Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2002); 9(4): 269-270
Titus Gaudernak

Wie wird uns die Patientin Anna R. in diesem Bericht präsentiert?

Eine alte Frau in einer nur mäßig gepflegten Wohnung, die offensichtlich kettenraucht, mit einer Gicht, mit arthritisch veränderten Gelenken, die Streit mit ihrem behandelnden Arzt hatte und mehr Pflegegeld möchte und den Arzt mit dem Wunsche konfrontiert, dass er sie in eine Rheumaambulanz überweisen möge.

Es ergibt sich das Bild einer eher unsympathischen, ungepflegten alten Frau, die querulativ und streitsüchtig veranlagt ist, und ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen möchte, um sie als Argumente für eine Pflegegelderhöhung benützen zu können. Der Bericht lässt nicht nur bei uns eine negative Stimmung gegenüber der Patientin aufkommen, sondern offensichtlich ist es auch dem behandelnden Arzt so gegangen.

Aus dem Bericht entnehmen wir, dass die Patientin Anna R. einen Arzt um einen Hausbesuch gebeten hat, wobei aufgrund des vorhandenen Berichtes nicht ganz klar ist, was die Patientin eigentlich von ihm wollte. Offensichtlich ist es aber dem Arzt auch nicht klar geworden, es entstand aber der starke Eindruck, dass die Patientin eine Überweisung in eine Spezialambulanz wollte und das dies der Grund für den angeforderten Hausbesuch sein könnte. Allerdings sucht die Patientin dann diese Abteilung gar nicht auf, dafür wird der Arzt wiederholt telefonisch ersucht, sie wegen Kleinigkeiten aufzusuchen.

In der Analyse dieses Falles muss man eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die wahren Probleme dieser Frau Anna R. in der Faktendarstellung gar nicht vorkommen.

Eines der zentralen Themen der Frau Anna R. scheint das Pflegegeld zu sein. Wir erfahren allerdings nicht, warum Anna R. schon Pflegegeld hat, wie sie mit diesem Pflegegeld zurecht kommt, wie viel es ist, wie sonst ihre finanzielle Situation ist. Kurzum ihr soziales Umfeld bleibt uns vollkommen im Dunklen.

Der geschilderte Arzt tappt in eine uns allen bekannte Falle: Die Patientin ist unsympathisch, teilweise an ihrem Leiden selber schuld, nicht bereit auf den Arzt zu hören (letztendlich bekommt sie doch die Überweisung nach Lainz, damit ihr dort bestätigt wird, dass sie ohnedies nur Gicht hätte) und hat ein „Rentenbegehren“.

Der Arzt weiß somit nicht genau, was die Patientin eigentlich von ihm möchte, sie bekommt aber vom Arzt etwas sehr genau und sehr detailliert, nämlich Diagnosen, 1., 2., 3., usw., und Behandlungsvorschläge ad 1., 2., 3., usw.

Wie sich herausstellt, wird die Behandlung von der Patientin aber nicht angenommen, denn darum geht es ihr offensichtlich gar nicht.

Die vorliegende Beschreibung passt auf eine im hohen Maße gestörte, asymmetrische Patienten- Arztbeziehung, wie sie leider nicht ungewöhnlich ist. Sie scheint sogar so häufig zu sein, dass auf Grund dieser asymmetrischen Patienten-Arztbeziehungen die verschiedensten Reparaturversuche unternommen werden, um Behandlungsschemata der beschrieben Art zu vermeiden oder zu verhindern.

Auf der einen Seite mehr Rechte für den Patienten, auf der anderen aber auch mehr Pflichten für den Arzt. Nach derzeit gängiger gesellschaftlicher Vorstellung ist der Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patienten ein Dienstvertrag mit einerseits einer Behandlungspflicht, aber andererseits der Möglichkeit der Behandlungsverweigerung. Auch eine daraus resultierende Selbstgefährdung der Patienten muss der Arzt als Entscheidungsfreiheit des Patienten erdulden können, wenn auch diese Freiheit des Patienten zur Krankheit nicht nur eine hohe Belastung des Patienten-Arztvertrages, sondern in der Regel auch eine hohe Belastung für den Arzt darstellt. Auf der anderen Seite reduziert die Behandlungsverweigerung des Patienten die Pflichten des Arztes.

Zugegeben, die Patientin ist das, was man als einen schwierigen Fall bezeichnet. Andererseits zieht sich wie ein roter Faden durch den Bericht, dass der Wunsch von Frau Anna R. eine ehrliche und anhaltende Patienten-Arztbeziehung ist. Möglicherweise oder vielleicht sogar wahrscheinlich ruft Frau Anna R. um Hilfe, ihre Aktionen sind Hilferufe und sie bekommt dafür Diagnosen und Medikamente. Die Patientin bekommt eine physikalisch-biologische Analyse, ansatzweise eine neurologisch-psychiatrische, der wesentliche Sozialbereich, um den es wahrscheinlich zentral bei der Patientin überhaupt geht, wird nicht berührt.

Was erwartet sich die Patientin möglicherweise vom Arzt und wie stellt sie es dar?

Ein Hilferuf ist lediglich in den Zwischentönen erkennbar, direkt ausgesprochen wird er nicht!

Welche Signale setzt sie? Sie ist „lästig“, uneinsichtig, „schwierig“.

Was bekommt die Patientin als Reaktion auf diese Signale? Diagnosen und Anweisungen!

Welche Möglichkeiten hat man als Arzt im Umgang mit solchen Patienten, insbesondere mit Anna R.

Das zentrale Problem ist sicherlich die Beziehung zwischen Patient und Arzt. Sie ist in diesem Fall nicht dialogisch, zwei Partner, Arzt und Patient hören sich nicht zu, beide sind durch „Störfaktoren“ abgelenkt dazu nicht in der Lage. Während der Arzt primär davon ausgeht, dieser Patientin mit möglichst exakten Diagnosen und dazu passender medikamentöser Behandlung helfen zu wollen und helfen zu können, liegen die Probleme der Patientin ganz wo anders, sie möchte nämlich eine Beziehung zu einem Arzt aufbauen und erhalten, so drückt sie es in ihrem Beschwerdebrief aus.

Balint hat einmal gesagt, das am meisten verwendete Heilmittel ist der Arzt. Ein Heilmittel, das von Anna R. verlangt wird, von den Behandlern aber verweigert wird.

Im gegenständlichen Fall wird die Behandlung durch den Arzt abgebrochen, weil die Patientin nicht das Geringste von den Empfehlungen des Arztes angenommen hat und auch die von ihr selbst gewünschte medizinische Hilfe nicht durchgeführt hat. Medizinische Hilfe brauche Zusammenarbeit und die sei offensichtlich nicht gegeben, weshalb der Arzt der Patientin empfiehlt, einen näher gelegenen Kollegen aufzusuchen.

Der Patientin Anna R. zuzuhören, sich ihre Probleme anzuhören, als Arzt da zu sein ohne Diagnose und Therapieschema, vielleicht wäre das der Schlüssel für eine zufriedene Patientin gewesen.

Im Fallbericht werden Fragen aufgeworfen, die in der gestellten Form auch im Seminar nicht zu beantworten waren.

Im Wesentlichen kann man aber festhalten, dass ein Arzt nicht verpflichtet ist oder verpflichtet werden kann, sich von einem Patienten Schaden zufügen zu lassen, dies trifft auch für den eventuellen finanziellen Schaden zu.

Die Art der Patientenbeziehung ist nicht abhängig von der gestellten Honorarnote, dem angenommenen Krankenschein etc., sondern die Ehrlichkeit der Beziehung ergibt sich aus der gegenseitigen Offenheit und dem Einhalten der wechselweisen Informationspflicht, wobei hier aber Krankheitsbilder, wie Demenz bzw. eine krankheitsbedingt eingeschränkte compliance zu berücksichtigen sind.

Selbstverständlich ist der Arzt geradezu verpflichtet, Ängste, eventuell auch Wahnvorstellungen eines Patienten, soweit entgegen zu kommen, wie es das Wohl des Patienten erfordert.

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Doz. Dr. Titus Gaudernak
LKH Mödling, Abt. für Unfallchirurgie
Sr. Maria Restituta Gasse 12
A-2340 Mödling

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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