gerechtigkeit geschieht, da ist das äußere Tun Ausdruck einer inneren Bejahung; der Andere wird anerkannt und bestätigt in dem, was ihm zusteht. Freilich, dieses Zustehende kann nicht aus der subjektiven inneren Haltung des Verpflichteten bestimmt werden, und sei sie noch so sehr auf Gerechtigkeit bedacht. Zur Verwirklichung der Gerechtigkeit genügt die Gesinnung nicht; vonnöten ist das handgreifliche ‚äußere‘ Tun. Und auch was zu tun ist, das Zustehende und Geschuldete, kann und muss ‚objektiv‘ ermittelt werden.“6

Durch die Klugheit und Gerechtigkeit wird der Mensch unmittelbar auf das Gute hingeordnet. Zucht und Maß schaffen Voraussetzungen für das Tun des Guten und dessen Erhaltung. Gerechtigkeit bedeutet das Erfüllen der eigenen Aufgabe. Umgekehrt ist die Ungerechtigkeit die schlimmste Verderbnis für den Menschen.

„Mit Beständigkeit erstrebt der Wille zunächst nur das eigene Gute wie Selbsterhaltung oder Anerkennung und Hilfe durch andere. Damit der Wille jedoch auch das Gute für den anderen mit derselben Beständigkeit – gleichsam eben auch naturhaft erstrebt, bedarf er einer zusätzlichen Vervollkommnung: der Tugend der Gerechtigkeit...Wahre Gerechtigkeit ist letztlich die fundamentalste Art von Wohlwollen.“7

A. Die Grundgestalten der Gerechtigkeit

Der Mensch – von Natur aus ein soziales Wesen – muss seine Beziehungen einerseits dem Gemeinwesen, andererseits dem Einzelnen gegenüber so gestalten, dass er das ihnen Zustehende gibt. Dementsprechend kann man Gemeinwohlgerechtigkeit und Einzelgerechtigkeit unterscheiden. Es liegt in der Natur dieser zweifachen Beziehung, dass die Menschen einander unaufhörlich etwas schuldig werden und einander diese Schuldigkeit leisten, um das gestörte Gleichgewicht immer wieder neu herzustellen.

1. Die ausgleichende Gerechtigkeit (Tausch-Gerechtigkeit – Iustitia commutativa)

Sie ordnet das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen, der auch jeweils der Träger der Gerechtigkeit dem anderen gegenüber ist. Es ist die klassische Gestalt der Gerechtigkeit, wo jeder der Partner unabhängig dem anderen gegenübersteht. Es geht dabei darum, dem Anderen das ihm Zustehende zu geben, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei muss man dem Anderen nichts schenken und ihn auch nicht besonders mögen. Man muss ihm nur das ihm Geschuldete geben. Die Schenkung ist kein Akt der Gerechtigkeit. Die Rechte und Ansprüche der Tauschgerechtigkeit beruhen hauptsächlich auf Verträgen, weshalb sie auch Vertragsgerechtigkeit genannt wird.

2. Die zuteilende, austeilende Gerechtigkeit (Iustitia distributiva)

Sie ordnet die Beziehung des sozialen Ganzen zu dem Einzelnen, um ihm das Zustehende aus dem Gemeinwohl zu geben. Zuständig ist der Verwalter des Gemeinwohls, nicht das Kollektiv. Es steht dem Einzelnen der auf ihn fallende Anteil dessen zu, was allen gehört. Gerechtigkeit besteht im Zuteilen; der Staat ist der Repräsentant des sozialen Ganzen. Die Erfüllung kann nicht erzwungen werden; nur die eigene Gerechtigkeit kann den faktisch Mächtigen daran hindern, Unrecht zu tun.

Der Verwalter des bonum commune muss auf die Person und ihre dignitas achten.

3. Die gesetzliche, allgemeine Gerechtigkeit (Iustitia legalis, iustitia generalis)

Sie ordnet das Wohl des Gemeinwesens, insofern es durch die Rechtsordnung bedingt ist. Der Gesetzgeber wird dadurch zur Schaffung der für das Gemeinwohl notwendigen Gesetze verpflichtet, die einzelnen Glieder der Gesellschaft zu deren Befolgung.

Es ist das Gute zu tun im Verhältnis zur Gemeinschaft. Gerechtigkeit ist daher mehr als Legalismus, bloße Befolgung der Gesetze. „Selbst unabhängig vom positiven Recht, und ihm übergeordnet, hat der Mensch die strenge Pflicht, seinen Beitrag in den Gemeinschaften zu leisten, die ihm wesentlich helfen, seine Existenz- und Selbstverwirklichung zu sichern, oder ihm bei der Erfüllung von Verpflichtungen beizustehen.“8

4. Die soziale Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit hat zur Voraussetzung, dass der Wohlstand unter den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, aber auch unter den Völkern, entsprechend ihrem Beitrag zum Gemeinwohl verteilt wird, um das Recht aller auf ein menschenwürdiges Leben zu sichern.

B. Die Eigenschaften der Gerechtigkeit

Die Forderungen der Gerechtigkeit sind grundlegend und wesentlich für die Existenz und Entfaltung des Einzelnen, wie auch des Gemeinwesens. Daraus ergeben sich die folgenden Eigenschaften.9

Die Forderungen der Gerechtigkeit sind

  • im Prinzip durchsetzbar und
  • in der Regel von eindeutiger und definierbarer Natur.
  • Verletzte Ansprüche der Gerechtigkeit verlangen Wiedergutmachung, oder, wenn dies unmöglich ist, wenigstens eine Vergütung.

II. Gerechtigkeit in der medizinischen Praxis

Aus der willentlichen Haltung des Arztes in den maßgeblichen Entscheidungssituationen dem Patienten dieses sein Recht auch zu geben, ergibt sich die konkrete Verwirklichung der Gerechtigkeit. Tugendhaft und damit über den Legalismus hinausgehend wird das Handeln durch den Bezug zur Grundeinstellung des Arztes, der dann nicht bloß handelt, um nicht angeklagt werden zu können, sich abzusichern und bloß dem Gesetz genüge zu tun. Er handelt vielmehr darüber hinaus aus der Grundeinstellung, das wahrhaft Gute für den Anderen zu wollen, das heißt das, was am ehesten zur Erfüllung von Sinn und Existenz des Anderen führt. Damit kommt auch er selbst als Person mit seinem Leben in Beziehung zum Patienten. Diese Erweiterung des Entscheidungshorizontes ermöglicht es erst, in der Reflexion auf die konkrete Situation das Wahrhaft Gute zu finden. Durch Einübung wird er dies mit Freude und ohne Zögern tun. Auf diese Weise handelt er tugendhaft und wird zugleich noch mehr tugendhaft, das heißt fähig zur rechten Balance zwischen Neigung und Vernunft. Diese Grundhaltung ermöglicht eine menschliche Nähe und Empathie, die eine individuelle Entscheidung des hier und jetzt zu tuenden Guten ermöglicht, wie sie durch Befolgung abstrakter Prinzipien und Gesetze niemals erreichbar ist.

In der Praxis überlagern sich die verschiedenen Formen der Gerechtigkeit. Im Rahmen der Arzt-Patient Beziehung kommt einerseits die Austauschgerechtigkeit zum Tragen, andererseits wirken auch Aspekte der allgemeinen, der zuteilenden und der sozialen Gerechtigkeit. Ich möchte daher etwas vereinfachend die praktische Umsetzung der Gerechtigkeit im Hinblick auf die beiden wesentlichen Grundaspekte betrachten, nämlich den individuellen und den gemeinschaftlichen Aspekt. Zu letzterem gehören auch gesundheitspolitische Fragen.

A. Der individuelle Aspekt

Entsprechend der ausgleichenden und allgemeinen Gerechtigkeit kommt hier zum Tragen, worauf der Patient grundsätzlich ein Recht hat. In Österreich wurde 1999 eine Vereinbarung zur Sicherstellung der Patientenrechte (Patientencharta10)  beschlossen. Darin sind neben der grundsätzlichen Achtung der Menschenwürde und dem Verbot von Diskriminierung aufgrund von Krankheit die Patientenrechte in jeweils mehreren Artikeln geregelt.

  • Recht auf Behandlung und Pflege
  • Recht auf Achtung der Würde und Integrität
  • Recht auf Selbstbestimmung und Information
  • Recht auf Dokumentation
  • Die Vertretung von Patienteninteressen
  • Die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen

Im Rahmen des Rechts auf personale Würde und Integrität ist sicher ganz zentral das Lebensrecht der Ungeborenen und der Schwerstkranken zu nennen. Abtreibung und Euthanasie sind Unrecht und damit schwere Verstöße gegen die Gerechtigkeit.

Auch § 17a des Krankenanstaltengesetzes regelt die Sicherung der Patientenrechte (siehe Anhang).

Es ist leicht zu erkennen, dass viele dieser Rechte nicht legalistisch erfüllt werden können, sondern des persönlichen Einsatzes des Arztes, der Pflegenden, aber auch des Spitalsträgers erfordern. Fachgerechte und möglichst schmerzarme Behandlung und Pflege, Wahrung der Privatsphäre, umfassende Information, Freundlichkeit, um einige Beispiele herauszugreifen, erfordern eben eine individuelle Erfassung der Situation, die es möglichst adäquat in eine Entscheidung für eine möglichst entsprechende Therapie, in ein gutes Wort, oft auch in eine Unterlassung unnötiger Belastungen umzusetzen gilt. Dies erfordert den Willen, das möglichst gut zu tun, damit die Erfassung der je gegebenen Wirklichkeit maßgebend werden kann. So kann man der Situation gerecht werden. Es ist der Weg der Tugend.

Sicher gibt es auch Rechte, denen formal leicht entsprochen werden kann, ohne dass dies besondere Tugendhaftigkeit erforderte, wie etwa die Ausstellung eines Patientenbriefes, oder die Möglichkeit, Anregungen und Beschwerden einzubringen.

Zur Gerechtigkeit gehört auch die Fortbildung, um auf dem letzten Wissensstand zu sein, das Bemühen, möglichst umfassend nach Therapien zu suchen, d.h. nicht vorschnell zu sagen, hier könne man nichts mehr machen.

Auch das Bemühen in Anerkennung der eigenen Grenzen, den jeweils besten Spezialisten zur weiteren Behandlung zu kennen und zu ihm weiterzuverweisen, wäre hier zu nennen.

Im Rahmen der Aufklärungspflicht muss man sich überzeugen, ob der Patient die Aufklärung auch wirklich verstanden hat. Dabei ist jeweils nach Auffassungsvermögen individuell vorzugehen. Aufgrund des Zeitdruckes ist ja die Versuchung groß, nur möglichst schnell die Unterschrift unter die Einverständniserklärung zu bekommen.

Zur Gerechtigkeit gehört schließlich auch die ärztliche Verschwiegenheit, die individuell unterschiedliche Zuwendung zum Patienten je nach Charakter, ihn nicht zu beargwöhnen, oder gar, ihm übel nachzureden.

Dazu gehört auch, unangenehme oder unsympathische Patienten gleich gut und gleich engagiert zu behandeln, wie angenehme und sympathische Patienten. Gerade unangenehme Patienten sind ein guter Gradmesser, wie (wenig) weit man selbst auf dem Weg der Tugend schon fortgeschritten ist. Der Arzt muss auch ein Gespür entwickeln, wo jemandem etwas abgeht. Er soll die Nöte des Anderen spüren und Hemmungen des Patienten abbauen helfen.

Ein besonders sensibler Punkt ist sicherlich die Frage der Wahrheit am Krankenbett. Sie zu sagen ist der Arzt verpflichtet, aber er muss es so tun, dass der Patient von ihr nicht erdrückt wird, d.h. sie verkraften kann. Ohne Tugend wird es das dazu nötige Feingefühl nicht geben.

B. Der gemeinschaftliche Aspekt

Im Rahmen der austeilenden Gerechtigkeit sind die Finanzen proportional und gerecht unter den verschiedenen Schichten der Bevölkerung und Regionen eines Landes zu verteilen. Je größer dabei der Rahmen der Betrachtung wird, desto schwieriger sind die Entscheidungen. Haben wir das Recht auf millionenteure Therapien in hochzivilisierten Ländern, die das Leben um einige Wochen verlängern, während andererseits in Entwicklungsländern Menschen verhungern?

Innerhalb welcher Dimensionen ist hier zu entscheiden oder zu vergleichen?

In letzter Zeit ist zunehmend häufig das Schlagwort der „Zweiklassenmedizin, die unserem Gesundheitssystem drohe,“ zu hören.

Reiche würden in Zukunft einen besseren Behandlungsstandard bekommen. Bestimmte teure Therapien würden von der Sozialversicherung nicht mehr für alle bezahlt werden können. Eine solche Entwicklung könnte in der Tat nicht gutgeheißen werden.

Angesichts der hohen Kosten im Gesundheitsbereich und der Notwendigkeit nachhaltig und effektiv zu sparen, kommt der gerechten Verteilung der vorhandenen Ressourcen besondere Bedeutung zu. Die Verantwortung trägt einerseits der Gesetzgeber im Rahmen der Sozialpolitik, andererseits auch die behandelnden Ärzte. Sie müssen sich der Verpflichtung bewusst sein, in ihre Entscheidungen auch die Verantwortung in finanziellen Fragen gegenüber der Allgemeinheit miteinzubeziehen.

Angesichts der Grenzen der Finanzierbarkeit neuer und immer teurerer Therapien ist längst eine Diskussion über die Verteilungsgerechtigkeit in Gang gekommen. Man spricht über Rationierung in der Medizin, wie diese definiert werden und nach welchen ethischen Prinzipien regulative Maßnahmen umgesetzt werden könnten.11

E. Mack plädiert in diesem Zusammenhang dafür, die Knappheitsprobleme mit Hilfe gerechtigkeitstheoretischer Ansätze zu bewältigen. Tugendethische Ansätze oder eine individualethische Medizinethik würden dabei versagen, „weil strukturelle Defizite struktureller Lösungen bedürfen und nicht durch gewissenhafte Handlungen einzelner kompensiert werden können.“12 Hier ist jedoch anzumerken, dass ja auch „strukturelle Lösungen" jeweils im Einzelfall umgesetzt werden müssen. Allgemeine Prinzipien können das Bemühen des entscheidenden Arztes nicht ersetzen. Mack fordert zurecht, dass die Verteilung von Grundgütern nie rein ressourcenorientiert, sondern personenorientiert stattfinden muss. Genau dort liegt die Notwendigkeit der Gerechtigkeit als Tugend des Entscheidungsträgers, um dem Patienten das für ihn und seine individuelle Prognose angemessene Gute zukommen zu lassen. Eine Gerechtigkeit als Prinzip, die an alle äußerlich gleiche Leistungen verteilt, kann nicht genügen.

Entscheidend ist, dass man die knappen Ressourcen wirklich gezielt einsetzt, etwa im Sinne des Konzeptes der Sinnorientierten Medizin (S.O.M.)13. Das Einsparungspotential, das in einem grundlegenden Umdenken im medizinischen Bereich liegt, dürfte weit höher sein, als organisatorische Maßnahmen im System oder Forcierung der Verschreibung von Generika, so wichtig diese Maßnahmen auch sicherlich sind.

„Der primäre Nutzen des vorgelegten Konzepts einer Sinnorientierten Medizin besteht darin, die vorhandenen wissenschaftlichen Daten (Evidence Based Medicine) für den praktisch tätigen Arzt so transparent zu machen, dass sinnlose Therapiemaßnahmen verhindert und die vorhandenen therapeutischen und ökonomischen Möglichkeiten für den Patienten optimal einsetzbar werden.“14

Dazu kommt das Einsparungspotential im Rahmen von Routineabläufen.

Müssen wirklich nach einer Transferierung ein Großteil der Laborbefunde wiederholt werden? Sind die angeordneten Untersuchungen (Labor, Röntgen, CT, Nuklearmedizin,...) nicht oft sehr wenig zielführend? Aus Zeitmangel wird rasch zugewiesen, obwohl eine eingehende klinische Untersuchung und Anamnese vieles hätte ausschließen können und eine viel schlankere, gezieltere und daher auch billigere Diagnostik ermöglicht hätte. Genau für dieses Vorgehen bedarf es unbedingt gewissenhafter Bemühungen, denn es ist mühsamer, zunächst auch zeitaufwendiger, so vorzugehen. Der Arzt trägt auch ein höheres persönliches Risiko, weil er nicht „Absicherungsmedizin“ betreibt, um alle möglichen Eventualitäten durch Befunde auszuschließen. Hier wäre auch gesundheitspolitisch umzudenken. Es gehört auch zur Gerechtigkeit, diesen Zeitaufwand entsprechend zu honorieren, andererseits im Hinblick auf das erhöhte Risiko für Rechtssicherheit zu sorgen, soweit dies überhaupt möglich ist.

Da ein Restrisiko nie ganz auszuschließen ist, wäre dazu auch die entsprechende Information des Patienten wichtig, um das richtige Maß der Klagebereitschaft zu gewährleisten. Kunstfehler müssen und sollen geklagt werden. Wo sich aber eine überzogene Klagebereitschaft, wie sie häufig im amerikanischen Raum zu beobachten ist, durchsetzt, hat dies negative Auswirkungen auf den Umgang der Ärzte mit den vorhandenen Ressourcen.

Es gibt auch außergewöhnliche Situationen, die besondere Schwierigkeiten hinsichtlich einer gerechten Lösung bereiten. Wer ist zu behandeln, wenn drei Intensivbetten verfügbar sind und vier Patienten therapiebedürftig wären und kein Patient wegverlegt werden kann? Oder die Triage bei größeren Unfällen: welcher Patient wird zuerst und in welchem Ausmaß behandelt? Die Entscheidung ist im Einzelfall so komplex (Berücksichtigung der Prognose, der Grundkrankheit, des Alters u.v.m.), dass auch sie den Willen vorraussetzt, möglichst gut und situationsgerecht, das heißt aber eben tugendhaft zu handeln und zu entscheiden.

III. Abschließende Bemerkungen

Einem jeden Menschen zu geben, was ihm zusteht, ist eine unabdingbare Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens. „Aufgrund von Gerechtigkeit werden Männer gut“, sagt Cicero. Umso mehr ist die Gerechtigkeit Grundsäule des ärztlichen Ethos, Voraussetzung eines guten Arztes. Der Arzt muss die Tugend der Gerechtigkeit im Rahmen der Arzt - Patient Beziehung in allen ihren Dimensionen leben. Andererseits ist er dem Gemeinwohl verpflichtet, insofern er an der gerechten und sozialen Verteilung der vorhandenen Ressourcen zentral beteiligt ist.

Es ist auch klar geworden, dass allein durch äußerliche Befolgung der Gesetze nicht schon gerecht gehandelt werden kann.

„Durch Gebote der Gerechtigkeit den Frieden und die Eintracht unter den Menschen wahren zu wollen ist unzulänglich, wenn nicht unter ihnen die Liebe Wurzel schlägt.

Insofern die Pflichten der Gerechtigkeit die Mindestanforderungen der Liebe darstellen, sind sie immer schwerwiegender und dringlicher als die Pflichten, die lediglich von der Liebe auferlegt werden. Die Moral muss daher fordern, dass die Verpflichtungen der Gerechtigkeit vor allen Werken der Caritas erfüllt werden müssen.“15 Dennoch dürfen die Ziele der Liebe niemals aus den Augen verloren werden.

„Der Gerechte tut gegenüber dem Mitmenschen nicht nur seine Pflicht, sondern er liebt seinen Mitmenschen wie sich selbst und das für den anderen Gute wie das für ihn selbst Gute. Wahre Gerechtigkeit ist letztlich die fundamentalste Art von Wohlwollen.“16

Dies gilt nicht nur allgemein, sondern ganz besonders für den Arzt.

Anhang

§ 17a Krankenanstaltengesetz: Sicherung der Patientenrechte

(1) Der Rechtsträger der Krankenanstalt hat unter Beachtung des Anstaltszwecks und des Leistungsangebots vorzusorgen, dass die Rechte der Patienten in der Krankenanstalt beachtet werden und dass den Patienten die Wahrnehmung ihrer Rechte in der Krankenanstalt ermöglicht wird.

(2) Dies betrifft insbesondere folgende Patientenrechte: 

a) Recht auf rücksichtsvolle Behandlung;

b) Recht auf ausreichende Wahrung der Privatsphäre, auch in Mehrbetträumen;

c) Recht auf Vertraulichkeit;

d) Recht auf fachgerechte und möglichst schmerzarme Behandlung und Pflege; 

e) Recht auf Aufklärung und umfassende Information über Behandlungsmöglichkeiten und Risiken; 

f) Recht auf Zustimmung zur Behandlung oder Verweigerung der Behandlung; 

g) Recht auf Einsicht in die Krankengeschichte bzw. auf Ausfertigung einer Kopie; 

h) Recht des Patienten oder einer Vertrauensperson auf medizinische Informationen durch einen zur selbständigen Berufsausübung berechtigten Arzt in möglichst verständlicher und schonungsvoller Art;

i) Recht auf ausreichende Besuchs- und Kontaktmöglichkeiten mit der Außenwelt; 

j) Recht auf Kontakt mit Vertrauenspersonen auch außerhalb der Besuchszeiten im Fall nachhaltiger Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten; 

k) Recht der zur stationären Versorgung aufgenommenen Kinder auf eine möglichst kindergerechte Ausstattung der Krankenräume;

l) Recht auf religiöse Betreuung und psychische Unterstützung; 

m) Recht auf vorzeitige Entlassung; 

n) Recht auf Ausstellung eines Patientenbriefes;

o) Recht auf Einbringung von Anregungen und Beschwerden; 

p) Recht auf Sterbebegleitung; 

q) Recht auf würdevolles Sterben und Kontakt mit Vertrauenspersonen.

(3) Die Organisations- und Behandlungsabläufe in der Krankenanstalt sind nach den Bedürfnissen der Patienten auszurichten.

(4) Der Rechtsträger der Krankenanstalt hat dafür zu sorgen, dass die Patienten über ihre Rechte und deren Durchsetzung in derKrankenanstalt schriftlich informiert werden.

(5) In jeder Krankenanstalt ist den Patienten eine Person oder Stelle bekanntzugeben, die ihnen für Informationen, Anregungen oder Beschwerden zur Verfügung steht.

(6) Der Rechtsträger der Krankenanstalt hat die Patienten über die Wiener Patientenanwaltschaft zu informieren.

Referenzen

  1. Aquin, Thomas von, S. Th. II-II qu.58, art. 1
  2. Pieper Josef, Das Viergespann, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, München (1964), Kösel Verlag, S.72
  3. Pieper Josef, a. a. O., 73; vgl. dazu auch die Konzilserklärung Gaudium et Spes Nr. 27: „Was ferner zum Leben selbst im Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord¸was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden.“
  4. Pieper Josef, a. a. O., S.76
  5. Pieper Josef, a. a. O., S.80
  6. Pieper Josef, a. a. O., S.94
  7. Rhonheimer Martin, Die sittlichen Tugenden. Anthropologische und praktisch-kognitive Dimension, Imago Hominis (2000), Band VII/Nr.2, S.108-109
  8. Peschke Karl-Heinz, Christliche Ethik, Trier (1995), S.256
  9. vgl. Peschke Karl-Heinz, a.a.O., S.253
  10. Bundesgesetzblatt I Nr. 195/1999
  11. vgl. Kraus M. R., Wilms K., Verteilungsgerechtigkeit in der Medizin. In: Groß Dominik (Hrsg.), Zwischen Theorie und Praxis. Traditionelle und aktuelle Fragen zur Ethik in der Medizin, Würzburg (2000); Mack E., Rationierung im Gesundheitswesen – ein wirtschafts- und sozialethisches Problem, Ethik in der Medizin (2001), Heft 13, S.17-32
  12. Mack E., a.a.O., S.29
  13. Bonelli Johannes, Prat Enrique H., Sinnorientierte Medizin, Paradigmawechsel in der Medizin: von der Machbarkeit zur Sinnhaftigkeit. Medizin für den Einzelfall, Imago Hominis (1999), Band VI/Nr. 3, S.187-207
  14. Bonelli Johannes, Prat Enrique H., a. a. O., 203
  15. Peschke Karl-Heinz, Christliche Ethik, Trier (1995), S.259
  16. Rhonheimer Martin, Die sittlichen Tugenden. Anthropologische und praktisch-kognitive Dimension, Imago Hominis (2000), Band VII/Nr.2, S.111

Anschrift des Autors:

Mag. theol. Dr. med. Rupert Klötzl
Premreinergasse 26/4, A-1130 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: