Grenzen der Wissenschaft

Imago Hominis (2009); 16: 309-316
Helmut Kohlenberger

Zusammenfassung

Die biblische Botschaft von der Schöpfung hat den geschlossenen Kosmos der Antike durchbrochen und den Raum der Neuzeit eröffnet. Dies wurde paradigmatisch deutlich mit dem kirchlichen Veto gegen aristotelische Lehren an der Universität Paris im Jahre 1277. Der offene („unendliche“) Raum wurde seit dem Ende des 15. Jahrhunderts von den mathematisch-empirischen Wissenschaften verstärkt und der Technologie besetzt. Seit dem Zeitalter der Revolution steht die angewandte Wissenschaft unter dem Motto der Autonomie, sowie der Legitimation und Operationalisierung von Herrschaft („Wissen ist Macht“). Mit dem Weltbürgerkriegszeitalter setzte auch innerhalb der Forschung die Einsicht in die Grenzen des Wissens ein, die sich u. a. im Abschied von einer Einheitswissenschaft, in der Reduktion von „Wahrheit“ auf „Wahrscheinlichkeiten“ zeigt, sowie in der wachsenden Bedeutung der ökologischen Fragen. In der Automatisierung tendenziell aller Lebensbedingungen vollziehen sich indes weiterhin (szientifisch-ökonomische) Standardisierungen.

Schlüsselwörter: Raumzeit, Autonomie, Wahrscheinlichkeit, Automatisierung, Biopolitik

Abstract

The biblical story of Creation broke through the discrete and well-defined cosmos of antiquity and ushered in the wide open space of modern times. This became clear in 1277 with the Church’s veto against Aristotelian teaching at the University of Paris. The open (or infinite) space was increasingly supported by the mathematic-empirical sciences and, since the end of the 15th century, became the domain of technology. Since the Age of Revolution, the applied sciences have become increasingly autonomous and have been legitimized by their dominance (“knowledge is power”). With worldwide civil wars, scientific research then began to develop an understanding of the limits of knowledge. This resulted in a fragmentation of the unity of the sciences, the reduction of “truth” into “likelihood” and a growing recognition of the importance of ecological questions. There is now a tendency to automate all aspects of life, accompanied by (scientific-economic) standardization.

Keywords: Space-time, Autonomy, Probability, Automation, Bio-politics


Mit der gentechnologischen Forschung hat der Wissenschaftsbetrieb seine Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt- und Lebensverhältnisse der Menschen erheblich erweitert. Die der Natur, der Schöpfung entgegengesetzte Utopie der Wissenschaften hat die Konstitution des Menschen in ihren Bann gezogen. Der einzelne Mensch erscheint als Produkt – geschaffen, nicht gezeugt. Eine Grenze, ein „Ausnahmezustand“ ist erreicht, der dem seit etwa 100 Jahren herrschenden Weltkriegszeitalter der Atombombe entspricht. Lebten die Menschen einst in einer kosmischen Ordnung, die Götter und Menschen verband und in Mythen und Riten zum Ausdruck gebracht wurde, so eröffnete bereits das griechische Denken mit der sokratischen Forderung der Selbst-Erkenntnis eine neue Dimension. In der biblischen Offenbarung wird der Kosmos zur Weltzeit, die ihrer angekündigten Vollendung entgegeneilt. Die Weisheit der Welt ist für den Apostel Paulus darum Torheit.

Gott und Welt in der Geschichte des Denkens

Die Spannung zwischen der in der Heiligen Schrift bezeugten auf Gott hin geschaffenen Welt zum kosmischen Geschehen wird seit den gnostischen Texten der ersten christlichen Jahrhunderte ein bestimmendes Thema für die Frage nach Gott und Welt. Augustinus zögert nicht, vor den Astronomen zu warnen, die statt auf der Erde im Himmel zu wohnen scheinen, und beschränkt das Wissenswerte auf das Nützliche. Die Welt wird als noch nicht vollendet angesehen, Veränderung und Bewegung werden zu einem zentralen Thema der Theorienbildung, das über die gegebenen Weltverhältnisse hinauswies. Wie Gott im Verhältnis zur Schöpfung zu verstehen sei, blieb (z. B. bei Johannes Scotus Eriugena) in philosophischer Hinsicht offen. Die Ewigkeit erscheint in der „Kosmographie“ des Bernardus Silvestris im 12. Jahrhundert als bewegliches Bild im Zeitlichen. Der Mensch, gesehen in dem schon der Antike geläufigen Bild des Mikrokosmos, birgt das ganze kosmologische Wissen, darin einem zentralen Topos der Renaissance vorausgreifend. Mit der in den Elementen wirkenden einen Kraft der Natur (Abaelard, Schule von Chartres im 12. Jh.), im Licht (Robert Grosseteste, vor 1170 – 1253), im impetus, wird die innere Kraft der Bewegung vorgestellt.

Mit dem Aristoteles-Studium an der Universität Paris im 13. Jahrhundert setzte sich die Vorstellung einer vom Supralunaren bis zum Sublunaren gegliederten Ordnung durch, deren Bewegung von einem „unbewegten Beweger“ in Gang gesetzt wird. Das Verbot von Aussagen der in Paris gelehrten aristotelischen Naturphilosophie durch den Pariser Bischof Tempier im Jahre 1277 trat einer autonomen Naturphilosophie im Blick auf das Schöpfungswirken Gottes entgegen.1 Der antike Kosmos ist nicht eo ipso Gottes Schöpfung. Die Beziehung von Gott und Welt konnte nicht durchgängig ad modum recipientis erkannt werden. Theologisch verbindliche Aussagen setzen neben logisch korrekter Ableitung eine Einsicht voraus, die von principia per se nota ausgehen (Thomas von Aquin). In der Folgezeit wird darüber diskutiert, wie diese erkannt werden. Außer Zweifel steht, dass theologische Fragen grundsätzlich ihrem Wahrheitsanspruch entsprechend dem Verstehen zugänglich sind, unter den begrenzten Bedingungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit jedoch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen. Es wurde eine certitudo adhaesionis (Heinrich von Gent) oder ein habitus veridici (Ockham) angenommen. Nikolaus von Kues versuchte mit einer „resolutiven“ Methode, die der mathematischen Rückführung von rationalen Zahlen auf Einheit entsprechen sollte, widersprüchliche Aussagen im theologisch-philosophischen Grenzbereich (z. B. über das Werden der Welt, Ewigkeit und Zeit, Einheit und Vielheit) durch die Erkenntnisebene eines methodischen Platonismus, der auch aristotelische Erkenntnisse zulässt, zu überwinden.2

Der kirchliche Einspruch von 1277 zeigte die Grenze einer von der Natur ausgehenden Wissenschaft auf, die Gott und Welt nach Menschenmaß umfassen sollte. Er führte die Theologie auf einen eigenen Weg, der nur bedingt mit der weiteren Philosophiegeschichte in Verbindung stand, im Rückblick nicht zuletzt auch die Reformation und den Weg der modernen „Geisteswissenschaften“ ermöglichte. Das Streben der Wissenschaft über das Begrenzte hinaus „ins Unendliche“ bahnte sich an und suchte nun Wege einer von Theologie im engeren Sinne unabhängige Gewissheit, die sich beispielsweise im Werk des Kusanus, das theologisch-philosophisches Denken mit spekulativer Mathematik verbindet, versuchsweise andeuteten. Das in Begriffen nicht zugängliche „Ganze“ wird in symbolischen Formen – Kreis und Kugel – angenähert darstellbar. Darin zeigt sich die Welt in Bezug auf Gottes Unendlichkeit nicht begrenzt zwischen Mittelpunkt und Umfang, Anfang und Ende – und ist doch nicht selbst das Vollkommene. In kühner christologischer Sicht versucht Kusanus diese Spannung im Blick auf den Menschen als Mikrokosmos aufzulösen. Für die neue Wissenschaftsauffassung und ihre Suche nach Gewissheit wurde der Duktus der Selbsterkenntnis, der im cartesischen Cogito zum Motto einer von Mathematik als Leitwissenschaft bestimmten Zukunft wurde, maßgebend. Er geht vom radikalen Zweifel und der Nichtausschließbarkeit eines genius malignus aus und findet zu der grundsätzlich offen stehenden Möglichkeit, Wirklichkeit anzunehmen.3

Galileis Fernrohr

Die neue Zeit steht indes nicht wesentlich im Zeichen philosophischer Begründungen, sondern von Expedition und Forschung. Mit kartographischer Darstellung und Vermessung des Himmel und Erde zur machina mundi zusammenziehenden Universums wird die Instrumentalisierung der „Weltaufstellung“ faktisch zur Letztinstanz des Erkennens – und der (staatlichen) Herrschaft, wie dies Francis Bacon mit seinem Motto „Wissen ist Macht“ propagierte und Thomas Hobbes mit der Unterscheidung der auctoritas von veritas theoretisch und politisch verankerte.

Paradigmatisch für diese Veränderung wurde der Übergang von Kopernikus’ System zu Galileis Forschungsmethoden. Auf dem Hintergrund der in sich kreisenden kugelgestaltigen Himmelskörper wurde die Erde in die Bewegung und Ruhe vereinende Gleichmäßigkeit geistigen Erfassens einbezogen, das von der neuplatonischen Tradition her plausibel war und weit in die Neuzeit hinein Einfluss hatte.4 War in dieser Tradition die Kreisbewegung als Nachahmung der Geistesbewegung durch die Himmelskörper gedacht, so soll sie jetzt mathematisch rekonstruiert und im realen Experiment nachvollzogen werden. Darin zeigte sich sofort die Grenze der Geltung der traditionellen Auffassung. Es kommt zu einer Doppelbewegung. Der Mathematik wurde bereits mit dem Scheitern des sich seit dem Spätmittelalter in Sprachspiele verstrickenden Nominalismus zugetraut, Erkenntnis zu sichern. Sie wurde nunmehr zum „Inbegriff der Notwendigkeit, in der göttlicher und menschlicher Geist ihre gemeinsame Evidenz besitzen, die als solche den Vorbehalt der Unzugänglichkeit ausschließt“5. Kepler hat diese Notwendigkeit in der „Norm der Quantität“ verankert. Ihr gemäß sei der Geist des Menschen „für die Erkenntnis der Größen“ geschaffen; er erfasse „eine Sache um so richtiger, je mehr sie sich den reinen Quantitäten als ihrem Ursprung nähert“.6 Derselbe Kepler hat auch die zweite Bewegung vollzogen: Er hat eine neue Theorie des Sehens entwickelt, in der der empirische und der geometrische Anteil des Sehaktes, der Wahrnehmung mittels eines „telemetrischen Dreiecks“ erklärt werden soll. In dem von unmittelbarer Sinneserfahrung abgekoppelten Fernrohr sah er ein Zeichen für die berechtigte Herrschaft des Menschen über die Welt.7

Für Galilei insbesondere zeichnete sich ein entscheidender Schritt der Selbstlegitimation der Forschung in immer neue Gebiete ab, die alles bereits Erreichte als vorläufig betrachtet. Sie beruht wesentlich auf dem Fernrohr, das Galilei als einen dem natürlichen Sinn „überlegenen und besseren Sinn“ präsentiert. Mit dem Fernrohr wurde die aristotelische Trennung zwischen Himmel und Erde aufgehoben und die irdische Welt nach der Methode der Himmelsmechanik betrachtet. Die Mathematisierbarkeit irdischer Verhältnisse setzte die Reduktion der Materie auf eine Nullgröße voraus, das heißt eine Form, die Kalkulation und damit sich steigernde Perfektion in der menschlichen Kunstfertigkeit ermöglicht. In der Welt der Erscheinungen wurden „die mathematisch darstellbaren Idealitäten“ aufgedeckt.8 Wegen der Komplexität des Aufzudeckenden jedoch bleibt ein unaufhebbar erscheinender Rest an Ungenauigkeit, den Galilei geschickt zu überspielen verstand. Die Argumente, die Galilei selbst für die Überlegenheit des Fernrohrs anführte, wurden von Zeitgenossen, aber auch von Historikern bis heute indes in Frage gestellt, wenngleich die Vorteile des Fernrohrs bei Beobachtungen auf dem Land und zur See sofort starken Beifall fanden. Man hat den starken Glauben Galileis an die Brauchbarkeit des Fernrohrs und seine propagandistischen Fähigkeiten indes nie bestritten.9 Descartes bemerkte scharfsichtig das fehlende theoretische Fundament von Galileis Betrachtungen der „Ursachen besonderer Vorgänge“.10 Der „Fall Galilei“ erscheint im Lichte neuerer Forschung und nicht zuletzt bei Bert Brecht, dessen Stück über das „Leben des Galilei“ Furore machte, in seiner ganzen Ambivalenz. In Notizen zu seinem Stück heißt es über Galilei: „Er erhebt das Fernrohr zu den Gestirnen und liefert sich der Folter aus. Am Ende betreibt er seine Wissenschaft wie ein Laster, heimlich, wahrscheinlich mit Gewissensbissen. Angesichts einer solchen Lage kann man kaum darauf erpicht sein, Galilei entweder nur zu loben oder nur zu tadeln.“11 Dem der Seelsorge und Theologie verpflichteten Kardinal Bellarmin, der in die Diskussionen der kirchlichen Kopernikus-Rezeption und im Zusammenhang damit auch in die Causa Galilei geriet, ging es vorrangig um den sozialen Frieden in einer von Kontroversen gebeutelten Zeit.

Abschied von der Weltformel

Im Raum-Zeit-Kontinuum Newtons wird die Weltmechanik „aufgestellt“, die mit der Beschleunigung Zeitersparnis und Energiegewinnung – und so die moderne Arbeitswelt ermöglicht. Ihr entspricht die Rede von der einen Weltgeschichte, die als letzte Legitimationsinstanz angesehen wird. Doch hat das Ausgreifen des Forschens ins Unendliche nicht ohne weiteres triumphalistisch gestimmt. Pascal bereits hat die Bestimmung des Menschen fürs Unendliche als schmerzhafte Erfahrung von Grenzen zur Sprache gebracht. Die Unsicherheit der Welt, zunehmend mit einem Glückspiel verglichen, verlangte zunehmend nach Kriterien für Entscheidungsfindungen, die in der Instabilität der Welt Orientierung bieten. Sie sollten den Beobachtern über „Sicherheitsgrade“ des zu Erwartenden Informationen geben, die nicht mehr von der teleologischen Sicht der Vormoderne noch von einer (nicht zu erlangenden) Erkenntnisgewissheit gegeben werden konnten.12 In den Grunddisziplinen der Physik hatte sich im Weltkriegszeitalter bereits Ernüchterung angesichts des Schwindens gewohnter Sicherheiten durchgesetzt. Das Verhältnis der Materie zur gekrümmten Raum-Zeit wurde bei Einstein neu gesehen, in den quantenphysikalischen Dimensionen sind nur statistisch voraussagbare Ereignisse angesagt. Die Beobachter werden nunmehr in den Objektivierungsprozess der Wissenschaft hineingezogen, Beobachtung wird zum Objekt ihrer selbst und gerät so in immer neue Unsicherheiten eines sich schließenden Kreisens. Es legt sich nahe, die Idee der Weltformel und die Forderung von Letztbegründungen ganz aufzugeben.13 Kurt Gödel zeigte für die Leitwissenschaft Mathematik, dass Widerspruchsfreiheit nur durch Bezug auf außerhalb Gegebenes begründet ist und unterscheidet damit die „einfachen“ Intuitionen grundsätzlich von den Anwendungen der Mathematik.14 Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die Mathematisierung des Bewusstseins von (Un-)Sicherheit Alltagsrealität geworden. Die immer energischere Fokussierung des Spezialistentums hat ihren Glanz verloren. Die Worte Lebenswelt, Umwelt – die der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entstammen –, rufen die von Ideologien und Wissenschaftlichkeit (im Vollzug der staatlichen Herrschaft der Neuzeit bis zum totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts) ausgeblendeten Lebensbedingungen und Erfahrungen zurück. Die Wissenschaft ist nunmehr, insbesondere in den totalitär regierten Staaten, deutlich im Zentrum des Politischen gesehen, das sie seit der Neuzeit (mit)bestimmte. „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner [scl. Galileis] wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens“ resümiert Bert Brecht.15 Karl Jaspers warnte eindringlich vor dem „Wissenschaftsaberglauben“, der an Stelle von Methode und kritischer Prüfung fixierte Doktrinen setzt und diese propagandistisch durchzusetzen sucht. Heideggers Gegenüberstellung von Erde und Welt kommt in den Sinn: „Die Erde kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten Andrang ihres Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen Geschickes sich auf ein Entschiedenes gründen.“16

Evolution – Technologie

Die Dichte des Systems der Welt jedoch lässt die Einsicht in (überschrittene) Grenzen desselben noch nicht zu, wie es scheint. Dieses versucht sich längst in die Konstitution des Menschen einzuschreiben, sich ihrer zu bemächtigen und so zu sich „selbst“ zurückzukehren. Seit dem Revolutionszeitalter mit Ende des 18. Jahrhunderts hat die wissenschaftliche Machtergreifung verbunden mit Propaganda und Gewalt verstärkt eingesetzt und zunehmend neue politische Systeme etabliert, die zu einer totalitären „Biopolitik“ führten. Eine Radikalisierung dieser evolutionären „Selbstverwirklichung“, der den blinden Fleck – das sich in diesem Prozess zu verlieren drohende Selbst – berührt, setzte in der Gentechnologie im Zusammenhang mit der Computerisierung ein. In Darwins Rechtfertigung der „niemals irrenden Kraft in der natürlichen Zuchtwahl“ trat der „eigentümlich organisch-mechanische Doppelcharakter dieser Evolutionsvorstellung, die den Menschen zugleich zum zufälligen Resultat des Prozesses und zu dem über ihn als Instrument verfügenden Demiurgen seiner selbst zu machen schien“, in Erscheinung.17 Zurecht wird gesehen, dass in der Berufung auf das Naturgesetz der Evolution schrecklichste (der Berufung auf „Geschichtsgesetze“ vergleichbare) Konsequenzen totalitär-politisch durchsetzbar wurden. Dies hindert bis heute offensichtlich nicht daran, „Darwin“ zu propagieren. Der Glaube, dass mit der Technisierung der Lebensbedingungen der Menschen bereits der „Inhumanität“ der Natur (und des Menschen) Einhalt geboten sei, ließ übersehen, dass die Technisierung selbst nicht im Luftleeren stattfindet. Diese war nie Vollzug eines Vernunftgesetzes, sie setzte sich vielmehr in einer Atmosphäre von Faszination, Parteilichkeit bis hin zum Terror durch – mit der Annahme von berechenbaren Wahrscheinlichkeiten, die an die Stelle der alten Teleologie trat.

Mit dem technologischen Zugriff auf das Leben selbst werden mit den Chancen auch die Grenzen dieses Zugriffs deutlich. Stanislaw Lem sieht den stetigen Evolutionsprozess der Natur als einen ungewöhnlich langsam vor sich gehenden Lernprozess, in dem in winzigen Veränderungen nach der Methode von Versuch und Irrtum mit äußerster Radikalität Selektion stattfindet, Überlebenschance gegeben wird. Energetik, Material und Steuerung sind von vornherein gegeben. Veränderung ist Entfaltung von schon Angelegtem. Dementsprechend zielt eine genetische Information darauf ab, „einen bestimmten Endzustand mit Systemcharakter herzustellen“ (im Unterschied zur ethnischen Sprache, in der es um lexikographische, grammatische und syntaktische Korrektheit geht).18 Dem steht das Sprunghafte technischer Innovation gegenüber, in der die Energiequellen, Materialien, Werkzeuge und Verfahren laufend verändert werden. Im Falle des genetischen Engineering zeigt sich die Begrenzung auf das Gegebene, dessen Ablauf man allerdings durch Überwachung und informationale und energetische Korrekturen zu regulieren versucht. Die Prognosekapazität ist bei technischen Eingriffen grundsätzlich nicht optimal, da jede technische Innovation wegen des Zeitdrucks von teilweise lückenhafter Information ausgehen muss – und Mathematik grundsätzlich nicht Systemkomplexität erfassen kann.19 Die lebenden Organismen haben indes „niemals zugunsten einer engen Spezialisierung auf volle funktionale Autarkie verzichtet“. Während jeder Organismus „eine souveräne Einheit darstellt, stellen „die Computer ohne die Menschen ebenso präzise wie allseits ratlose Systeme“ dar. Mit der Weltvernetzung werden im einseitigen Blick auf die Vorteile unerwünschte Nebenfolgen, die nicht ausreichend bekannt sind, mitgeliefert, dann ausgeblendet und offensichtlich in Kauf genommen. Es kann bei der Mensch-Maschinen-Symbiose zudem zur Verwischung der Kompetenzabgrenzungen kommen. Das System als Ganzes „kann einen dynamischen Charakter besitzen, der insgesamt keiner der beteiligten Seiten zugänglich ist, weil kein System sich selber vollständig beschreiben oder kontrollieren kann“. Ein übergeordnetes Kontrollsystem würde nur in den Leerlauf eines unendlichen Regresses führen.20 Selbst ein so überzeugter Anhänger der Technik als „legitimes“ Medium menschlicher Selbstbehauptung wie Hans Blumenberg muss angesichts der gentechnologischen Versuchung einräumen, dass der „Wunsch, Erfahrung möge nicht nur wissen lassen, was ist, sondern auch, dass es sein soll, wie es ist“, (…) durch Einblick in das Verfahren der Natur zurückgewiesen“ wird. Angesichts der Vielzahl an Naturvorgängen beschleicht die Ahnung, dass „sich die Natur gegen die Endgültigkeit ihrer Verwissenschaftlichung“ sperrt.21

Bioethik – Automatisierung

Längst werden die Mensch-Technik-Koexistenz betreffenden Fragen in einer Vielzahl von Evolutionstheorien (systemtheoretisch) abgehandelt. Wertbestimmte Gesichtspunkte verabschieden sich lautlos. „Emergenz und Destruktion von Systemen“ werden „mit Gleichmut“ hingenommen. Prognosen sind ohnehin nicht möglich, Resultate von Planungen her nicht abzuleiten. „Insofern ist Planung, wenn sie vorkommt, ein Moment von Evolution, denn schon die Beobachtung der Modelle und der guten Absichten der Planer bringt das System auf einen nicht vorgesehenen Kurs.“22 Nachdem Technik längst zum gesellschaftlich Selbstverständlichen gehört, sie durch spezifisch methodisch-experimentelle Vorgehensweisen ausgezeichnet ist, ist die Frage der Koppelung mit Erwartungen von zunehmender Brisanz. „Der Evolution von Technik folgt eine darauf eingestellte Strukturierung von Rationalität, und Rationalisierung ist nichts anderes als eine Form der Lösung der offen gebliebenen, gleichsam marginalen Konsensfragen.“23 Ins Zentrum drängen die unkontrollierbaren Sachverhalte in einer Welt, in der „alles“ von funktionierender Technik abhängig geworden ist. Ob technische Entwicklungen in ihrer Logik irreversibel sind – dies wird in einer Welt zunehmender Risikoanfälligkeit zur bedrängenden Frage.

Ein aktuelles Beispiel für die Diskussion der mit experimentell gegebenen Möglichkeiten verbundenen Fragen ist die „Bioethik“.24 „Latente Zukunft“ eröffnet sich im Blick auf Vorhaben wie dem Online-Projekt eines alles Lebende in einem „Barcode of Life“ zu katalogisieren und zu standardisieren. Ein global vernetzender „Superorganismus“ kündigt sich an. Im Humanbereich wird Verwandtschaft auf lineare Repräsentation des „molekularen Blicks“ reduziert. Gegebenes wird keinesfalls angenommen, sondern ist Potential für Veränderung. Die Agenten des Forschungsprozesses sind sich bewusst, dass es sich um kontextlose Vorgänge handelt, deren Faktizität politisch zur Diskussion gestellt werden müssen. Es geht also um Rationalisierung im evolutionären Sinne, die Regelung des Konsenses, der das biologisch-technische „Design“ mit dem Sozialen verbinden soll. Die Bioethik, diese „Währung einer globalen moralischen Ökonomie“, wird als neutrale „Technik der Normalisierung und Legitimierung“ mit staatlicher Anerkennung eingesetzt. Es geht nicht um Ziele, sondern man scheint in ein Verfahren für Optionen (ins Leere) mit beschränkter Haftung getrieben (oder geworfen). Bioethik-Kommissionen ringen um einen Minimalkonsens moralischer Standards, der unterschiedliche Auffassungen homogenisieren und Moral herstellen soll. Dies kann zur Produktion von Biotech-Artefakten führen, die der Anerkennung von moralischen Standards genügen und so das Zusammenspiel von Technik, Politik und Moral anschaulich machen.25 Eine zugegebenermaßen „Ich-schwache Gesellschaft“ muss indes auf Reversibilität der Maßnahmen bestehen, da der offene Horizont der Diskussion (nicht zuletzt im Forschungsprozess selbst) dies erfordert – und dies sich in der insgesamt „fluiden Situation“, in der das Risiko Faktenlagen provoziert, von selbst versteht.

Das Risiko wird zur Wahrheit im Meer der Wahrscheinlichkeiten. Damit ist auch zugegeben, dass wir keineswegs einem anonymen Forschungsprozess ausgeliefert sind.

Die kleine Münze des Wahrscheinlichen

Walter Benjamin sagte, der Kapitalismus habe sich (als Religion gewissermaßen) auf dem Boden der Christenheit parasitär entwickelt. Selbiges lässt sich von der neuzeitlichen zukunftsbesessenen Wissenschaft sagen. Indes ist der glanzvolle Siegeszug längst beendet, doch die Folgen lasten schwer auf der Menschheit und bedrohen in der Existenz. Mit der Auflösung der selbstverständlichen Einheit des antiken Kosmos in der biblischen Offenbarung hat sich die Wissenschaft als eine selbsterzeugte und nur genau deshalb absolute Gewissheit etabliert – und damit zugleich eo ipso Ungewissheiten mit sich gebracht.26 Gegenüber Begriffen und logischen Beweisen, die der Wahrheitsfindung verpflichtet sind, hatte sich die Mathematik als Instanz letzter Gewissheit verselbständigt. Auf ihr lastet „ein eigentümlicher Fluch, der mit den Unendlichkeitsbegriffen zusammenhängt, auf welche die in der Physik angewandte Mathematik nicht verzichten kann, weil die Physik, namentlich die klassische, auf dem Infinitesimalkalkül beruhte.“27 Sie hatte eine „einfach“ erscheinende Welt der Gewissheit etabliert, die allerdings von Anfang an mit technischer Anwendbarkeit und den Unwägsamkeiten des Lebens in der statistischen Auslotung von Ungewissheit verbunden war. Zu einer „Einheitswissenschaft“ ist es nicht gekommen, vielmehr sind mit zunehmender Spezialisierung (und „Interdisziplinarität“) die Grenzen theoretischen Wissens und experimenteller Falsifikation immer deutlicher geworden. Wissenschaftliche „Wahrheit“ gibt es nur in den kleinen Münzen des Wahrscheinlichen. Die Radikalität der Anwendung der selbstgesetzten Gewissheiten der Wissenschaft auf den globalen Forschungs- und Gesellschaftsprozess (inklusive der (un)ausdrücklichen Träger dieses Prozesses) selbst zeigt die aufgerissene Unendlichkeitstendenz (der frühen Neuzeit) in ihrem Feedback – eine unkontrollierbare Kontrollspirale der Angst, aus der nur die „Furcht des Herrn“, die der Anfang der Weisheit ist, retten kann.28 Unerlässlich ist es, von den Grenzen des Erkennens weiterzugehen zu einem „Denken, das mich selbst verwandelt, obgleich es keinen Gegenstand erkennt.“29

Referenzen

  1. Hiezu vgl. Blumenberg H., Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, 2. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1999), S. 178 f.
    Leppin V., Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie, in: Aertsen J. A. u. a. (Hrsg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 27), Verlag de Gruyter, Berlin (2000), S. 283-294
  2. Senger H. G., Vom Umgang eines „Häretikers“ mit Irrtumslisten und Häresien. Nikolaus von Kues und die Pariser Verurteilungen von 1270/1277, in: Speer A., Aertsen J. A., Emery K., Nach der Verurteilung von 1277 (Miscellanea Mediaevalia 28), Verlag de Gruyter, Berlin (2001), S. 1004 ff.
  3. In der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts wurde regressiv vom Cogito (des Descartes) ausgehend das „In-der-Welt-Sein“ (M. Heidegger) im Gegenzug zur rationalen (ontologischen) Begründungsproblematik zur Sprache gebracht und diese damit in Frage gestellt.
  4. Blumenberg H., Pseudoplatonismen in der Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1971/1, Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz
  5. Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 457
  6. In einem Brief an Mästlin (19.04.1597), zit. nach Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 457
  7. Hiezu Feyerabend P., Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1976), S. 179 ff.
    Hier auch Anmerkungen zur Diskussion über die Beurteilung der Entfernung zwischen Linse und beobachtetem Gegenstand. Vgl. auch Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 437
  8. Blumenberg H., siehe Ref. 1, bes. S. 24 ff.
  9. Feyerabend P., siehe Ref. 7, S. 151 ff.
    Luhmann N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1997), S. 991; Luhmann bemerkt lakonisch, dass Technik Wissen beweist, umgekehrt Zweifel durch technisches Wissen widerlegt werden.
  10. Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 465
  11. Zit. Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 463
  12. Esposito E., Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (2007), S. 19 ff.
  13. Vgl. dazu neuerdings Laughlin R. B., Abschied von der Weltformel, Piper Verlag, München (2007); Hier werden die Grenzen der Mathematisierbarkeit der Natur, die Schranken des theoretischen Wissens und der experimentellen Falsifikation diskutiert.
  14. Heintz B., Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin, Springer Verlag, Wien, New York, S. 57 f.
  15. Zit. bei Blumenberg H., siehe Ref. 1, S. 464
  16. Heidegger M., Holzwege, 4. Auflage, Klostermann Verlag, Frankfurt/Main (1963), S. 38
  17. Blumenberg H., 258 ff.
  18. Lem S., Über außersinnliche Wahrnehmung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1981), S. 49
  19. Lem S., siehe Ref. 18, S. 112 ff., S. 51
  20. Lem S., siehe Ref. 18, S. 66 f. (kursiv im Original)
  21. Blumenberg H., Die Lesbarkeit der Welt, 2. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1989), S. 400, S. 408 (im Zusammenhang einer Diskussion von Thesen, die Erwin Chargaff und Hans Jonas zu bedenken gaben.)
  22. Luhmann N., siehe Ref. 9, S. 430
  23. Luhmann N., siehe Ref. 9, S. 519
  24. Hiezu die Darstellung des Ist-Zustandes bei Nowotny H., Testa G., Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (2009)
  25. Vgl. Nowotny H., Testa G., siehe Ref. 24, S. 115, wo im Zusammenhang des Altered Nuclear Transfer (ANT) „eine biotechnische Kreatur“ entstand, „die maßgeschneidert zwischen religiösen Überzeugungen und dem Druck nach wissenschaftlichen und technischen Innovationen vermitteln sollte“.
  26. Luhmann N., siehe Ref. 9, S. 127 f. Luhmann bezieht sich auf eine Feststellung von Henri Poincaré, mit der dieser „noch am Anfang des 20. Jahrhunderts die scientific community schockieren konnte“.
  27. Lem S., siehe Ref. 18, S. 37
  28. Jaspers K., Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München (1961), S. 340; Jaspers sieht die Möglichkeit, dass Angst zu einer „schöpferischen Angst“ werden kann, die „wie ein Katalysator für den Antrieb der Freiheit aus anderem Ursprung“ wirkt.
  29. Jaspers K., siehe Ref. 28, S. 289

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