Medizinethischer Bericht über die Patientin Anna R.

Imago Hominis (2002); 9(4): 267-268

Diese Krankengeschichte aus der Allgemeinpraxis wurde von einer staatsoffiziellen Stelle angefordert: Die beschriebene Patientin hatte sich, was zu ihrer Krankheit gehört, an die Ombudsfrau gewendet, weil, wie sie erklärte, keiner der verfügbaren Hausärzte bereit war, mit ihr eine ehrliche und anhaltende Patienten-Arzt-Beziehung durchzuhalten.

Die Patientin Frau Anna R. wurde unter Kollegen als „problematisch“ geschildert. Als der Arzt ihr einen Hausbesuch abgestattet hat, fand er folgende Situation vor: In einer nur mäßig gepflegten Wohnung ist eine sehr alt erscheinende Patientin allein zu Hause. Am Tisch ein Aschenbecher mit zahlreichen Zigarettenresten. Ein Laborbefundbericht, veranlasst von einem ärztlichen Kollegen, liegt am Tisch.

Die Patientin berichtet, dass sie bisher von einem pensionierten Kollegen betreut wurde. Sie hätte weitere Hilfe gesucht, um ihre „sekundäre Polyarthritis“ im Sinn einer Vermehrung ihres Pflegegeldes zu beweisen. Sie hätte eine Zuweisung in eine Rheumaambulanz von dem Vorgängerkollegen erbeten. Der hätte eine Laboruntersuchung veranlasst, aber sie in keine Spezialambulanz überwiesen.

Der Laborbefund am Tisch zeigt einen Harnsäurespiegel von 9,0 (stark erhöht). Die (ohnehin zweifelhaft beweiskräftigen) Rheumatests sind nicht erhöht: Die direkte Krankenuntersuchung bringt Zeichen der Arthrose an beiden Händen und vermutlich am Kniegelenk.

Die merklich beharrliche, wenn nicht unkorrigierbar zwanghafte Wesensveränderung der Patientin, die sehr rastlos und ohne klare Vorstellungen des erwartbaren Erfolges zur Befundung nach Lainz will, lässt den Arzt an eine Rentenneurose denken. Die geringe verbliebene Sprachfähigkeit mit häufigen Sprachwiederholungen völlig gleichartiger Wortfolgen legt Gedanken an eine durch Rauchen verstärkte Cerebralsklerose nahe. Die Patientin wirkt unruhig, eher positiv gestimmt und hyperaktiv. Andeutungsweise erzählt sie dem Arzt, dass der Vorgänger einen Streit mit ihr hatte. Sie ist ihm deswegen überaus böse und nicht geneigt, mit ihm Frieden zu schließen.

Der Arzt entscheidet sich unter den folgenden vermuteten Klassifizierungen zu den nachher genannten Handlungen:

  1. senile Sklerose
  2. Paranoide sowie schlicht ängstliche Züge; Züge einer Rentenneurose
  3. wahrscheinlich Durchblutungsminderung, jedenfalls der Hirngefäße
  4. Gelenksgicht
  5. Arthrose, besonders der Fingergelenke
  6. wesentlich reduzierte soziale Kommunikationsfähigkeit, Ratlosigkeit
  7. Nikotinabusus

Ad 1., 3.: Der Arzt gibt eine Zuweisung zum Doppler der Halsgefäße beim Röntgenarzt in 250m Entfernung.

Ad 2., 4., 5.: Die Patientin erklärt, dass der Vorgänger ihr keine Gelegenheit für die Befundung nach Lainz gegeben habe. Sie wolle ihr Pflegegeld verbessern. Also weist sie der Arzt unter ausgiebigen Erklärungen zu. Sie soll ihre Erfahrungen machen, da sie nicht an die ärztliche Meinung glaubt. Der Arzt erklärt ihr den Arthrosebegriff und die Gichtdiagnose sowie die Gichtbehandlung.

Ad 2., 6.: Der Arzt ersucht die Patientin wegen schwerer Ängste ein besseres als das damals genommene Medikament zu nehmen und die enorme Zigarettenzahl durch ein Beruhigungsmedikament zu vermindern. Er schreibt ein Rezept für ein geeignetes Neuroleptikum.

Zum Abschluss ersucht der Arzt um eine Rückmeldung in seiner Ordination nach einer Woche. Er nimmt bewusst keinen Krankenschein, weil er keine so entfernte Patientin nehmen will, die nicht zu ihm gehen kann und ist daher durch freiwilligen Verzicht nicht honoriert.

In der Zwischenzeit dieser Woche erhält der Arzt zahlreiche Anrufe zu den ungewöhnlichsten Stunden, in denen die Patientin ersucht, sie wegen beliebiger Kleinigkeiten aufzusuchen. Sie will das verordnete Medikament nicht nehmen und sie will auch nicht zum Gefäßdoppler gehen. Selbst die dringend von ihr angestrebte Untersuchung in Lainz, wegen derer sie sich mit dem Vorgänger zerstritten hatte, macht sie nicht. Selbstverständlich raucht sie noch immer wie vorher. Die Anzahl von Anrufen (meist zur späten Stunde) kostet bei der Ärztezentrale nun vermutlich mehr, als ein Krankenschein Honorar ergäbe.

Da die Patientin nicht das Geringste von den Empfehlungen des Arztes angenommen hat und da sie sogar die von ihr selbst gewünschte medizinische Hilfe nicht durchführt, hält sie der Arzt für problembelasteter als sie bisher zeigt. Er erklärt ihr, dass medizinische Hilfe Zusammenarbeit braucht und ersucht sie, einen näheren Kollegen in Anspruch zu nehmen.

Es stellen sich folgende ethische Fragen:

  • Kann sich ein Arzt von einem Patienten so verwenden lassen, dass ihm dabei Schaden entsteht?
  • Darf die versuchte Heilbehandlung einer uneinsichtigen, aber gequälten Patientin mehr an Zeit und Geld kosten als die Kasse zahlen kann?
  • Wie ehrlich ist eine Patienten-Arzt-Beziehung, wenn der Arzt den Krankenschein noch nicht genommen hat?
  • Wie weit darf der Arzt den Ängsten und dem Wahn einer Patientin entgegenkommen, um zu helfen?
Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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