Leben- und Sterben lassen. Interdisziplinäre Tagung in Vaduz

Imago Hominis (2002); 9(4): 271-273

Am 8.11.2002 fand in Vaduz die Interdisziplinäre Tagung für den Bodenseeraum mit dem Titel Leben- und Sterben-lassen. Beiträge zu einer neuen Kultur des Lebens und Sterbens“ statt. An die 420 Teilnehmer kamen zu diesem Symposium aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein. Veranstalter waren die „Stiftung Liechtensteinische Alters- und Krankenhilfe“ und das IMABE-Institut.

Zielsetzung der Tagung war es, angesichts der Diskussion um die Legalisierung der Euthanasie (Tötung auf Verlangen bzw. Beihilfe zum Selbstmord) in Holland und Belgien durch Analysen aus verschiedenen Fachgebieten, durch Klärung von Begriffen und Argumenten, wie auch durch Erfahrungsberichte zur Vertiefung beizutragen, Hintergründe und Einseitigkeiten zu zeigen und die Kritik an Euthanasie nahebringen. So konnte gezeigt werden, dass abgesehen von grundsätzlichen Einwänden gegen die Einschränkung des Tötungsverbotes auch die vielfach für Euthanasie genannten konkreten Sachgründe einer genaueren Prüfung nicht standhalten: eine Legalisierung löst die vorhandenen Probleme nicht, sondern verschärft sie. Zusätzlich sollte eine Alternative zu Euthanasie dargestellt werden: die Herausforderung zur Solidarität durch eine fachliche und mitmenschliche Sterbebegleitung.

Dieser letzte Aspekt wurde vor allem durch drei Beiträge abgedeckt: K. Bitschnau (Leiter Hospizbewegung, Feldkirch) präsentierte das Hospizmodell, seine Merkmale sowie Einrichtungen und Ausbildungsmöglichkeiten, P. Pichler (Krankenschwester am Hospiz in Innsbruck) erläuterte an Fällen, dass der Schmerz nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische, spirituelle oder soziale Dimension hat, ja dass oft gerade diese Nöte den physischen Schmerz erst groß machen: Schmerzbekämpfung muss daher umfassend sein. Insgesamt muss man in der von Cicely Saunders vor Jahren eingeleitete Gegenbewegung (statt Rückzug und Verlassen, ganzheitliche Begleitung der Sterbenden), aus der dann die Hospizbewegung hervorgegangen, die modellhafte Alternative zu Euthanasie sehen, die auch ein praktischer Wegweiser zu einer humanen Medizin geworden ist.

In der Begleitung Sterbender und Schwerkranker bildet die medizinische Hilfe die Basis: allerdings bleiben die intensiven Fortschritte und umfassenden Möglichkeiten moderner Schmerztherapie und der Palliativmedizin, die – entsprechendes Können und Erfahrung vorausgesetzt – Abhilfe für alle Schmerzen anbieten kann, bei Euthanasiebefürwortern meist unberücksichtigt: sind doch gerade die physischen Schmerzen wesentliches Motiv für den Wunsch zu sterben. Dieser Wunsch bedeutet eigentlich, so – d.h. mit diesen v.a. physischen Schmerzen – nicht mehr leben zu wollen: mit Schmerzfreiheit erwacht sofort der Lebenswille, wie die Erfahrung zeigt. Deshalb kommt der ernsthaften Bemühung um symptomorientierte Leidensminderung, um Befreien von Schmerzen und Beschwerden, wo keine Heilung möglich ist, eine große Bedeutung zu. Prim. Prof. J. Bonelli (Internist, Wien) hielt in seinem Beitrag („Palliativmedizin als Medizin der Lebensqualität“) die Palliativmedizin über die Sterbephase hinaus sogar für die „eigentliche Herausforderung der heutigen Medizin“, nämlich „rechtzeitig zu erkennen, wo ihr Auftrag zu heilen endet – nicht aber um dann die Flucht zu ergreifen, sondern um sich dann ganz der Palliation zuzuwenden.“ D.h. die Medizin müsste sich noch mehr als bisher um die Klärung der Grenzen der kurativen Medizin und deren Kriterien kümmern, damit bewusst unnütze Behandlungseingriffe verhindert werden (z.B. Richtlinien bis wann eine Chemotherapie noch sinnvollerweise einzusetzen ist) und die palliative Behandlung auch rechtzeitig und umfassend einsetzen kann.

Grundsätzlichen Themen gingen zunächst Prof. E. Schockenhoff, Moraltheologe an der Universität Freiburg, nach: er widmete sich dem zentralen Begriff der Selbstbestimmung, der vielfach für die Euthanasieforderung angeführt wird. Wo so argumentiert wird, liegt eine dezidierte anthropologische Prämisse zugrunde, die falsch ist: nämlich Autonomie im Sinne der Unabhängigkeit, Autarkie und Selbstgenügsamkeit – die am gesunden, leistungsbewussten und keiner Hilfe bedürftigen Individuum abgelesen ist und auf die Situation des Sterbens übertragen wird. Diese Schwäche zeigt sich vor allem in der Forderung, auch in einer Situation schwerer Krankheit und des Leids Autonomie der Person als jene Fähigkeit zu unterstellen, die „über den Wert des eigenen Lebens frei von Fremdeinflüssen, allein aus der Binnenperspektive der eigenen Existenz“ urteilen soll. Sie ist eine „abstrakte Konstruktion, die der faktischen Abhängigkeit des menschlichen Da-seins nicht gerecht wird.“ Denn: „Die Beurteilung des Lebenswertes stellt immer eine Reaktion auf die Wertschätzung dar, die sterbende Menschen in ihrer Umgebung noch erfahren.“ Daher ist „angesichts der faktischen Abhängigkeit des menschlichen Daseins am Lebensanfang wie am Lebensende mehr erfordert als bloßer Respekt vor einer angeblich unbeeinflussten Selbstbestimmung des Sterbenden. Menschenwürdiges Sterben ist (...) wenn überhaupt nur unter der Bedingung möglich, dass personale Beziehungen und das Angebot menschlicher Nähe aufrechterhalten werden.“

Der Vortrag von Prof. A.W. Müller (Ethik, Trier) behandelte die ärztliche Aufgabe: das ärztliche Tun ist als „spezielle Form der Hilfe“ zu bestimmen; es will „durch prophylaktische, kurative oder palliative Maßnahmen dem Patienten dabei helfen, der Beeinträchtigung seines Lebens durch Krankheit und Behinderung entgegenzuwirken.“ Der Arzt ist dem Wohl des Patienten verpflichtet, wenngleich seinen Maßnahmen durch den eindeutigen der Wunsch des Patienten eine moralische Grenze gesetzt ist. Die Tötung des Patienten, ebenso wie jede andere Art der beabsichtigten Verkürzung des Patientenlebens gehört nicht in den Rahmen ärztlicher Hilfeleistungen. Ebensowenig ist die Absicht, menschliches Leben zu verlängern, bestimmend für die ärztliche Aufgabe: „Verlängerung des Lebens ist im allgemeinen nur eine automatische Folge erfolgreicher prophylaktischer, kurativer und gelegentlich auch palliativer Krankheitsbekämpfung“. Klar stellte er in Frage, warum das Töten quasi ganz selbstverständlich als „ärztliches“ Geschäft dargestellt werde, wo es doch jenseits ärztlichen Tuns liege. „Autonomie“ als Argument für Euthanasie oder Selbstmord-Hilfe anzuführen, grenzt für Müller an Heuchelei: denn in Wirklichkeit liegt der Tötung auf Verlangen durch den Arzt nicht das Todesbegehren des Patienten als letztes Wort zugrunde, sondern unvermeidlich ein Urteil des Arztes über den Lebenswert dieses Patienten-Lebens. Auch aus der Perspektive des Patienten kann von „Selbstbestimmung“ keine Rede sein, eher vom genauen Gegenteil: denn die Beiziehung des Arztes entspricht doch dem Wunsch, „in einer ziemlich unheimlichen Angelegenheit moralischer Entlastung zu erfahren. Der Arzt soll mit der Autorität des „Fachmanns“ dem Patienten eine dubiose Entscheidung erleichtern oder gar abnehmen, vor dieser selbst zurückschreckt.“

Über die „Ars moriendi“ referierte Prof. H.-B. Gerl-Falkovitz (Religionsphilosophie, Dresden) und bot einen Einblick in das Verständnis von Tod und Sterben in verschiedenen Religionen und Epochen. Der jüdisch-christliche Entwurf des Sterbens („Sterben als Gewinn“) ist in Europa gegenwärtig in eine gedankliche Defensive gedrängt, andere religiöse Kulturen ziehen überraschen nach; aber es mehren sich „Stimmen des säkularen Raumes, die dem geheimnisvollen Vorgang des Sterbens mehr abgewinnen wollen als das pure Enden“ die sich „mit der Vorstellung des Nichts hinter dem Sterben“ schwer tun. Empirische Untersuchungen besagen jedenfalls: Religiöse Menschen sterben leichter, d.h. „alles entscheidet sich daran, ob der Sterbende sich auf ein Ziel hinter den hiesigen Zielen verlässt und vertraut, bei etwas Gutem anzukommen“, ja dass dieses Gute ein Antlitz trägt, ein Guter ist, dass dieses „wartende und erwartende Antlitz selbst auch ein sterbendes“ war, dass das „göttliche Sterben wie das eigene Nach-Sterben als Überwindung und Umkehrung des Todes in gelöstes Leben“ verstanden wird. Moderne Philosophie kommt im Denken nicht zu solchen Ergebnissen: das liegt daran, dass das Denken gerade nicht zur Ars moriendi gehört, denn es bleibt immer „im Abstand zur eigenen Existenz“. „Sterben ist vielmehr unaufhaltsamer Verlust der Selbstmächtigkeit, auf der das Denken formal aufbaut. Zum eigenen Sterben verhält sich der Sterbende daher nicht denkend, sondern erleidend.“ Zur Ars moriendi gehört daher „das immer wieder zu trainierende Loslassen der hiesigen Güter.“ Der bedeutsame Unterschied bleibt, ob mit Sterben gemeint ist, dass das eigene Antlitz einfach vergeht, ja austauschbar wird oder ein Eintritt in eine neue Welt ist. Wenn Sterben als Durchgang zum Leben verstanden wird, dann gilt: „Sterben kann der, der das kommende Leben liebt.“

Das Referat von OA Dr. P. Fae (LKH Feldkirch) in Vertretung von Prof. N. Mutz (Intensivmedizin, Innsbruck) wollte Vorurteile gegenüber der Intensivmedizin ausräumen. Ein natürliches Sterben ist mit oder trotz der Apparatemedizin möglich, da hier dieselben ethischen Forderungen wie in allen anderen Bereichen gelten, hier als „Medikamente“ eben Geräte eingesetzt werden – so lange es medizinisch sinnvoll ist. Der Beitrag von Dr. R. Klesse (Psychiater, Chur) behandelte den Todeswunsch aus psychiatrischer Sicht, über Patientenverfügung, ihren Sinn und ihre Grenzen, sowie die Entwicklung der Rechtsprechung auf diesem Gebiete referierte Prof. H.-B. Wuermeling (Erlangen) und einen Bericht aus erster Hand über die Vorgeschichte und Wirklichkeit der Legalisierung der Euthanasie in Holland steuerte Prof. H. Jochemsen, Lindeboom Institut f. med. Ethik, Ede bei.

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Dr. Ludwig Juza
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