Das Wunder des Erkennens

Imago Hominis (2009); 16: 287-298
Roman A. Siebenrock

Zusammenfassung

Erkennen ist ein ganzheitlicher, immer auch alltäglicher Prozess der menschlichen Person, in dem der Anspruch auf Wahrheit und damit persönlich auf Gewissheit und sozial auf Zustimmung erhoben wird. In der Erkenntnislehre wird entweder der Prozess oder das Ergebnis auf seine Begründungen, Bedingungen und Rechtfertigungsstrategien hin untersucht. Dabei wird bedeutsam: Sprache, Wahrheitstheorien, Erfahrungsbezug und Begründungsformen in ihrem biographischen und gesellschaftlichen Kontext. Ein Abschnitt ist der Möglichkeit von Gotteserkenntnis gewidmet. Dabei wird vorgefragt, wie sich naturwissenschaftliche und religionsphilosophische bzw. theologische zu einander verhalten.

Schlüsselwörter: Erkenntnislehre, Erkennen, Wahrheit, Rechtfertigung, Gotteserkenntnis, naturwissenschaftliche Erkenntnis, natürliche Theologie, Offenbarung

Abstract

Cognition is always a holistic, everyday process of the human person. In this process, the claim of truth is imposed, which implies personal certainty and social assent. In a philosophical epistemology, either the process of knowing or the result of knowing is examined, which involves strategies of justification and argumentation. The main themes of epistemology are: language, theories of truth, experience and forms of justification in their biographical and social context. One part of this article focuses on the possibility of acquiring knowledge of God, in which the difference and relationship among the epistemology of the sciences, a philosophy of religion and a theology in respect of revelation are investigated.

Keywords: Epistemology, Knowing, Truth, Epistemological Justification, Knowledge of God, Scientific Knowledge, Philosophical Theology, Natural Theology, Revelation


Es erscheint uns normal, wenig Aufsehen erregend, dass wir sehen, hören, schreiben, lesen, fragen, staunen und zweifeln. Und doch ist es erstaunlich, weil wir die einzigen Lebewesen auf diesem Planten sind, die in solchen Vollzügen das ohne besondere Aufmerksamkeit verwirklichen, was „erkennen“ genannt wird. Wenn wir von „erkennen“ sprechen, beziehen wir uns auf Wahrnehmung, Sprache, Denken, Wissen und Wahrheit. Aber was ist mit „erkennen“ gemeint? Wenn ich solche Fragen stelle, bin ich bereits in philosophische Probleme verwickelt, die das Herz jener Disziplin darstellt, die Erkenntnistheorie genannt wird. Denn wir Menschen agieren nicht einfach, sondern können uns dieser verschiedenen Akte und Handlungen bewusst werden. Wir können uns selbst mit allem unseren Tun, gedachten Intentionen und unbewussten Vorgaben zum Objekt werden – und dies ist wichtig, um unser Handeln und Leben zu orientieren und zu verbessern. Erkennen bleibt ins Lebenshandeln von uns Menschen involviert. Ich lese diese Zeilen nicht nur, sondern ich weiß, dass ich es bin, der dies liest – und ich weiß, dass ich mich dabei verändere: meine Erinnerungen, Vorstellungen und Meinungen von mir und der Wirklichkeit. Immer bin ich inmitten dessen, was erkennen bedeutet, wenn ich anfange darüber nachzudenken, wie diese Zeilen zu beurteilen sind. Für diese Frage gibt es kein Außen, immer bin ich mit im Spiel. Wenn in diesem kleinen Beitrag versucht werden soll, unser Erkennen zu verstehen, so sind Sie und ich immer mitten im Spiel. Nach einer kurzen Erläuterung werde ich die entscheidenden Aspekte verdeutlichen, um schließlich als Theologe zu erkunden, wie von Gotteserkenntnis heute gesprochen werden kann.

Erkennen: eine sprachphilosophische und phänomenologische Annäherung

Wenn wir von „erkennen“ sprechen, dann haben wir es zu tun mit: wahrnehmen, sprechen, denken, zweifeln, fragen und urteilen, und deshalb auch mit Überzeugungen, Irrtum und Begründungen, die zwischen Sein und Schein, bloßen Meinungen und begründeten Aussagen zu unterscheiden versuchen. Weil wir in diesen Akten uns auf eine Wirklichkeit beziehen, die mit uns selbst verbunden, aber auch von uns unterschieden ist, stellen sich persönliche Dispositionen ein wie: Gewissheit, Unsicherheit, Ahnungen, Vermutungen und Optionen. Wir übersteigen aber in diesen Vollzügen immer die Gegebenheiten der unmittelbaren Erfahrung und wollen unser Erkennen auf alles Mögliche ausweiten. Wir wollen, wie der Wandervogel sang, schauen, was hinter den Bergen haust. Gibt es eine Grenze für das Fragen, ein Limit für unseren Drang nach Wissen, ein wirklich stabiles Tabu für unsere Neugierde? Wir experimentieren mit dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, indem wir unsere Phantasie, Vorstellungskraft und poetisches Vermögen aktivieren.

Dann aber können wir uns verstricken und die entscheidende Frage wird uns gestellt: Trifft dies zu? Gibt es dies, was wir uns vorstellen, wünschen oder erhoffen? Ein kleines Wörtchen taucht auf, das ich als Urwort des Erkennens bezeichnen möchte: „wahr“. Im Gebrauch dieses Wörtchen bündeln sich alle Fragen des Erkennens. Deshalb treiben wir Erkenntnistheorie zuerst im Alltag, bevor wir beginnen, über unser Erkennen methodisch ausdrücklich nachzudenken. Dieses Reflektieren wird durch Irritationen ausgelöst, die die überkommene oder allgemein akzeptierte Meinung in Frage stellt. Manche Irrtümer sind belanglos, viele aber tödlich. Deshalb ist die Frage nach der Wahrheit, die in unserer Tradition biblisch als Verlässlichkeit und ‚griechisch-philosophisch’ als Licht beschrieben wird, für den Menschen not-wendig (und zwar mitunter im wörtlichsten Sinne dieses Ausdruckes). Wenn wir aber beginnen darüber nachzudenken, bemerken wir die Bedeutung des Mediums Sprache, das uns das Wechselspiel von Sinnlichkeit, Geist, Bewusstsein, Verstand und Vernunft zu unterscheiden ermöglicht. Diesen Aspekten wollen wir in diesem kleinen Versuch nachgehen, wenigstens ihre Bedeutung ansprechen. Zu Beginn sei aber an den philosophischen Lehrer Europas erinnert, Sokrates in der Überlieferung Platons, der seine Sendung als fragender Unruhestifter bis heute in unsere Kultur gesenkt hat. Zur Frage von Autorität und Wahrheit konnte es für ihn nur eine Antwort geben: „Kümmert euch nicht um Sokrates, sondern viel mehr um die Wahrheit“ (Phaidon 91c). Und in der Tradition des Aufrufs am Tempel in Delphi („Erkenne Dich selbst“) meinte er: „Ein Leben ohne Selbsterforschung ist nicht wert, gelebt zu werden“ (Apologie 38a).

Erkennen bedeutet…

Das Wort „Erkenntnis“ ist doppeldeutig. Es kann sowohl das Ergebnis als auch den Prozess bezeichnen. Beide Aspekte umschreiben das Problem: Was ist Erkenntnis und wie kommt sie zustande? Die eingangs genannten Erfahrungen der Unsicherheit rufen jene Vollzüge hervor, die traditionell als der Beginn der Philosophie angesehen werden:1 fragen, staunen und zweifeln. Wir können uns täuschen und irren – und uns dessen angesichts sperriger Erfahrungen und existentieller Bruchsituationen bewusst werden. In der europäischen Tradition ist die Frage nach dem menschlichen Erkennen aus der Erfahrung entstanden, dass manche der bislang selbstverständlich angenommenen Erkenntnisse sich als unzuverlässig und falsch erwiesen haben. Sie stellten sich in diesem Prozess der Verunsicherung als bloße Meinung, Schein, gefällige Dichtung oder gar beabsichtigte Fälschung heraus. Worin könnte aber eine allem Zweifel beständige Grundlage des Erkennens gefunden werden? Für die Neuzeit ist das Selbstexperiment des französischen Philosophen René Descartes, der auf ähnliche Analysen bei Augustinus zurückgreift, bestimmend geworden. In Zweifel an allem und jedem wird ein festes im Vollzug des Zweifelns evident werdendes Fundament der Gewissheit offenbar: „Cogito ergo sum“. Gerade wenn ich an allem zweifle, ist es unbezweifelbar, dass ich zweifle, denke und überlege. Bis heute wird über die Reichweite dieses von allen Menschen nachvollziehbaren Aktes diskutiert.

Dieser und alle anderen Akte der Erkenntnisse werden als geistige Akte oder Zustände klassifiziert. Essen, trinken und verdauen sind keine solche. Diese können als biologische bezeichnet werden. Geistige Zustände haben es mit Bewusstsein zu tun, das nur aus der „Ersten-Person-Perspektive“ hinreichend erschlossen werden kann: Ich nehme dieses oder jenes als solche wahr. Ich bin mir Schmerzen, Gefühlen und Träumen bewusst. Wenn ich solche Vorgänge mit Erkennen in Verbindung bringe, dann kommt ein Anspruch hinzu, der sich in einem „dass-Satz“ ausdrückt. Die Philosophen sprechen von einem kognitiven Gehalt, der in einer Proposition sprachlich geäußert wird. Darin wird ein Anspruch erhoben und mit einer auch persönlich geprägten Überzeugung verbunden. Dieser Anspruch kann aber von anderen nur dann überprüft und übernommen werden, wenn dieser wahr oder falsch sein und darüber mit entsprechenden Verfahren und Kriterien entschieden werden kann.

Nicht jede Überzeugung ist Erkenntnis

Erkennen hat folglich mit kognitiven Zuständen zu tun, die als wahrheitsfähig ausgewiesen werden. Erkennen ist dann als jener Prozess zu verstehen, in dem kognitive Ansprüche zu Stande kommen und überprüft werden. Deshalb ist nicht jede Überzeugung eine Erkenntnis, sondern nur eine solche, die „wahr“ oder „falsch“ sein kann. Erkennen erhebt darin den Anspruch auf Wissen. Wissende Erkenntnis beruht aber nicht auf Zufall. Sie beruht nicht auf einer Lotterie oder – wie in einem Millionenspiel – auf zufälliger Wahl. Ich weise Wissen vielmehr mit Gründen aus und weiß dadurch, wie sie zustande kommt. Deshalb wird oft als Standardexplikation festgehalten: „Erkenntnis ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung“.2

Dies erscheint mir aber zu wenig, denn dabei werden das Subjekt, das Medium, Ort und Kontext, vor allem die Sprachgemeinschaft, nicht bedacht. Deshalb möchte ich ergänzen:

„Erkenntnis ist eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung einer Person, die sie in bedeutungsfähigen Zeichen als selbstreflexiver Akt in einer Kommunikationsgemeinschaft mit dem Anspruch auf Anerkennung als Wissen und personaler Zustimmung für die persönliche und gemeinschaftliche Lebensorientierung äußert.“ Diese These soll im Weiteren erläutert werden.

Der erste Abschnitt führt zur Wahrheitsfrage und zur Wissensthematik. Diese großen Themenbereiche werden heute vor allem mit der Diskussion jener Verfahren bearbeitet, mit deren Hilfe solche Ansprüche begründet und damit gerechtfertigt werden. Mit dem Begriff „bedeutungsfähige Zeichen“ umschreibe ich den Aspekt der Kommunikation, die zwar mit der Sprache in gesprochenem Wort und Schrift verbunden, aber nicht darauf eingeschränkt werden kann. Das lehrt uns das Beispiel der Mathematik, aber auch die hochdifferenzierten Äußerungsformen jener Menschen, die nicht lesen, hören und sprechen wie die Mehrheit, aber dennoch kommunizieren. Aber auch unter anderer Rücksicht ist Medium und Kommunikationsgemeinschaft von Bedeutung, weil der propositionale Anspruch mit weiteren Ansprüchen verbunden ist, die alle mit Macht und Einfluss zu tun haben. Wir haben also zu erläutern: Wahrheit und Wissen, Anspruch im Kontext von Macht und Interessen in der Kommunikationsgemeinschaft und das Erkenntnissubjekt.

Wahrheit und Wissen

Mit Platon beginnt die Unterscheidung zwischen Meinen und Wissen.3 Die Grundfrage der europäischen Wissenschaft („episteme“) war dadurch aufgeworfen. Meinen hat vielfältige Formen: ahnen, vermuten und – in diesem Sinne – „glauben“. In einer Wirklichkeit, die stets der Entwicklung und damit dem Wandel unterworfen ist, beruhen solche unzureichende Erkenntnisformen nicht allein auf inakzeptablen Intentionen wie etwa Betrug. Meinungen können sich mitunter auf scheinbare Evidenzen berufen. Im Prozess der Prüfung und Forschung erst stellen sich diese als unzureichend heraus, auch wenn die Mehrheit oder gar alle Menschen diese geteilt haben. Die Aussage „Die Sonne geht auf“ bezieht sich auf eine alltägliche Evidenz – und in dieser Hinsicht bleibt sie gültig, auch wenn sich die „scheinbar logische“ Folgerung daraus, dass sich die Sonne um die Erde drehen würde, als falsch erwiesen hat. Aber auch dieses ist nicht so einfach zu sagen, wenn alle komplexen Vorgänge des Universums berücksichtigt werden. Daher kann es vom Einzelnen und der Geschichte in dieser Tradition keine Wissenschaft geben. Das Allgemeine, das Ewige, Unveränderliche ist allein wissenschaftswürdig. Modell hierfür waren immer die Gesetze der Mathematik. Deswegen forderte Platon, das ewige und daher unveränderliche Wesen der Dinge zu erforschen. Ideen nannte er diese. Demgegenüber war die uns erscheinende Wirklichkeit Schein. Eine Idee, die bis in die moderne Physik hinein gewirkt hat. Was ist Materie tatsächlich?

Das Gettier-Problem: Was ist eine gerechtfertige Meinung?

Damit ist die Grundfrage nach der Gültigkeit unserer Erkenntnis und ihrem Zusammenhang mit allen anderen Erfahrungen und Erkenntnissen aufgeworfen. Dass hier dem Menschen Grenzen gesetzt sind, ist selbstverständlich. Alles Wissen kann niemand wissen – auch nicht mit Hilfe einer absoluten Mega-Maschine. Und dennoch besteht der Anspruch der Wissenschaft bis heute darin, alles zu erforschen. Die Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten des Erkennens lässt sich an einem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1963 erläutern: dem sogenannten Gettier-Problem. Die Standardvorstellungen für eine gerechtfertigte Meinung waren damals folgende: Im Modell der Gewissheit müssen Gründe die Wahrheit der Überzeugung objektiv und subjektiv garantieren. Im Modell der Wahrscheinlichkeit waren hingegen höchstmögliche Grade der Wahrscheinlichkeit hinreichend. In beiden Fällen wurde angenommen, dass Wissen eine gerechtfertigte, wahre Überzeugung darstelle.

Die Beispiele von Gettier haben aber gezeigt, dass die Verbindung von Wissen und gerechtfertigter wahrer Überzeugung nicht immer zutrifft. Der nur eineinhalb Seiten lange Aufsatz bringt dafür einleuchtende Beispiele.4 Smith weiß, dass Meier immer schon einen PKW besessen hat, und er wird soeben von Meier am Bahnhof mit seinem Wagen mitgenommen. Das ist für Smith hinreichend für die Proposition: (a) Meier besitzt einen PKW – auch wenn diese Gründe nur wahrscheinlich sein können. Gleichzeitig, Smith ist ein Logiker, er spielt mit dem Gedanken, dass sein Freund Krause in Berlin sei (obwohl er über den tatsächlichen Aufenthaltsort nicht informiert ist). Daher kann er logisch folgern: (b) Meier besitzt einen Golf oder Krause hält sich in Berlin auf. Nun geschieht es, dass Meier keinen Golf mehr besitzt, sondern mit einem Mietwagen ankam – und Krause tatsächlich in Berlin ist. Damit ist die Aussage (b) gerechtfertigt und wahr. Dennoch ist es nicht sinnvoll, diese Meinung als Wissen von Smith zu bezeichnen, weil die gerechtfertigte Meinung auf Zufall beruht. Also muss zwischen Wissen und gerechtfertigter Meinung unterschieden werden.

Kein Wissen ohne Voraussetzung

Hier aber – damit verlasse ich die Diskussion in der analytischen Philosophie – wird ein uraltes Problem sichtbar. Der Wissensbegriff der hier unterstellt wird, steht im Zusammenhang mit dem „Episteme-Ideal“ der Wissenschaft seit Aristoteles.5 Nach diesem war aber Wissen verbunden mit der Kenntnis der notwendigen Gründe. Deshalb gab es für Aristoteles (wie auch für die antiken Philosophen) vom Einzelnen keine Wissenschaft – und daher auch keine epistemische Erkenntnis von der Geschichte. Alle Beispiele aber die Gettier bringt, beziehen sich auf geschichtliche Interaktionsweisen von Menschen. Wäre es dann nicht vielleicht sinnvoller den Begriff „Wissen“ nicht epistemisch zu interpretieren? In der klassischen Tradition wurde zudem angenommen, dass das epistemische Wissen am göttlichen Wissen partizipiere. Unser menschliches Wissen beruht hingegen immer auf Voraussetzungen, die nicht vollständig durch Folgerungen gesichert werden können und bleiben dem Wandel der Geschichte ausgesetzt. Daher können auch keine absoluten Begründungen oder vollständige Beweise verlangt werden. Weil wir aber ohne Erkennen und Wissen keinen Tag überleben könnten und wir für unser Handeln eine unbedingte (Handlungs-)Gewissheit in Anspruch nehmen, kann die Frage der Gewissheit nur als Qualifikation des Subjekts, nicht der Aussage interpretiert werden. Dadurch wäre dann die Rechtfertigung nicht eine Frage der Begründung von Sätzen, sondern eine Qualifikation in der Begründung unseres Handelns. Diese aber beruht nicht allein auf Folgerungen, sondern vor allem auf einer freien, sich entwickelnden Zustimmung der Person. Darauf hat der englische Kardinal John Henry Newman in seiner Zustimmungslehre (1870) verwiesen. Diese Gewissheit ist jene Form der Vernunft, mit der wir unser Leben und unseren Alltag gestalten. In der Tradition des Aristoteles hat Newman diese „Phronesis“ (griech. „praktische Klugheit“) genannt. Und für das Vermögen des Menschen, die Bedeutung von allen seinen Erfahrungen zu erkennen und im Leben zu realisieren, hat er ein Kunstwort erfunden: „illative sense“. Immer müssen wir Menschen etwas voraussetzen, um Wissen erreichen zu können. Wir müssen glauben, damit wir verstehen und vernünftig handeln können.

Wahrheit im Kontext von Wirklichkeit und Konsens

Steht dann aber nicht doch alles in Frage und wäre das Wörtchen „wahr“ deshalb nicht durch andere Prädikatoren zu ersetzen wie nützlich, zielführend oder richtig? Solchen Fragen in Auseinandersetzung mit der Skepsis stellen sich die verschiedenen Wahrheitstheorien. Die wichtigsten seien kurz vorgestellt. Die Adäquationstheorie meint, ein Satz sei wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimme, wenn er also einen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Dies ist äußerst einsichtig und scheint auf den ersten Blick banal. Aber schon bald stellt sich die Frage, wie Aussagen überprüft werden können. All-Aussagen, wie der Satz „alle Menschen sind sterblich“, lassen sich mit dem Mittel der Induktion und unserer Erfahrung nicht einlösen. Deshalb schlug Popper vor, das Kriterium der Verifikation durch das der prinzipiellen Falsifikation zu ersetzen. Sätze gelten dann als wissenschaftlich, d. h. als wahrheitsfähig, wenn angegeben werden kann, unter welchen Bedingungen sie als widerlegt zu gelten haben.

Eine zweite Theorie wird als Konsenstheorie bezeichnet. Nach ihr wird die Wahrheitsfrage durch den Konsens der Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft eingelöst. Der banale Einwand, dass auch totalitäre Systeme ihren „Konsens“ erzeugen, greift deshalb nicht, weil in dieser Vorstellung die ideale Kommunikationsgemeinschaft, in der Freiheit und vorbehaltlose Anerkennung aller Subjekte verwirklicht sind, vorausgesetzt wird. Beide Theoriebildungen müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie zeigen aber deutlich, dass die Frage nach der Wahrheit nicht ohne die Kommunikationsgemeinschaft und der Konsens nicht ohne die Frage der Wirklichkeitsfähigkeit der Aussagen begriffen werden kann.

Anspruch und Konsequenzen: Macht oder Einsicht

Die meisten Erkenntnistheorien äußern sich zu dieser Frage wenig. Heute zeigt sich die innere Virulenz und Kohärenz zweier Bestimmungen der neuzeitlichen Wissensform. Den ersten Satz formuliert Giambattista Vico (1688 – 1744): „verum quia factum“ (Wahr ist das [von uns] Gemachte). Den zweiten Satz hat Francis Bacon (1561 – 1626) schon früher formuliert: „For knowledge itself is power“ (Wissen ist Macht). Unsere marktorientierte Wissensgesellschaft und die Einheit von naturwissenschaftlicher Forschung und technischer Umsetzung, die massiv von ökonomischen Interessen gesteuert wird, bestimmen immer exklusiver den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Jede Wissenschaft hat damit ihre Kirche, d. h. außerwissenschaftliche Gruppen und Verpflichtungen. Weil unsere Eingriffs- und Veränderungsmöglichkeiten exorbitant gewachsen sind, stellt sich nicht nur die Frage nach der Wahrheit, sondern noch dringlicher die Frage nach der Verantwortbarkeit unseres Wissens und unserer Möglichkeiten. Sind wir moralisch und existentiell unseren Möglichkeiten und Machtpotentialen gewachsen?6 Bedrängend wird diese Frage durch die Einsicht, dass der wissenschaftliche Prozess nicht gesteuert oder gar präjudiziert werden kann. Niemand hat über die Spaltung des Atoms und die Entschlüsselung des Genoms abgestimmt. Ob wir solches Wissen seit Hiroshima und Auschwitz noch lieben können, wie zu Beginn der „Philosophie“ („Liebe zur Weisheit“)? Bis heute wird indes der wissenschaftlich-technische Erkenntnisprozess mit immensen Heilsversprechen ausgestattet, die an alte Märchen und Mythen vom Jungbrunnen, dem Kraut der Unsterblichkeit oder gar der Vergöttlichung erinnern. Magie und Wissenschaft haben eine gemeinsame Wurzel. Wenn wir uns vor Augen halten, dass nicht nur die politischen Entscheidungsträger, sondern auch die Wissenschaftsgemeinschaft, die Implikationen unseres Wissens- und Technikprozesses nicht übersehen können, dann stellt sich die schlichte Frage nach dem Grund der Hoffnung, die der Wissenschaft inne wohnt. Die Gefahr wächst – das Rettende auch?

Die Kommunikationsgemeinschaft oder die politische Dimension des Wissens

Immer weniger Menschen wissen immer mehr von immer weniger. Spezialistentum ist angesagt. Die Konsequenzen aber tragen alle. Wie aber können Menschen, die von den spezialisierten Wissenschaftsformen nichts verstehen, sich so kundig machen, dass sie über diese Prozesse verantwortlich (und das heißt auch angemessen) mitentscheiden können? Diese Frage stellt sich für alle Menschen, denn auch hoch spezialisierte Experten sind auf allen anderen Gebieten Ignoranten. Ein Hauch von Naivität (oder „irrationale“ Hoffnung auf den Retter) erfüllt meiner Ansicht nach jene Versammlungen, in denen Nobelpreisträger über die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Welt beraten. Ich lehne das nicht ab, doch wir sollten wissen, dass sie nicht hierfür ihre hohen Auszeichnungen erhalten haben.

Deswegen beruht der Gesamtprozess der Wissenschaften auf dem Prinzip Hoffnung; natürlich auch auf geschicktem Marketing, wie den Events einer langen Nacht der Forschung oder der Jungen Uni. Durch den Wissenschaftsprozess werden wir stets vor neue, immer radikalere Fragen der Verantwortung und der Selbsterkenntnis gestellt. Die wissenschaftlichen Modelle sind bereits zu Selbstbeschreibungen von Menschen geworden und bestimmen auf höchst pragmatische Weise unsere Politik.7 Im Protest des sogenannten „gesunden Menschenverstandes“ äußert sich indes die Erfahrung, dass mit bloßem Wissen nicht gelebt werden kann, sondern das gute Leben aus anderen Quellen gespeist werde: Ethische Optionen, lange Erfahrung und Gewissenhaftigkeit. Personen sind keine Rechenmaschinen.

Personen erkennen: die Erkenntnissubjekte

Erkenntnissubjekte bringen immer etwas mit, im Grunde immer sich selbst. Personen aber sind lebendige Wesen mit Erfahrungen, Sprachen, Erinnerungen und Optionen. Menschen lernen nicht allein sprechen, sondern werden dadurch in eine kulturelle Orientierung hinein geboren: ihre zweite Geburt. Ohne solche Voraussetzungen – Gadamer8 spricht von Vorurteilen – gibt es überhaupt keine Erkenntnis. Wir müssen immer etwas voraussetzen, wenn wir etwas wissen oder erkennen wollen. Die völlige Objektivität ist ein ideologisches Konstrukt, weil wir Menschen immer in unsere Geschichte involviert sind, bevor wir ausdrücklich jene Fragen uns stellen, die in diesem kleinen Essay zur Sprache kommen. Dass diese Voraussetzungen selber eine Geschichte haben und einer Entwicklung unterworfen sind, ist eine elementare Einsicht in unser Erkennen. Unser Erkennen ist zeitlich bestimmt; es ist geschichtlich – und deshalb vorläufig –, auf dem Weg, nie vollständig oder gar umfassend. Solches Wissen und Erkennen hat die Tradition allein Gott zugesprochen.

Es gehört zu den gefährlichen Entwicklungen unserer Geschichte, als wir meinten, unser Wissen partizipiere am göttlichen Wissen. Die Utopie unserer Wissenschaften wird davon bis heute angetrieben: Sie will „alles wissen“! So drückte es der Famulus Wagner in Goethes Faust aus.

Die Voraussetzungen des Erkenntnissubjektes im Prozess der Erkenntnis hat Kant in seiner Transzendentaltphilosophie zu erforschen gesucht. Er wollte nicht unsere Erkenntnis der Objekte, sondern unsere Erkenntnisart erkunden. Fürwahr: eine kopernikanische Revolution. Denn er konnte darlegen, dass alle unsere Erkenntnisse durch unser Verstandesvermögen bedingt sind: Raum und Zeit, Sinnlichkeit und regulative Ideen. Kant nannte diese Erkenntnis „apriori“. In der Wissenschaft, die auf Erfahrungen aposteriori ausgerichtet ist, antwortet die Natur daher immer nur auf unsere Fragen und in der Weise, wie wir (methodisch!) gefragt haben. Ob die Bedingungen unserer Erkenntnis auch ihre definitiven Grenzen umschreiben, bleibt bis heute heiß diskutiert. Dabei geht es immer um die Bedeutung der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens.

Auf dieser Erkenntnis beruht heute eine rasch wachsende Wissenschaftsrichtung, die mit immensen Mitteln ausgestattet ist: die Neuro-Wissenschaften. Sie haben festgestellt, dass alle unsere Akte von Gehirnvorgängen höchst komplexer Art begleitet werden. Das ist wenig dramatisch, sondern nur eine modernere Darstellung der alten Einsicht seit Thomas von Aquin, dass der Mensch eine Leib-Seele-Einheit darstellt. Das Erstaunliche daran ist allein die Tatsache, dass dieser Wissenschaftszweig den Anspruch erhebt, damit Erkenntnis hinreichend erklärt zu haben. Dann werden Bewusstsein und Freiheit – oder gar Gott – mit neuronalen Vorgängen identifiziert. Angesichts solch hemdsärmeliger (Kurz-)Schlüsse verwundert das ebenso harsche Gegenargument nicht: Grammatik ist nicht Semantik und Genese ist nicht gleich Geltung. Warum aber ist diese Wissenschaftsrichtung derzeit so bestimmend? Ich meine, weil sie nicht nur verspricht, sondern es auch ansatzweise für machbar erwiesen hat, dass der Mensch vollständig manipuliert und chemisch konditioniert werden kann. Angesichts der Tatsache, dass in den USA mehr als 30 Prozent der Jugendlichen auf psycho-pharmazeutische Produkte zurückgreifen, nimmt Orwells Schreckensszenario realistische Züge an.

Das methodisch reduzierte Weltbild der Naturwissenschaften

Damit müssen wir noch einmal auf die naturwissenschaftliche Erkenntnisform zurückkommen. Ihre Präzision und ihren Erfolg hat sie mit einer radikalen Einschränkung der Gesichtspunkte und möglicher Aspekte erkauft. Unsere Wissenschaft hat Sinn- und Wertfragen ausgeklammert, als sie auf die Teleologie, im Sinne der Intentionalität, verzichtete. Sie stellt nicht die Frage: „Wozu“? Sie kann auch keine moralischen Fragen stellen, weil es für die Fallgesetze keinen Unterschied macht, ob die Dachplatte vom Wind herunter geblasen oder der Stein gezielt auf einen Menschen fallen gelassen wurde. Für die Naturwissenschaften gelten zudem die Erkenntnissubjekte als austauschbar. Natürlich nicht ganz: Denn die Frage der Inspiration in Problem- und Lösungszusammenhängen bleibt nach wir vor bestehen. Grundeinsichten können nicht gemacht werden. Und in der landläufigen Meinung ist die elementare Erkenntnis von Heisenberg aus der Quantenphysik („Unschärferelation“) noch nicht angekommen, der zu Folge eine Erkenntnis durch die Versuchsanordnung präjudiziert wird. Kant lässt grüßen!

Die allgemeine Struktur einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis lässt sich folgendermaßen charakterisieren. Auf der Ebene der Einzelerkenntnisse mittels Experiment sind ihre notwendigen Bedingungen: exakte Bestimmung des Anfangszustandes A durch Messungen; Feststellung des Endzustandes B (in analoger Weise). Aus der Differenz beider Zustände stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang. Dieser wird mittels der Mathematik verallgemeinert und „technisch“ (d. h. durch prinzipielle Reproduzierbarkeit an jedem Ort) überprüfbar (und damit beherrschbar) gemacht.

Magische Versprechungen und die vergebliche Suche nach der Weltformel

Die Frage nach der Integration dieser Erkenntnisse in den großen Zusammenhang und unsere alltägliche Erfahrung führt (wieder stark vereinfacht) zu zwei Lösungswegen. Zum einen wird nach den in allen Vorgängen geltenden Gesetzen und Konstanten gefragt. So wurden in der Physik vier Grundkräfte eruiert: die schwache und die starke Wechselwirkung, die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation. In der Evolutionslehre des Lebendigen führt dieser Weg in der Beschreibung des elementaren Aufbaus des Lebens zur Analyse der DNA. Auf beiden Wegen werden die elementarsten, nicht mehr auf andere rückführbare Bausteine unserer Wirklichkeit gesucht. Zum anderen ist es dem Menschen nicht möglich, das Ganze unbedacht zu lassen. Daher wird immer wieder nach einer Gesamtinterpretation aller Erscheinungen und Aspekten gesucht. Die Weltenformel ist zwar noch nicht in Sicht – doch bleibt sie ein unbedingtes Ziel der Wissenschaften. Als derzeit favorisiertes Modell einer Gesamtinterpretation aller Erscheinungen ist die Evolutionslehre anzusehen. Dabei leitet unser Erkenntnisweg die faszinierende Vorstellung, dass die unübersehbare Komplexität aller Wirklichkeit und unseres Wissens auf wenige grundlegende Gesetze und elementare Bausteine zurückführbar seien. Wäre unser Wissens- und Erkenntnisdrang gestillt, wenn wir alles von allem wissenschaftlich wüssten? Ludwig Wittgenstein schrieb dazu im Jahre 1918: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“9

Nehmen wir an, die magischen Versprechungen der modernen Wissenschaften wären Wirklichkeit. Wir wüssten alles, alle Menschen könnten leben wie im Schlaraffenland und wären „fast“ unsterblich, dann würden – meiner Ansicht nach – die alten Fragen der Menschheit nach Sinn, Zweck und Bedeutung unseres Lebens mit neuer, ungeahnter Vehemenz auf uns zurückfallen. Was wäre es dann wirklich wert, dass es „fast ewig“ dauere? Dann wäre die Frage nach dem Selbstmord und die wirkliche Frage nach Gott erst richtig gestellt: nämlich als Frage nach Anerkennung bzw. Liebe und nicht als Kompensation oder Projektion. Wie wäre dann, und deshalb schon jetzt, eine mögliche Erkenntnis Gottes zu skizzieren?

Gotteserkenntnis?

Gott ist kein Gegenstand der Welt und nicht das Korrelat unserer Wünsche und Hoffnungen. Die Tradition hat zwei Arten von Gotteserkenntnis erkundet: die natürliche, also jene, die allen Menschen aufgrund des Vernunftgebrauchs möglich ist, und jene, die allein auf Grund einer Offenbarung, das heißt eines Anrufs bzw. einer Initiative Gottes, möglich ist und deshalb „übernatürliche“ genannt wird. Weil in der Frage nach Gott, immer auch die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis bedacht werden, wird die Frage nach Gott in einer Betrachtung über die Erkenntnis des Menschen unausweichlich.

„Natürliche Theologie“ – nicht theologische Überhöhung der Naturwissenschaft

Die allen Menschen mögliche „Gotteserkenntnis kraft des Lichtes der ‚natürlichen’ Vernunft“ ist keine theologische Überhöhung naturwissenschaftlicher Erkenntnis10 oder eine „physikalische Theologie“ in der Tradition des Engländers William Paley (1743 – 1805)11. In der Erkenntnisform naturwissenschaftlichen Arbeitens, wie sie oben beschrieben worden ist, können nur funktionale und gesetzesmäßige Zusammenhänge aufgrund von immanenten, messbaren Verursachungen untersucht werden. Von diesem naturwissenschaftlich streng gefassten Begriff der Kausalität, der in der klassischen Sprache als (materielle) Wirkursächlichkeit gefasst werden müsste, ist ein Begriff der „Verursachung“ zu unterscheiden, der als Teleologie oder gar als Intentionalität zu begreifen ist.12 Während der naturwissenschaftliche Begriff das Einmalige und Besondere ausklammert, weil er immer nur eine Regel des Vergangenen definiert und auf dieser Basis die Konstante der Zukunft prognostiziert, sind Intentionalität und das unableitbar Neue wegen ihrer Differenz zum gewöhnlichen oder notwendigen Geschehenszusammenhang mit diesen Methoden prinzipiell ebenso unerkennbar wie die Innerlichkeit oder „Erste-Person-Perspektive“.

Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Der „Ötzi“, der Mann aus dem Eis in Tirol, wurde nach allen Regeln dieser Kunst untersucht. Wir wissen heute unter anderem, was er kurze Zeit vor seinem Tod gegessen hat, wie alt er ungefähr war, welche Verletzungen er erlitt, wie seine Zähne beschaffen waren, dass er von einem Pfeil getroffen wurde und wegen einer inneren Verletzung daran schnell starb. Aber wir können mit diesen Methoden nie wissen, welche Sprache er sprach, wie er sein Leben und die Welt deutete und welcher Konflikt zu jenem „Mord“ vor 5000 Jahre führte. Es ist höchst erstaunlich, was die verschiedenen Wissenschaften in diesem Falle herausgefunden haben, aber – auch ohne theologische Fragestellung – bleibt sie prinzipiell durch diese ihre Stärke auch begrenzt.

Auch wenn es also von der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise aus keinen direkten Weg zur Transzendenz geben kann, bedeutet das nicht, dass beide Erkenntnisweisen nichts miteinander zu tun hätten. Auf zwei Ebenen ist die spannungsreiche Beziehung zu diskutieren. Die erste Ebene kann als Klärungsebene der jeweiligen Rationalität und ihres Kompetenzbereiches verstanden werden. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis führt die christliche Theologie zu einer präziseren Fassung der der Kirche anvertrauten Offenbarung. Worin liegt z. B. der Geltungsbereich des „Wortes Gottes“? Der Prozess der kritischen Selbstreflexion des Glaubens ist der Kirche von ihrem Ursprung her deshalb eingeschrieben, weil sie sich entschieden auf den griechischen Logos in der Philosophie und nicht auf die Mythen der Mysterienreligionen und der Staatskulte eingelassen hat.13 Umgekehrt wird aus einer Glaubensperspektive neues Licht auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse geworfen und den „quasiinstinktiven“ ontologischen und ethischen Folgerungen von NaturwissenschaftlerInnen Einhalt geboten.14 Aus der Methode der Naturwissenschaft folgt keine Ontologie, auch wenn besonders die Evolutionslehre von Anfang an weltanschaulichen Anspruch erhob und dieser Anspruch bis heute in Sätzen verschlüsselt wird, in denen „Evolution“ wie ein handelndes Subjekt auftritt, als ob eine Theorie aktiv sein könnte. Dieser „weltanschauliche Kategorienfehler“ mag aber vielleicht doch darauf verweisen, dass das Rätsel des Lebens durch die Beschreibung seiner Entwicklung nicht vollständig erfasst wird.

Die zweite Ebene bezieht sich auf die Frage der Verantwortung der Wissenschaft für ihr Tun. Nach Hiroschima und Auschwitz kann dies nicht naturalistisch eingeebnet werden, auch wenn wir erkennen, dass wir mit unseren herkömmlichen politischen und ethischen Verfahrensweisen die beiden Riesen, Wissenschaft und Technik, nicht zähmen werden können. Unser Globus ist ein einziges Experimentierfeld – der Ausgang ungewiss. Damit wir angesichts dieser Herausforderung nicht in die überkommenen Pathologien von Religion und Vernunft zurückfallen, ist nicht nur auf die Eigenart unterschiedlicher Rationalitäten zu achten, sondern vor allem die Beziehung von Naturwissenschaft und Theologie in einer Naturphilosophie zu vermitteln, die ontologie- und ethiksensibel ist und um die unvermeidbare weltanschauliche „Kontamination der Wissenschaften“ weiß.15

Folgende Momente des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses nötigen uns, wie ich es sehe, eine weitergehende philosophische Besinnung ab, wie sie auch in den autobiographischen Selbstreflexionen der NaturwissenschaftlerInnen feststellbar werden. Welche Erfahrung machen wir mit allen unseren Erfahrungen und was ist deren Bedeutung? Was begründet unsere Überzeugung, dass wir dieses unendlich komplexe und letztlich in unvorstellbaren Dimensionen sich weitende Universum mit unserer Rationalität beschreiben oder gar begreifen können? Worin liegt die prinzipielle Lesbarkeit, „Logozität der Welt“ begründet? Auch wenn die Finalität des Universums nicht naturwissenschaftlich begründet werden kann, bleibt es höchst erstaunlich, dass es uns gibt. Das offenkundige „anthropische Prinzip“ (Brandon Carter) besagt, dass bis in die Feinabstimmung der physikalischen Grundkräfte hinein eine Konkordanz notwendig sein muss, damit nicht nur Bewusstsein, sondern überhaupt etwas sein kann. In allen diesen Erfahrungen wird eine Nichtabschließbarkeit der Naturwissenschaft gegenüber naturphilosophischen und religionsphilosophischen Fragen erkennbar, in deren Licht die metaphysische Kontingenzfrage sich aufs Neue stellt.

In der „natürlichen Gotteserkenntnis“, die nach dem „Wesen Gottes“ fragt, ist daher Gott kein unmittelbarer Gegenstand des Erkennens. ER ist vielmehr Prinzip und Grund des Ganzen. Wenn nach Gott gefragt wird, wird immer nach einer Totalität gefragt. In die richtige Richtung führt die Frage Martin Heideggers, mit der in seiner Antrittsvorlesung in Freiburg 1929 eine Überlegung von Leibniz aufnimmt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“16 Wenn der russische Astronaut Gagarin mitteilte, dass er in seiner knappen Stunde im Weltall keinen Gott angetroffen hätte, dann sagt das nichts über Gott aus, sondern allein über die Dürftigkeit der philosophischen Reflexivität dieser Gesellschaft.17 Die Frage nach dem Ganzen stellt sich auch für jeden einzelnen Menschen: Welche Erfahrung mache ich mit allen meinen Erfahrungen? Was bedeutet das alles? Die Gottesfrage ist in dieser Hinsicht immer eine Frage nach der Totalität aller Erscheinungen und ihrem Sinn – und zwar für mich.

Offenbarung

Aufgrund von Offenbarung wird eine Erkenntnis Gottes eröffnet, die allein Gott mir mitteilen kann18 und die mich als Mensch unmittelbar anspricht und involviert, weil sie mich in meiner Freiheit, Verantwortung und Selbstbestimmung verändert. Das „Wort Gottes“ teilt mir mit, wie Gott zu seiner Welt und seiner Schöpfung steht. Die christliche Tradition hat dies folgendermaßen ausgedrückt:19 Gott hat die Menschen aus Liebe geschaffen, damit sie Anteil erhalten an seinem Leben der reinen Liebe. Auch dem gefallenen Menschen geht Gott, der Retter, nach, ist ihm immer und überall nahe und hat durch die Fleischwerdung seines alle Wirklichkeit prägenden Wortes in Jesus Christus die Welt prinzipiell mit sich versöhnt. Damit ist eine neue, unvergleichliche Heilssituation geschaffen, weil Gott in der Dramatik der Geschichte Jesu sich selbst unlösbar mit seiner Schöpfung verbunden hat. Durch Jesus Christus, der mir in Schrift, Sakrament und der Dynamik seines Geistes durch die Kirche als Gottes endgültige Wort verkündet wird, werde ich, wie alle Menschen, herausgerufen, mich als Kind Gottes in die Gestalt des „Sohnes“ transformieren zu lassen.

So werde ich vor mich selbst gerufen und habe die Frage zu beantworten: Wer will ich einmal gewesen sein? Welche Zukunft erwarte ich für mich und alle Wirklichkeit? Jede mögliche Antwort aber weiß sich auf eine Anfrage verwiesen, die niemals eingeholt werden kann. Die Bibel nennt diesen Moment Berufung. Im Hören auf sie und in der Annahme der darin liegenden Sendung geschieht das faszinierende Wunder einer dramatischen Geschichte endlicher Freiheit mit der Freiheit selbst. Auf diese Möglichkeit werden wir in den narrativen Zeugnissen jener Menschen, die das erfahren haben, auch heute und morgen verwiesen. Die Bibel ist nicht die einzige, aber für viele Menschen das normative Zeugnis dieses Wunders. Immer aber steht der Mensch staunend und fragend vor dem Geheimnis seiner Existenz angesichts einer unfassbaren Weite und Tiefe aller Wirklichkeit.

Wir Menschen sind zwischen Himmel und Erde gehängt, immer Wesen des Übergangs, immer unterwegs, nie am Ziel: eine Laune der Natur oder ein Ver-Sprechen, das in uns eingeschrieben ist und für eine Vollendung von Himmel und Erde optiert. Dann wird die Frage nach Gott zur Frage nach der Möglichkeit und dem Grund unserer tiefsten Hoffnung und Sehnsucht. Hoffnung aber drückt sich nicht in propositionalen Sätzen aus. Hoffnung birgt sich in der Sprache des Gebets als Dank und als Bitte und weiß darin, wem sie glaubt, weil dieser sich als vertrauenswürdig und über alles Maß liebenswert erwiesen hat. Darin eröffnet sich eine Form des Erkennens, das in der Kategorie bloßen Faktenwissens spröde wird, weil es eine in Ewigkeit mich verwandelnde Beziehung meint. Saint-Exupéry hat in der Tradition des Augustinus und Blaise Pascal diese Erfahrung dem Fuchs in den Mund gelegt, der dadurch dem Kleinen Prinzen sein Geheimnis offenbart: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Referenzen

  1. Aus der Vielfalt an Literatur darf ich verweisen auf: Honnefelder L., Krieger G., Erkenntnislehre, in: Honnefelder L., Krieger G. (Hrsg.), Philosophische Propädeutik. Band 1: Sprache und Erkenntnis, Schöningh, Paderborn u. a. (1994), S. 122-181, sowie: Grundmann T., Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, de Gruyter, Berlin (2008). Beide Entwürfe, die die Breite der heutigen philosophischen Diskussion repräsentieren, spielen in diesen Essay hinein. Der analytischen Tradition ist der Themenspiegel verdankt, die kontinentale Tradition widmet der Frage nach dem Erkenntnissubjekt und des gesamtgesellschaftlichen Kontextes mehr Aufmerksamkeit. Außerdem: Janich P., Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung, 3. Auflage, C. H. Beck, München (2005)
  2. Grundmann T., siehe Ref. 1, S. 4
  3. Wie spannend und komplex die damit zusammenhängenden Fragen heute diskutiert werden, kann hier nachgelesen werden: Brendel E., Wahrheit und Wissen, Mentis, Paderborn (1999)
  4. Eines diskutiere ich in der von Grundmann T. (siehe Ref. 1, S. 103 f.) veränderten Version.
  5. Für eine kurze Zusammenfassung siehe Siebenrock R. A., Wahrheit, Gewissen und Geschichte. Eine systematisch-theologische Rekonstruktion des Wirkens John Henry Newmans, Internationale Cardinal-Newman-Studien XV., Sigmaringendorf (1996), S. 288-293
  6. Dies ist eine der Hauptfragen, die Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, an die Adresse moderner Wissenschaft stellt (siehe Habermas J., Ratzinger J., Schuller F., Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Herder, Freiburg/Breisgau (2007)).
  7. In der Moderne versteht der Mensch sich und die Welt, und darin auch Gott, immer von seinen höchsten Produkten her: Uhrwerk, Dampfmaschine, neuronales Netzwerk oder als „Hardware-Software-System“.
  8. In seinem Klassiker: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke 1, 6. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen (1990)
  9. Wittgenstein L., Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, 12. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1977), Nr. 6.52. Dieser Satz wird in der Nummer durch den Zusatz ergänzt: „Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“
  10. Die jüngste Diskussion um die Evolutionslehre, Schöpfung und „Intelligent Design“ dreht sich um diese Frage. Eine thomistische Kritik an katholischem Flirten mit dieser „metaphysiklosen“ Kurzschlüssigkeit bei: Rhonheimer M., Neodarwinistische Evolutionslehre, Intelligent Design und die Frage nach dem Schöpfer, Imago Hominis (2007); 14: 47-81. Eine Stellungnahme der Innsbrucker Dramatischen Theologie bei: Wandinger N., Anmerkungen zum „Schönborn-Streit“, Grenzgebiete der Wissenschaft (2006); 55: 3-20. Dass im angelsächsischen Bereich auf solche Theoreme zurückgegriffen und juristisch in die schulischen Lehrpläne eingeklagt werden, liegt wissenschaftstheoretisch an der philosophischen und metaphysischen Abstinenz der reformatorischen Tradition, sowie am Ausfall jener Denkform, die in der katholischen Tradition in der Neuzeit sich entwickelt hat: der fundamentaltheologischen. Politisch scheint mir die Tatsache erwägenswert zu sein, dass aufgrund der Trennung von Staat und Kirche im Bildungssystem der USA nirgends ein Ort weltanschaulicher Vermittlung und Diskussion zwischen den „pluralistischen Inseln“ möglich ist.
  11. Vor allem in seinem Spätwerk: „Natural Theology or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity collected from the Appearences of Nature“ (1802). In diesem Werk nennt er Gott, in Analogie zu einem Uhrmacher, auch „designer“.
  12. Zur derzeitigen Diskussion zwischen Naturwissenschaft und Theologie sei verwiesen auf: Polkinghorne J., Theologie und Naturwissenschaft. Eine Einführung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (1998); McGrath A. E., Naturwissenschaft und Religion – eine Einführung, Herder, Freiburg (2001); Küng H., Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion, Pieper, München, Zürich (2005)
  13. Siehe in umfassender Darstellung: Fiedrowicz M., Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, 3. Auflage, Mentis, Paderborn u. a. (2006). Papst Benedikt XVI. nennt den christlichen Glauben daher gerne „Logos-Religion“.
  14. In seiner „Idee der Universität“ (1854) geht John Henry Newman von der Einsicht aus, dass der menschliche Geist kein mögliches Gebiet des Wissens auf Dauer brach liegen lassen kann. Wenn es im spannungsreichen Diskurs des Wissens, deren Ort die Universität sein soll, keine theologische Anwaltschaft für die angemessene Rede von Gott gibt, dann würden die Chemiker oder Physiker Theologie treiben. Gott wäre dann so etwas wie „Äther“ (siehe Siebenrock R. A., siehe Ref. 5).
  15. Die weltweit operierende Stiftung, „Metanexus Institute“, widmet sich dem Dialog von Naturwissenschaften und Religion schon seit vielen Jahren. Im deutschen Sprachraum sei auf das „Forum-Grenzfragen“ an der katholischen Akademie „Stuttgart-Hohenheim“ verwiesen.
  16. Heidegger M., Wegmarken, 2. Auflage, Klostermann, Frankfurt/Main (1978), S. 121
  17. Dass auch die amerikanischen Mondfahrer nicht philosophisch oder theologisch auf die neuen Erfahrungen vorbereitet wurden, hat sich in ihren Lebensläufen nachdrücklich bemerkbar gemacht: Einmal zum Mond und nicht zurück (siehe Smith A., Beginnen K., Kuntz S., Moonwalker. Wie der Mond das Leben der Apollo-Astronauten veränderte, Fischer, Frankfurt/Main (2009)).
  18. Gäde G., Viele Religionen – ein Wort Gottes. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (1998)
  19. Im Katechismus der Katholischen Kirche sind diese Aussagen im Prolog und in den Nummern 1-3 zu finden.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Roman A. Siebenrock
Institut für Systematische Theologie
Universität Innsbruck
Karl Rahner-Platz 1, A-6020 Innsbruck
Roman.Siebenrock(at)uibk.ac.at

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Anthropologie und Bioethik
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