Die Grenzen der Sozialmedizin

Imago Hominis (2008); 15(4): 319-327
Josef Kandlhofer

Zusammenfassung

Versicherungen lösten im 19. Jh. die familiale Solidarität ab. Seit Beginn durchlaufen sie aber eine Krise, da die Versichertenmehrheit meint, sie erhalte weniger als sie einzahlt. Auch daher stoßt die Sozialmedizin an ihre Grenzen. Die Ökonomie im Gesundheitswesen zeigt, dass es im Unterschied zu anderen Märkten nie einen Überfluss an medizinischen Leistungen gibt. Da davon auszugehen ist, dass Verbesserungen nicht unbegrenzt zu finanzieren sind, wäre das Rationalisierungs- und nicht das Rationierungsgebot in der Medizin moralische Pflicht. In Westeuropa werden die Ressourcen knapper, wodurch Verantwortliche der medizinischen Verwaltung die Pflicht haben, alle zu Gebote stehenden Effizienzpotenziale zu heben. Aber es entstehen auch für Patienten moralische Verpflichtungen: Primär sei Eigenverantwortung und dann Solidarität genannt. Manche sprechen von der 2-Klassen-Medizin. Im ASVG wird die Krankenbehandlung für alle einheitlich geregelt: … sie muss ausreichend und zweckmäßig sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Dies schließt die 2-Klassen-Medizin aus, da gleicher Standard für jährlich 80 Mio. Arztbesuche in Österreich festgelegt ist.

Schlüsselwörter: Gesundheitsökonomie, Rationalisierung, Verantwortlichkeit, Solidarität

Abstract

Insurances have replaced familial solidarity in the 19th century. They are, however, afflicted by a continuing crisis, since the majority of insured people hold that they are gaining less than what they have paid – pushing social medicine towards its limits. Health economy can – compared with other markets – never deal with an abundance of (medical) output. Since amendments are financially limited, it appears to be a moral obligation to practice rationalization rather than rationing in medicine. In the light of resources becoming scanty in Western Europe, the potential of raising efficiency is an obligatory challenge for conscientious health managers, appealing primarily on individual responsibility, but also solidarity. Some people see a problem in the divergence between a so-called first and second class medicine. The Austrian legislation provides a uniform ruling: … (the practice of medicine) must be sufficient and practical and must not go beyond measures of necessity. This excludes a “medicine of two classes”, a standardization, which applies to yearly 80 million visits with a physician in Austria.

Keywords: Health economy, rationalization, personal responsibility, solidarity


Wir sind Zeugen und zugleich in Mitleidenschaft Geratende, wie jenes nicht exakt bestimmbare Etwas, das man in unseligen Zeiten „Volksgesundheit“1, danach in der Phase des optimistischen Aufbruchs „Sozialmedizin“ und seit der Neuformierung staatlich-öffentlicher Aufgabenfelder „Public Health“ genannt wird, nun an seine Grenzen stoßt.

Länger leben bei gleichem Verbrauch

Freilich muss dabei konzediert werden, diese „Rezession“ erfolgt auf einem hohen Niveau. Die Lebenserwartung der österreichischen Bevölkerung bei der Geburt hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts verdoppelt; sie beträgt für neugeborene Mädchen heute 84, für neugeborene Buben 77 Jahre. Im Alter von 65 Jahren können Frauen heute noch 21 und Männer noch 17 Lebensjahre erwarten.2 Die Zahl der in nicht guter oder gar in schlechter Gesundheit verbrachten Lebensjahre (Krankheitslast der Bevölkerung) ist seit 1980 praktisch unverändert geblieben, seit 1998 ist ihr Anteil leicht gestiegen. Zwischen 1970 und 2000 stiegen die Gesundheitsausgaben von 5,2 auf 9,9 Prozent des BIP3, obwohl der Anteil der über 60-Jährigen an der Wohnbevölkerung nur geringfügig zunahm und die Zahl der Sterbefälle um rund ein Viertel sank.4

Es drängt sich daher die Frage auf, warum die markante Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Krankenversorgung nicht zu einer nachhaltigen Verringerung der Krankheitslast der Bevölkerung geführt hat. Und ich fürchte, wir finden die Antwort nicht, wenn wir bei der Ursachenforschung unseren Blick auf das bestehende System der Krankenversorgung beschränken.

Zunächst scheint es mir zweckmäßig, den Begriff „Nachhaltigkeit“ und seine Bedeutung mit einer Bemerkung zu versehen, zumal die Sozialmedizin – ganz ähnlich wie die Ökologie – darin ihre Grundbestimmung zu finden trachtet. Der Begriff stammt ja ursprünglich aus der Forstwirtschaft der deutschen Fürstentümer im 18. Jahrhundert. Er bezeichnete die Bewirtschaftungsweise des Waldes, bei der nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann.

Was ist Sozialmedizin?

Dieser konservierende Aspekt steht auch im Zentrum des sozialmedizinischen Selbstverständnisses. Der Grazer Sozialmediziner und Epidemiologe, Horst Noack, versteht denn auch unter einer nachhaltigen öffentlichen Gesundheitspolitik eine solche, die eine dauerhafte Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung bewirkt, ohne dass dabei der Ressourcenverbrauch steigt. Sie entzieht anderen öffentlichen Sektoren wie z. B. Ausbildung, Umwelt, Beschäftigung oder privaten Haushalten keine Ressourcen, um damit wachsende Finanzierungslücken im Gesundheitsetat zu schließen.5

Die Sozialmedizin beschäftigt sich mit der Interaktion von sozialen Bedingungen, Gesundheit und Krankheit. Sie wird auch als die Lehre von der Gesundheitspolitik bezeichnet. Die Sozialmedizin und ihre Anwendung (Public Health) bedienen sich denn auch der Epidemiologie6 als Informationsquelle und setzen die Erkenntnisse der Epidemiologie in Public Health Programme um, um einen Beitrag zur Förderung der Volksgesundheit zu leisten. Im Rahmen des Gesundheitswesens war der Sozialmedizin stets eine „Stabsfunktion“ zugedacht, die die „Linienfunktionen“ (Prävention, Früherkennung, Therapie und Nachsorge) durch Planung unterstützt und evaluiert.

Die Zusammenhänge von ökonomischen, sozialen und kulturellen Einflussfaktoren auf die Lebenserwartung der Menschen und die Verteilung von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken sind ja inzwischen wissenschaftlich gut belegt. Dieses Wissen findet jedoch noch nicht in allen Ländern seinen institutionellen Ausdruck.

In Großbritannien wurde z. B. ein Ministerium für Public Health geschaffen, das unter anderem die Aufgabe hat, wirksame Strategien und Maßnahmen zu erarbeiten. Zur Vorbereitung einer neuen Gesundheitsstrategie für Europa hat die Europäische Kommission über 150 Konsultationen abgehalten. Diese neue Strategie sieht gesundheitspolitische Verbesserungen in allen nunmehr 27 Mitgliedsländern vor.

Gerechtigkeit als Problem der allgemeinen Gesundheit

In diesem Zusammenhang ist zweifellos auch die Frage der gerechten Verteilung der nicht unbegrenzt vorhandenen Gesundheitsressourcen zu diskutieren. Hier ist zweierlei zu beachten: Zum einen ist der Gesundheitszustand eines Menschen nur zum Teil von der medizinischen Versorgung im engeren Sinn abhängig. Die erhebliche Zunahme der Lebenserwartung in den Industrienationen im letzten Jahrhundert ist unter anderem auf verbesserte sozioökonomische und hygienische Bedingungen zurückzuführen. Zum anderen bestehen auch bei einem unbeschränkten Zugang zur medizinischen Versorgung immer hohe Diskrepanzen im Gesundheitszustand der Menschen. Daher dürfen sich Gerechtigkeitsüberlegungen im Kontext von Gesundheit und Krankheit nicht auf den Zugang zur medizinischen Versorgung erschöpfen.

Dass die Gesundheit kein so einfach herstellbares Produkt ist, sondern allenfalls wiederhergestellt werden kann, ist mit ein Grund für die Ausbildung eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems, das auf einkommensabhängigen Beitragszahlungen basiert. Indem die Risikofolgen verteilt werden, hat es primär die Verteilungsgerechtigkeit und nicht die Tauschgerechtigkeit zur Maßgabe.

Die hohle und abstrakt-formale Bestimmung von Gerechtigkeit stammt aus der Spätantike und lautet: Jedem das Seine. Ich erlaube mir daher in einem kleinen Exkurs auf fundamentale Unterscheidungen in der antiken Ethik einzugehen.

Gerechtigkeitsformen bei Aristoteles

Aristoteles unterscheidet zwischen distributiver und kommunitativer Gerechtigkeit. Bei ersterer ist es möglich, dass der eine das Gleiche wie der andere oder nicht das Gleiche zugeteilt erhält. Die andere Grundform sorgt dafür, dass die vertraglichen Beziehungen zwischen den Menschen rechtens sind.7

Die iustitia distributiva beruht auf der staatlichen Zuweisung von Gütern und Rechten nach dem Prinzip der Angemessenheit. Die iustitia commutativa verweist hingegen auf die ausgleichende Tauschgerechtigkeit, deren Grundlage der Vertrag ist. Es geht dabei um den gerechten Tausch zwischen einander gleichgestellten Partnern, unabhängig von ihrem Einkommen oder Vermögen.

Aristoteles bedachte dabei, dass die Regeln der Proportionalität nie exakt auf die einzelne Situation angewendet werden können und forderte daher zusätzlich eine Fallgerechtigkeit, die Epikie. Sie ist als aequitas oder Billigkeit in die weitere Diskussion eingegangen, aber lediglich als Korrektiv außerhalb der Regeln. Es steht also im Gerechtigkeitskonzept bei Aristoteles die angemessene Behandlung von Personen der Wertäquivalenz von Sachen gegenüber.

In späterer Folge lösten im Rahmen der Gerechtigkeitsdiskussion anthropologische Gesichtspunkte – etwa jene nach den Grundbedürfnissen – die alten Gesichtspunkte immer mehr ab, ein Umstand, der dem Auf- und Einstieg des Bürgertums in den weltweiten Handel zuzuordnen ist. Die Einheit des Ganzen konnte aber nur gewahrt werden, indem das spätantike „Jedem das Seine“ an Bedeutsamkeit zunahm.

Gerechtigkeitstheorie heute

Erst in der Neuzeit haben sich wieder Theoretiker zwischen Ethik und Ökonomie mit der Gerechtigkeit befasst, etwa David Hume, Adam Smith und John Locke. Aber bei all diesen dominiert die Frage der Tauschgerechtigkeit, während die iustitia distributiva für lange Zeit in die Sphäre der privaten Tugenden verschoben wird.

Die aus dem römischen Recht stammende obligatio in solidum war anfangs eine besondere Haftungsart, nach der die Gemeinschaft für die Schulden des Einzelnen einstehen musste. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde dieses Prinzip auch auf die Sozialpolitik und später auf das Krankenversicherungskonzept übertragen.

Üblicherweise rechnen rational handelnde Individuen denn auch nicht damit, unter Annahme einer Durchschnittswahrscheinlichkeit schwer zu erkranken. Wenn sie sich dann also dennoch als Beitragsleistende solidarisch verhalten, so nur in Bezug auf Krankheiten, die sehr wahrscheinlich sind. Versicherungstechnisch ergibt sich daraus tendenziell ein Nullsummenspiel.

Daher stellen Autoren verschiedener Denkrichtungen die Gleichheit als universalistisches Konzept grundsätzlich in Frage: So der Liberale Robert Nozick ebenso wie der als Kommunitarist bezeichnete Michael Walzer. In ihrer in den USA geführten Debatte („Why Equality“) verhandelten sie die Frage, inwiefern Gerechtigkeit überhaupt etwas mit Gleichheit zu tun haben soll.

Während für Walzer8 sämtliche Zuteilungen gerecht bzw. ungerecht stets nur im Verhältnis zur gesellschaftlichen Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter sind, sollen nach Nozick9 lediglich die negativen Freiheiten geschützt werden: Er kritisiert das Gleichheitsideal über die so genannte „Leveling-Down-Objektion“, wonach in diesem Kontext die Schwerkraft der Angleichung nach unten wirksam wird und damit zu einer Schlechterstellung des zuvor relativ Bessergestellten führt.

Solange nämlich die Gerechtigkeit in der Art einer Grundversorgung im Sozialstaat existiert, könnte nach Nozick der Einzelne auf Grund seiner stärkeren Präferenz für Gesundheit im Gegensatz zu anderen, die ihr Einkommen anderweitig ausgeben, eine bessere Versorgung erhalten. Das Prinzip der Konsumentensouveränität sollte demnach auch am Gesundheitsmarkt einer sozialen Marktwirtschaft herrschen.

Der sicherlich bekannteste Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts war John Rawls. Er konzipierte eine andere Form der Gerechtigkeit, und diese wäre die erste Tugend sozialer Institutionen, ähnlich der Wahrheit bei den Gedankensystemen10. Sein bekannter Ausgangspunkt ist der „Schleier des Nichtwissens“, unter dem die Bürger einer Gesellschaft ihre Grundregeln definieren.

Nach Rawls gelangen zunächst die Grundgüter zur Verteilung, danach einigt man sich auf Gerechtigkeitsprinzipien. Zweierlei ist dabei zu beachten: Jeder soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, die darin mit allen anderen verträglich sind. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten seien dabei so zu gestalten, dass zum einen vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und zum anderen sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.

Das Gerechtigkeitsproblem in der Krankenversicherung

Versicherungen haben seit dem 19. Jahrhundert die alte familiale Solidarität abgelöst. Seit Anbeginn durchlaufen sie aber eine Krise, da heute wie vormals jeweils eine deutliche Mehrheit aller Versicherten der Meinung ist, dass sie z. B. im Falle der Krankenversicherung weniger erhält, als sie einzahlt. Dies deshalb, weil der Median der bezogenen Leistungen vom arithmetischen Mittel der Zahler weit entfernt ist.

Dazu gesellt sich der Umstand, dass die Aufwendungen für die beiden letzten Lebensjahre zunehmend legitimationsbedürftig werden, da diese Ausgaben zumeist auf Grund des technischen Fortschritts entstehen. Zudem betrugen die kontinuierlich steigenden Gesundheitsausgaben im Jahr 2005 in Österreich 25,08 Mrd. Euro, das sind 10,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Davon waren 18,99 Mrd. Euro öffentliche Ausgaben, das sind 7,7 Prozent des BIP.

Das ökonomische Grundproblem im Gesundheitswesen besteht nämlich darin, dass es – im Unterschied zum Markt der anderen Güter und Waren - niemals einen Überfluss an medizinischen Leistungen geben wird. Man könnte medizinisch so gut wie immer mehr tun, als man de facto unternimmt.11 Wir stoßen in der Medizin damit unweigerlich auf das Problem der Opportunitätskosten bzw. den sogenannten „Schattenpreis“. Das heißt, dass jeder guten Tat wie ein Schatten eine andere gute Tat folgt, die man um ihretwillen unterlassen muss. Die Kosten einer guten Tat bestehen also in einer unterlassenen anderen guten Tat, auf die man verzichten muss. So stellt sich das Knappheitsproblem in der Medizin.

Insoweit wäre das Rationalisierungsgebot in der Medizin als moralische Pflicht zu sehen. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, dass die von Politikern angesprochenen Rationalisierungsreserven keineswegs so groß sind, um sämtliche Knappheiten in der gesundheitlichen Versorgung zum Verschwinden zu bringen. Denn einen Überfluss an medizinischen Leistungen wird es, wie schon gesagt,  niemals geben.

Die Knappheit in der Medizin hat jedoch einen besonderen Charakter: Mit dem Anwachsen medizinischer Möglichkeiten wird nämlich der Zusatznutzen weiterer Leistungen keineswegs notwendig unter einen bestimmten Schwellenwert gedrückt. Ein Beispiel: Wer mit großem Hunger ein Büffet plündert, wird den ersten Gang genießen, den zweiten vielleicht auch noch, beim vierten wird er sich der Sättigungsgrenze nähern und beim fünften der Toilette. In der Medizin scheint das anders zu sein.

Der Nutzen nimmt nicht mit der Expansion des Konsums dieser Leistungen in gleicher Weise ab. Er wächst im Gegenteil mit steigender Zunahme des medizinisch-technischen Fortschritts. Gleichzeitig dringt es verstärkt ins allgemeine Bewusstsein, dass diese Leistungen nicht allen zur gleichen Zeit, und damit ist auch gemeint – während der Lebensspanne aller –, zugänglich gemacht werden können.

Bei Organallokationen wird es allgemein akzeptiert, dass eine rationierende Zuteilung stattfinden muss. In anderen Bereichen werden rationierende Zuteilungen tabuisiert und sind verpönt. „Rationalisierung ja, Rationierung nein“ lautet ein nicht unpopuläres Motto, das selbst das Wissen darüber verbirgt, dass die Zuteilung knapper Ressourcen keineswegs die Aufhebung der Knappheit selbst bedeutet.

Wir sitzen nämlich in der Fortschrittsfalle: Gerade, weil die Medizin so fortgeschritten ist, wächst die Zahl der Kranken in der Gesellschaft. Je besser die Medizin, desto kränker die Gesellschaft. In einer Gesellschaft ohne gute Dialyseversorgung wird es kaum Nierenkranke geben, da diese bald versterben. Verfügt man über eine umfangreiche Dialyseversorgung, wächst die Anzahl chronisch nierenkranker Patienten.

Das führt zu der scheinbaren Paradoxie, dass die Versorgungsqualität erkrankter Patienten umso höher zu bewerten ist, je höher die Anzahl der Kranken ist. Und tatsächlich bewirken viele medizinische Maßnahmen nicht mehr die Heilung eines Patienten, sondern nur die zeitliche Ausdehnung der Behandlungsbedürftigkeit, die aber natürlich stets auch mit der Ausdehnung des Lebens verbunden ist.

Daraus kann man nicht die Vergeblichkeit medizinischer Maßnahmen ableiten, jedoch – ähnlich wie im antiken Mythos von Sisyphos – die Vergeblichkeit der Hoffnung, die Kostenspirale mit einer Rationalisierung der Mittel unterbrechen zu wollen.

Ein vortreffliches Beispiel für die Vergeblichkeit solcher Hoffnung bildet die präventive Medizin. Da die Todesrate in einer Gesellschaft immer 100 Prozent beträgt, bedeutet die Vermeidung der einen Todesart lediglich, dass mehr Menschen an einer anderen Krankheit versterben werden. Die sich aufdrängende Frage, inwieweit mit solcherart Kalkulationen etwa auch Einsparungseffekte erzielt werden können, sich also eine Verlagerung der Todesarten kostendämpfend auswirkt, sollte uns vor dem Zynismus hüten, anzunehmen, solche Überlegungen hätten Eingang in steuerungspolitische Planungsstäbe gefunden.

Vorsorgeuntersuchungen für Krebserkrankungen könnte man z. B. nicht nur jährlich, sondern theoretisch jeden Monat durchführen; ein Programm, das – abgesehen vom Problem seiner praktisch-realen Durchführbarkeit – immer noch einen gewissen Zusatzertrag an medizinischem Nutzen hätte. Daher sind Annahmen, die auf fast unbegrenzte Steigerungsfähigkeit von Überlebenserwartungen durch Gesundheitsausgaben hindeuten, keineswegs so absurd. Schätzungen so mancher Experten zufolge, könnten wir bereits heute das gesamte Bruttosozialprodukt eines entwickelten Landes für Gesundheitsausgaben verwenden, die entweder die Lebensqualität oder die erwartete Lebensdauer von Patienten erhöhen können. Ob wir das wollen sollen?

Daher wird die Zukunft unseres Sozialsystems – so ist es heute absehbar – vermutlich keine Einschränkung des derzeitigen Versorgungssystems mit sich bringen. Aber man wird davon ausgehen müssen, dass weitere Verbesserungen nicht unbegrenzt finanziert werden können. Dies wird bedeuten, dass heute gewährte Leistungen nicht vorenthalten werden, sondern künftig mögliche Leistungsverbesserungen, die das derzeitige Niveau überschreiten, nicht jedem gleichermaßen zugänglich sein werden.

Das ASVG als Damm gegen die Zwei-Klassen-Medizin

Im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsfrage in der Medizin wird immer wieder von der Zwei-Klassen-Medizin gesprochen. Eine – wie ich meine – unzulässige Zuschreibung für das österreichische Gesundheitssystem, in der die Krankenbehandlung umfassend geregelt und für alle Versicherten12 einheitlich im ASVG § 133 Abs. 2 definiert ist. Demnach muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Dieser Kernsatz des allgemeinen Krankenversicherungsgesetzes schließt vieles ein und einiges aus. Ausgeschlossen ist die Festschreibung einer Zwei-Klassen-Medizin, da ja auch bei knapper werdenden Ressourcen, der gleiche Basisstandard des eingeschlossenen Notwendigen für alle gleichermaßen festgelegt ist. Und weiter heißt es im Gesetz: Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. … (3) Kosmetische Behandlungen gelten als Krankenbehandlung, wenn sie zur Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen.

Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich bei der Gesundheit in einer anderen, geradezu verschärften Weise im Gegensatz zu den sonstigen Gütern des Marktes. Denn wenn ich erkranke, entfällt mir die Alternative der Entscheidung zur Konsumenthaltung, im Normalfall auch das Ausweichen auf einen anderen Anbieter. Der Gesundheitsmarkt erweist sich daher im eigentlichen Wortsinn als notwendig, da er hereinbrechende Nöte alternativlos abzuwenden hat und er in der Folge zum rein angebotsinduzierten Markt verkam.

Dazu gesellt sich auch in den reichsten Gesellschaften der westlichen Industrienationen, dass die Ressourcen knapper werden. Das kommt vor und ist noch nicht als Katastrophe zu werten. Aber bei zunehmender Ressourcenverknappung haben wir als Verantwortliche in der medizinischen Verwaltung die Pflicht, sämtliche zu Gebote stehenden Effizienzpotenziale zu heben.

Und es entstehen auch für die Versicherten und Patienten ethisch-moralische Verpflichtungen: Primär sei hier die Eigenverantwortung zu nennen. D. h. ein verantwortlicher Umgang mit der eigenen Gesundheit. Das bezieht sich auf das Ernährungs- und Risikosportverhalten ebenso wie auf die gebotenen Alltagsnormen, genügend körperliche Bewegung zu tätigen und die Besonnenheit im Automobilverkehr.

Erst im zweiten Schritt wäre bei einem moralisch-ethischen Stufenbau des sozialen Gesundheitsverhaltens die Solidarität zu nennen. Solidarität ist denn auch gleichwohl unabdingbare Voraussetzung für jedwede soziale Versicherungswirtschaft, aber ich kann und darf diese Solidarität nur dann erwarten, wenn ich selbst solidarisch bin.

Markt versus Regulierung

Die Frage, inwieweit wir die Verteilung von Gesundheitsressourcen dem freien Markt überlassen sollen, scheidet schon lange die Geister. Wie bereits angedeutet, handelt es sich beim Gesundheitsmarkt um einen angebotsinduzierten Markt.

Wie bei jedem Argument für die Marktwirtschaft wird auch für diesen Sektor die Attraktivität einer Produktions- und Verteilungsweise ins Treffen geführt, wonach unter den Bedingungen des freien Wettbewerbes, die Güter effizient produziert und nach der Zahlungsbereitschaft der Konsumenten verteilt werden.

Es sprechen nicht nur klassische Wirtschaftstheorien dafür, sondern auch abschreckende Beispiele der empirischen Wirklichkeiten, so z. B. die öffentliche Gesundheitsversorgung in Tschechien, Rumänien oder Bulgarien. Studiert man diese Systeme, kann man keine sozialisierte oder überregulierte Medizin mehr wollen.

Wie aber in allen systemisch bezogenen Fragestellungen, kommt es auf das Maß und die Balance an. Jegliches Marktelement auszuschalten hieße, der Willkür und der Zwei-Klassen-Medizin auf schnellem Weg die Türen zu öffnen, wiewohl bekanntlich die sozialistisch gesonnenen Kräfte am lautesten davor warnen.

Aber es sprechen sowohl innerökonomische wie gerechtigkeitstheoretische Argumente gegen eine rein marktorientierte Verteilung von Gesundheitsgütern. Nach dem ökonomischen Argument weisen ganz spezifisch die Gesundheitsmärkte Elemente auf, die zu einem schnellen Marktversagen führen können. D. h. gerade im Bereich der Zuteilung sind für ein optimales Funktionieren Regulierungsschritte notwendig.

Der Grund für das Versagen des reinen Marktes für Gesundheitsleistungen liegt in der eingeschränkten Patientensouveränität. Patienten befinden sich im Krankheitsfall gewöhnlich in einer existenziellen Notlage, die es ihnen nicht ermöglicht, Angebote zu vergleichen und für den Fall des Falles Konsumverzicht zu üben.

Gewiss schwächt die soziale Krankenversicherung als Mittler zwischen Konsument und Leistungsanbieter den rauen Wind des Marktes etwas ab, aber ihr Radius und ihre Handlungsspielräume sind durch den Gesetzgeber und die politischen Rahmenbedingungen ganz generell außendeterminiert.

Das gerechtigkeitstheoretische Argument setzt bei der besonderen Eigenschaft des Gutes „Gesundheit“ an. Denn, was immer Menschen in ihrem Leben anstreben, sie benötigen für ihre Ziele die Gesundheit. Dieses Gut ist somit ein Ermöglichungsgut und dafür gilt – bedingt durch seinen konditionalen Charakter – jene allgemeine Formel, deren Urheberschaft schon dem alten Griesgram Arthur Schopenhauer zugeschrieben wird: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“

Daher kann aus ethischer Sicht die theoretische Conclusio nur lauten: Gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und einen Basisanspruch für Gesundheitsleistungen in ausreichendem Ausmaß für alle. Aufgrund des sozialethisch begründeten Anspruchs auf Hilfe im Krankheitsfall, muss die medizinische Grundversorgung im Rahmen eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens einkommensneutral zur Verfügung stehen.

Darüber hinausgehende, individuelle Präferenzen sollen ihre Sättigung auf einem freien Markt und einem für private Zusatzversicherungen finden. Die österreichische Sozialversicherung ist dabei ständig darum bemüht, den Umfang der gebotenen medizinischen Grundversorgung zu bestimmen, auch wenn es hiefür kein allgemein gültiges Kriterium gibt. Als Strategie gegen die Mittel- und Ressourcenknappheit stehen grundsätzlich nur zwei Wege zur Verfügung:

  1. Effizienzsteigerung (Rationalisierungen)
  2. Leistungsbegrenzungen (Rationierungen)

Wofür die österreichische Sozialversicherung steht, dürfte aus dem bisher Gesagten unzweifelhaft hervorgehen.

Das Arzt-Patienten-Verhältnis und sein Wandel

Lassen Sie mich zum Abschluss kurz auf das sich in den vergangenen Jahrzehnten veränderte Arzt-Patient-Verhältnis eingehen. Einigkeit herrscht unter den Medizinhistorikern heute darüber, dass eine Dominanz der Ärzte im Verhältnis zu ihren Patienten erst hervortrat, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts in großem Umfang Krankenhäuser entstanden und sich wenig später die erst auf Physiologie, dann auf Biochemie fußende laborzentrierte „wissenschaftliche“ Medizin entwickelte. Die dadurch zutage tretenden Ungleichheiten bezüglich des Expertenwissens zwischen Arzt und Patient wurden noch verstärkt, indem die westlichen Staaten der wissenschaftlichen Medizin dahingehend einen Autoritätszuwachs zubilligten, als sie deren Konzepte als für staatliche Gesundheitssysteme geeignet anerkannten.

Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts beginnt die Ärzteschaft um diesen Komfort zu fürchten, was wiederum einen Wandel in der Arzt-Patient-Beziehung (APB) nach sich zog. Der Medizinhistoriker Edward Shorter13 unterteilt etwas vereinfacht, aber plausibel drei Epochen im Umgang von Ärzten und Patienten zueinander: Die traditionelle Periode vom 2. bis zum 19. Jahrhundert, in der die orthodoxe Schulmedizin mit anderen Heilern um Patienten konkurrierte, die moderne, die vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauernde Periode, in der sich das Verhältnis zugunsten der Ärzte verschob, und zuletzt die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts währende Periode, in der informiertere, selbstbewusstere Patienten auf die Autorität der Ärzte zunehmend mit Rückzug oder Ärger reagieren.

Gleichzeitig mit der zunehmenden therapeutischen Aktivität im späten 19. Jahrhundert, die vor allem durch die Verbreitung operativer Techniken ermöglicht wurde, setzt ein Prozess der Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung ein.

Wie die Familie für den Staat, so bildet der Mikrokosmos der APB für die Struktur des Gesundheitssystems die konstitutive Basis. Vom Gelingen dieser Beziehung hängen nicht nur die Gesundheit der Patienten und die Zufriedenheit der Ärzte mit ihrem Beruf ab. Die in der APB getroffenen Einzelentscheidungen summieren sich auf der Makroebene des Gesundheitssystems und beeinflussen natürlich auch dessen weitere Entwicklung.

Heute haben verschiedene Modelle der APB Eingang gefunden, insbesondere die Modelle des „shared decision making“ (partizipative Entscheidungsfindung) und des „evidence based patient choice“ (evidenzbasierte Patientenentscheidung). Diese an sich vielversprechenden Fortentwicklungen älterer Modelle der patientenzentrierten Interaktion werden vielfach erprobt und diskutiert, auch bei uns in Österreich.

Ob man diesen neuen partnerschaftlich-deliberativen Ansätzen nun ein Vertrags- oder Kundenmodell unterstellt, ist zweitrangig. Bedeutsam ist, dass jede Dynamisierung dieser sensiblen Beziehung äußerste Behutsamkeit verlangt. Und es wird auch weiterhin so sein, dass der Patient nicht seinen Körper als Rechtsgut in die ärztliche Ordination schleppt, sondern er als Leib-Seele-Einheit dortselbst erscheinen wird.

Der hippokratische Eid, der am Beginn jeder APB steht und vor fast 2.500 Jahren abgelegt worden sein soll, definiert dieses Verhältnis von Grund auf als ein Vertrauensverhältnis.14 Nachdem der Eid vor Apollon und anderen Göttern der Antike abgelegt wurde, durfte der Leidende zu Recht erwarten, dass sein Gegenüber die Heilkunst nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen ausübt, der Arzt gelobte auch ein moralisch-ethisches Verhalten, das Verschwiegenheit, Selbstbescheidung und Solidarität – auch im Sinne der Sozialversicherung – mit einschloss.

Dieses Verhältnis, wonach der Arzt mit hohem Verantwortungsgefühl für das Wohl des Patienten da ist und ihn nicht nur als Summe seiner Organfunktionen betrachtet, bestimmte den hoch angesehenen Stand der Ärzte über mehr als zwei Millennien. Der Arzt betrachtete den Patienten als seinen Schutzbefohlenen und hatte Verantwortung für sein Leben. Dieses oft als „paternalistisch“ abgetane Modell steht realiter aber sicher auch heute noch für über 90 Prozent aller Arzt-Patientenkontakte. Und diese betragen in Österreich alljährlich rund 80 Millionen.

Vom Standpunkt der österreichischen Sozialversicherung ist es dabei entscheidend, dass diesem Verhältnis auch ein klares Konzept von Krankheit zugrunde liegt, das eine objektive Krankheitsebene („disease“) definiert. Und aus dieser Ebene ergibt sich für die APB eine daraus sinnvolle Konstellation der Einwilligung des Patienten und der ärztlichen Aufklärung.

Informierte Zustimmung umfasst im Rahmen von Diagnose und Therapie vor allem die Information des Patienten über seine medizinische Situation, aber auch die Erläuterung der Therapieoptionen durch den Arzt und die Sicherstellung, dass der Patient diese verstanden hat. Die Zusicherung der Entscheidungsfreiheit des Patienten unter Berücksichtigung des Patientenwillens gehört natürlich ebenfalls dazu.

Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Wilhelm Donner, der die Hauptlast der Arbeit trug und mehr als nur seinen Erfahrungshintergrund eingebracht hat.

Referenzen

  1. Siehe die im Münchner J. F. Lehmanns Verlag publizierten Studien zur Rassenhygiene im Dritten Reich.
  2. Vgl. Kytir J., Altern gesamtpolitisch bewältigen. Politikbereich Public Health, Statistik Austria, Wien (2007)
  3. OECD-Gesundheitsdaten
  4. Kytir J., Gesünder älter, unbezahlbar?, Österreichische Ärztezeitung (2001); 19: 30-31
  5. Vgl. Noack H., Gesundheit und Wohlstand: Investitionen in eine nachhaltige Gesundheitspolitik, in: Meggeneder O., Volkswirtschaft und Gesundheit, Mabuse Verlag, Frankfurt/Main (2008), S. 345
  6. Verstanden als Nachrichtendienst des Gesundheitswesens
  7. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a
  8. Vgl. Walzer M., Sphären der Gerechtigkeit, Campus Verlag, Frankfurt/Main (1992)
    und Walzer M., Komplexe Gleichheit, in: Krebs A. (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (2000), S. 172-214
  9. Vgl. Nozick R., Anarchy, State and Utopia, Basil Blackwell, Ocford (1974)
  10. Vgl. Rawls J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1975)
  11. Vgl. Kliemt H., Ethische Aspekte der Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit, in: Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, Sozialpolitische Schriften, Heft 88, Duncker & Humblot Verlag, Berlin (2006), S. 45−59
  12. Das sind 99 Prozent aller in Österreich lebenden Einwohner.
  13. Shorter E., Das Arzt-Patient-Verhältnis in der Geschichte und heute, Picus Verlag, Wien (1991)
  14. Historische Forschungen verorten den hippokratischen Eid um 400 v. Chr. auf die griechische Insel Kós.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Josef Kandlhofer
Generaldirektor des Hauptverbandes der österr. Sozialversicherungsträger
Kundmanngasse 21, A-1030 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: