Psychodynamik im Schwangerschaftskonflikt

Imago Hominis (2010); 17(4): 291-303
Angelika Pokropp-Hippen

Zusammenfassung

Frauen nach einer Abtreibung berichten häufig, dass ihnen im Schwangerschaftskonflikt positive Unterstützung des sozialen Umfeldes und der Mut zum Leben mit dem Kind gefehlt haben. Auf dem Hintergrund der Entwicklungspsychologie wird der Zusammenhang zwischen emotionalen Ressourcen und Ich-Stärke in Hinblick auf die Fähigkeit untersucht, in einem Konflikt die eigene Position vertreten und realisieren zu können. Die Bedeutung der Autonomieentwicklung wird verdeutlicht. Es wird dargestellt, dass die Schwächung des Selbstwertes in Hinblick auf den Ausgang eines Schwangerschaftskonfliktes bedeutsam sein kann. Das Risiko der Entwicklung eines Post Abortion Syndroms als Erkrankung nach einer Abtreibung wird vorgestellt. Auch die Verwendung von Verhütungsmitteln kann zu einem grundsätzlichen Entscheidungskonflikt führen, was an einem Fallbeispiel verdeutlicht wird.

Schlüsselwörter: Psychodynamik, Schwangerschaftskonflikt, Autonomieentwicklung, Ressourcen, Post Abortion Syndrom

Abstract

Women after an artificial abortion often report that faced with the dilemma of an unwanted pregnancy (gestational conflict), they lacked the positive support of their social environment and felt no courage to lead a life with a child. Developmental psychology provides the background for linking emotional resources to the power of the ego, which should enable women to overcome situations of conflict by reaching their objectives and defending their position. The importance of the development of autonomy becomes evident. This article will show that the weakening of self-value can have an important impact on the final outcome of a gestational conflict. The risk of a post-abortion syndrome as a well-defined disease following an abortion is also presented. Also, how the use of artificial contraceptives can lead to a basic decisional conflict is illustrated with a case example.

Keywords: Psychodynamics, Gestational Conflict, Development of Autonomy, Ressources, Post-Abortion Syndrome

 


Ein Schwangerschaftskonflikt geht stets mit einer Entscheidungskrise einher. Die Entscheidung über Leben oder Tod des ungeborenen Kindes stellt eine starke emotionale Belastung dar. Nach meiner Erfahrung wird die schwangere Frau oft in hohem Maße von ihrem sozialen Umfeld in ihrer Entscheidungsfindung beeinflusst. Sie erlebt in der emotionalen Auseinandersetzung mit den die Krise auslösenden Faktoren oft eine Wiederholung früherer Konflikte und emotionaler Mangelerfahrungen. Die Psychodynamik des Schwangerschaftskonfliktes mit folgender Abtreibung kann häufig mit einer Psychodynamik des emotionalen Mangels in der Ursprungsfamilie und im gegenwärtigen psychosozialen Umfeld in Beziehung gesetzt werden. In vielen Fällen haben sich schon von frühester Kindheit an eine Schwächung in der Wahrnehmung und Wertung des eigenen Selbst und eine geringe Fähigkeit zur Abgrenzung von den Impulsen eines fordernden Gegenüber manifestiert. Bei der Anamneseerhebung tritt oft ein Mangel an positiver Zuwendung in der Kindheit einhergehend mit einer Schwächung des Urvertrauens zu Tage. In Konflikten kann dann eine hilfreiche Verstärkung durch Abrufen von Ressourcen selten genutzt werden. Die Identitätsbildung ist auf dem Boden des geschwächten Selbstwertgefühls fragil. Das Durchsetzungsvermögen und die Konfliktfähigkeit leiden darunter. Zur Verdeutlichung der Bedeutung einer die Autonomie fördernden Erziehung werde ich Aspekte der Entwicklungspsychologie beleuchten. Es folgen Fallbeispiele aus meiner ärztlich-psychotherapeutischen Arbeit welche zeigen, welchen Zusammenhang es zwischen einem erfahrenen emotionalen Mangel in der eigenen Sozialisation und der Beendigung einer Schwangerschaft durch Abtreibung als Tradierung von eigenen emotionalen Mangelerfahrungen gibt. In diesem Zusammenhang werde ich auch die Erkrankung nach Abtreibung, das Post Abortion Syndrom, thematisieren.

1. Entwicklungspsychologische Aspekte

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist vielfach in der wissenschaftlichen Literatur belegt, dass ein Mangel an liebevoller, aufmerksamer Zuwendung die Ich-Identität und Ich-Stärke sowie die Konfliktfähigkeit in Abhängigkeit vom Ur- und Selbstvertrauen entscheidend vom ersten Lebenstag an beeinflusst. Die Arbeiten von Rene Spitz (1887 – 1974) seit den 40er-Jahren des1 20. Jahrhunderts dokumentierten, dass emotionale und psychosoziale Vernachlässigung in der Sozialisation der ersten Lebensjahre massive Folgeschäden bis hin zu letalem Ausgang hinterlässt. Er untersuchte die Entwicklung der menschlichen Kommunikation und der Sprachentwicklung auf dem Hintergrund der Wechselbeziehung zwischen Mutter und Kind im ersten Lebensjahr. Nach Spitz durchläuft diese Entwicklung in Alters- und Reifeabschnitten drei Stadien. Affektive Indikatoren wie das soziale Lächeln (2./3. Monat), die Fremdenangst (7./8. Monat) oder die Geste des Nein (15./18. Monat) machen auf die zum Teil sprunghaft verlaufenden Veränderungen im kindlichen Organismus und Verhalten aufmerksam. Eine Störung der Mutter-Kind Beziehung kann sich äußern in aktiver oder passiver Ablehnung des Kindes, Überfürsorglichkeit, abwechselnder Feindseligkeit und Verwöhnung sowie mit Freundlichkeit verdeckter Ablehnung. Dieser Mangel an Objektkonstanz wird vom Kind als Bedrohung der Objektbeziehung erlebt und führt zu verschiedenen psychischen und psychosomatischen Störungen, welche von Ekzemen der Haut über depressive Krankheitssymptome bis zum Vollbild des Hospitalismus reichen.

In diesem Kontext möchte ich auf die Veröffentlichungen von Phillip G. Ney und Marie Peeters-Ney zur Thematik des Post-Abortion-Surviver-Syndroms, der psychosozialen Erkrankung von Menschen im Umfeld einer Abtreibungstraumatisierung, hinweisen. Die oben genannten Faktoren wie Überfürsorglichkeit, abwechselnde Feindseligkeit und Verwöhnung sowie mit Freundlichkeit verdeckte Ablehnung geborener Kinder werden von den Autoren als klassische Verhaltensmuster und Verhaltensmängel bei eigener Betroffenheit vom Post Abortion Syndrom beschrieben.2

Sigmund Freud (1856 – 1939)3 entwickelte das Modell des Bewussten, Vorbewussten (aufmerksamkeitsgesteuert) und Unbewussten (unzugänglich, Ausnahme: Träume) und sah die Psyche in ES als unbewussten Anteil und Herkunft der Triebe, Ich (teils bewusst, vermittelt zwischen Realität und Es, rational) sowie Über-Ich (Moralinstanz, kontrolliert das Ich, teilbewusst) gegliedert. Seine Stadien der psychosexuellen Entwicklung fanden weite Verbreitung. Er beschrieb die orale Phase (0. – 1. Lebensjahr), anale Phase (2. – 3. Lebensjahr), phallische Phase (4. – 5. Lebensjahr), Latenzphase (6. – 7. Lebensjahr) und genitale Phase (8. Lebensjahr bis Pubertät). In Hinblick auf die möglichen Folgen eines erlittenen emotionalen Mangels ist von großer Bedeutung, dass Freud erkannte, dass frühkindliche Erfahrungen den Charakter prägen. Er sprach von Fixierungen bei zu großer oder zu geringer Triebbefriedigung und einer typischen Expression dieser Fixierung je nach der Phase, in welcher sich diese Erfahrung des zu viel oder des zu wenig manifestierte. Eine Fixierung in der oralen Phase hat typischerweise eine Neigung zur Abhängigkeit von anderen zur Folge und zeigt sich oft in übermäßigem Essen, Trinken oder Rauchen. Störungen in der analen Phase gehen oft mit zwanghaft ordentlichem oder schlampigen Verhalten einher. Fixierungen in der phallischen Phase zeigen sich häufig in einem übertriebenen Rivalitätsverhalten. Freud erkannte, dass es bei emotionalen Überlastungen zu einer Rückzugsneigung auf frühkindliche Entwicklungsstufen kommt, was er mit dem Begriff der Regression beschrieb.

Milton Erickson (1902 – 1980)4 gilt als Vater der Neo-Psychoanalyse und modifizierte die Theorien Freuds. Er unterstrich die Bedeutung der Menschen als aktive Wesen, welche Handlungskompetenz in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt besitzen und deren Entwicklung über das ganze Leben verläuft. Er sah die psychosoziale Entwicklung weniger von Sexualtrieben als von sozialen Einflüssen geprägt. Er formulierte die in dem Kontext meiner Theorie wichtige These des Urvertrauens oder des Urmisstrauens als typische Entwicklungsthematik der ersten zwei Lebensjahre. In dieser Zeit findet der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zur primären Bezugsperson statt. Werden die Bedürfnisse des Säuglings nicht ausreichend befriedigt, sieht Ericson die Gefahr der Entwicklung von Argwohn als Grundfärbung der Beziehung zum Leben.

In den ersten drei Lebensjahren beschreibt Erickson die Phase der Autonomieentwicklung, welche bei mangelnder Förderung des Kindes eine Entwicklung zur Neigung zu Selbstzweifel und Scham zur Folge hat. Für die folgende Phase vom 3. bis 6. Lebensjahr beschreibt er bei restriktiver Erziehung eine mangelnde Entwicklung von Initiative, eine Neigung zu übertriebenen Schuldgefühlen. Das Kind entwickelt typischerweise die Überzeugung, dass alles, was es tun möchte, falsch ist. In diesem Kontext findet dann eine entscheidende Schwächung des Selbstwertes und der Konfliktfähigkeit statt.

Die Entwicklungsmodelle des Behaviourismus J. Watson (1878 – 1958) und B. F. Skinner (1904 – 1990)5 sehen menschliches Verhalten fast ausschließlich über das Lernen (Umwelteinflüsse) bestimmt, weniger über das Erbgut. Sie beschreiben die Formen des Lernens als klassisches und instrumentelles (operantes) Konditionieren. Babys werden nach ihrer Erkenntnis als tabula rasa geboren. Menschliche Entwicklung basiert auf habits als Erwerb von Assoziationen zwischen Stimuli und Reaktion. Die Erweiterung dieses Modells erfolgte durch A. Bandura ( geb. 1925)6 und seine sozial kognitive Lerntheorie, die das Lernen am Modell entwickelte und das Gelernte in Abgrenzung zum Behaviorismus nicht automatisch als ausgeführt sah. Er entwickelte das Modell der Konditionierung in Abhängigkeit vom Modell, dem Beobachter, der Wiederholung und der Verstärkung und beschreibt eine Wechselwirkung zwischen Person, Umwelt und Verhalten.

Die ökologische Systemtheorie (U. Bronfenbrenner)7 sieht die natürliche Umwelt als wesentliche Quelle der Entwicklung, J. Bowlby8 sieht für jede Spezies angeborene Verhaltensmerkmale, die unabhängig von Lernerfahrung innerhalb einer Art universell auftreten, sowie Lerndispositionen, die in lernsensiblen Phasen ihre Prägung erhalten und artspezifisch sind. Die sensible Phase für die Entwicklung der Bindungsfähigkeit setzt er im Zeitraum von ca. 6 Monaten bis drei Jahren in Korrelation mit der Lerndisposition für Interaktionen zwischen Mutter und Kind fest.

Fasst man die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zusammen, stimmen die von unterschiedlichen Ansätzen her kommenden zitierten Autoren darin überein, dass sie die ersten drei Lebensjahre der menschlichen Entwicklung für die Reifung, Determination und Expressionsfähigkeit der personalen Entwicklung und Kompetenz in Abhängigkeit von Bindungs- und Beziehungserfahrungen gesehen in ihrer Bedeutung für wesentlich halten. Ein Mangel von Bindungs- und Beziehungserfahrungen hat negativen Einfluss auf die Entwicklung von Ich-Stärke, Selbstbewusstsein, Urvertrauen, Autonomie, Handlungsinitiative, Lernmotivation und psychosozialer Kompetenz sowie Frustrationstoleranz. Dieser Mangel kommt im Umgang und in der Bewältigung von Konflikten zum Tragen.

2. Angewandte psychotherapeutische Verfahren

Die Psychodynamik des Konfliktes steht nach tiefenpsychologischer Ansicht in Interaktion mit der persönlichen Entwicklung. Es werden dynamische Zusammenhänge gesucht, die sich konflikthaft in einem Leben immer wieder konstellieren und oft einen verhängnisvollen Wiederholungszwang zu haben scheinen. Schon seit den Anfängen der psychotherapeutischen Arbeit war bekannt, dass Menschen spontan zu den von ihnen verbalisierten Inhalten Bilder im Bewusstsein hatten. Der Göttinger Arzt und Psychoanalytiker Hans Carl Leuner hat 1954 seine Methode des Katathymen Bilderlebens zum ersten Mal publiziert.9 Katathym bedeutet aus dem Griechischen übersetzt „gemäß der Seele, der Emotionalität.“ Leuner erkannte die psychischen Selbstheilungskräfte, die in der Beschäftigung mit den inneren Bildern zu emotionalen Zusammenhängen stecken. Er entwickelte eine Systematik von standardisierten Motiven für die Grund-, Mittel- und Oberstufe des Verfahrens, wobei darüber hinaus dem erfahrenen Therapeuten eine freie assoziative Arbeit auf dieser Basis möglich ist. So können sich psychodynamische Prozesse und unbewusste Konflikte auf der Symbolebene manifestieren und dort unter Nutzung der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut(in) und Patient(in) genutzt werden.

Die Arbeit auf der Symbolebene mit verdrängten und unter Umständen dem Tagesbewusstsein verloren gegangenen Zusammenhängen ist auch und gerade für die Arbeit mit Traumatisierten von besonderer Bedeutung. Die Katathym-imaginative Psychotraumatherapie hat sich als spezielle Therapieform für Traumata in den letzten 15 Jahren entwickelt.10 Unter Nutzung von Ich-stützenden und Ich-stabilisierenden Motiven wie beispielsweise dem „sicheren und geschützten Ort“ und „inneren Helfern“ wird auf der Symbolebene unter strikter Vermeidung einer Retraumatisierung eine emotional sichere Basis entwickelt, auf der dann nach der Einführung des Umgangs mit dem (heilen) inneren Kind das verletzte innere Kind wahrgenommen und vom Ort der Traumatisierung weg in Sicherheit gebracht werden kann, was oft im Leben der Patienten eine positive Auswirkung hat und vitalisierende Energie zur Neugestaltung des Lebens freisetzen kann. Zielführend ist, dass die traumatischen Erfahrungen nicht mehr unbewusst das Leben färben und dominieren, sondern erkannt, bearbeitet und in das Selbst der Person integriert den Weg frei geben vom ewigen Gestern der Traumaerfahrung zum Hier und Jetzt der aktuellen Lebensgestaltung.

Die traumatherapeutische Arbeit spielt auch und gerade bei der Beschäftigung mit Schwangerschaftskonflikten oder den Folgen einer Abtreibung, dem Post Abortion Syndrom, eine große Rolle. Ich möchte kurz anhand von Fallbeispielen die Vorgänge bei einer Traumatisierung verdeutlichen.

3. Die traumatische Erfahrung

Die Fähigkeit, emotionale Inhalte bildlich abzuspeichern ist im Mandelkern, der Amygdala (implizites, emotionales Gedächtnis) im Gehirn organisch angelegt. Dort erhalten sensorische Eindrücke ihre emotionale Färbung. Beispielsweise reagiert ein Mensch auf die sensorische Wahrnehmung eines Hundes mit Freude, der andere mit Angst und Abwehr. Diese emotionale Reaktion auf die sensorische Wahrnehmung findet in der Amygdala statt (Abb. 1). Bei einer schweren Traumatisierung wird die Verbindung zwischen der Amygdala und dem nachgeschalteten Hippocampus als Ort der Speicherung dieser emotionalen Erfahrung und der Verschaltung mit der Fähigkeit, diese emotionale Erfahrung verbal auszudrücken (explizites, verbales Gedächtnis) unterbrochen. Typischerweise „fehlen dann die Worte“, um erlittene Traumatisierungen auszudrücken. Häufig ist selbst die Erinnerung an die Traumatisierung bruchstückhaft und überschwemmt nicht selten bei entsprechendem Triggerreiz (Auslösereiz) bildlich und emotional das Bewusstsein des Betroffenen. Dies bezeichnet man als „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS, Abb. 2). Aktuell wird diese Erkrankung als Traumatisierung von Bundeswehrsoldaten nach kriegsähnlichen Einsätzen in Afghanistan publiziert. Das Post Abortion Syndrom als Teil der posttraumatischen Belastungsstörung wurde bislang in wissenschaftlichen Untersuchungen vernachlässigt, das Erkrankungsrisiko nach einer Abtreibung weitgehend verleugnet und verdrängt. Bislang existiert in der ICD-10( International Classification of Diseases) keine Benennung oder eigene Abrechnungsziffer zum Post Abortion Syndrom, was die Situation verdeutlicht. Einem flächendeckenden Netz von Abtreibungsinstitutionen steht leider in keiner Weise ein therapeutisches Netz zur Behandlung der psychischen und psychosomatischen Folgen der Abtreibung gegenüber.

3.1 Das Post Abortion Syndrom11

Das Post Abortion Syndrom (PAS) ist eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).12 Es handelt sich dabei um eine seelische und/oder körperliche Erkrankung, die in einem zeitlich variablen Intervall nach einer Abtreibung auftritt. Häufigkeit der PAS: Jede Abtreibung ist ein Trauma. Die geschätzte Manifestation von Störungen unterschiedlicher Stärke und Ausprägung liegt bei 80%. Die Ausprägung ist sowohl psychisch, physisch als auch psychosomatisch. Es lassen sich typische Störungen13 sowie Zeiten der Manifestation erkennen (siehe Tab. 1).14

Typische Krisenzeiten zur Manifestation des PAS

  • reaktive psychische Störungen unmittelbar nach der Abtreibung
  • in den ersten Wochen und Monaten nach der Abtreibung
  • um den Geburtstermin des abgetriebenen Kindes
  • in den Folgejahren: um den Geburtstag und um den Tötungstermin = Sterbetag des Ungeborenen
  • bei Schwangerschaft und einer Geburt selbst oder in deren zeitlichem Umfeld
  • bei schwerer Krankheit oder Unfall geborener Kinder
  • nach einem Todesfall (das abgetriebene Kind hatte kein Grab, sondern wurde als Organmüll entsorgt)
  • nach Trennung oder Scheidung, nach Auszug der Kinder
  • im Klimakterium
  • bei Konfrontation mit dem eigenen Tod

Tab. 1: Typische Krisenzeiten zur Manifestation des PAS 
 

3.1.1 Drei Fallbeispiele zum Post Abortion Syndrom

Fall 1: Bilder der Frau

Eine Patientin zeichnet folgendes Bild: Zu sehen ist eine Frau, ohne Hände und Füße (symbolisch ohne Handlungskompetenz und Erdung im realen Leben) in einem Käfig, der bis zur Hälfte mit Blut gefüllt ist (Abb. 3). „Dies ist das Blut meines abgetriebenen Kindes“, erklärte sie in der Therapie. Sie hatte mit Mitte Dreißig nach 15 Ehejahren die „Pille“ abgesetzt und war verunsichert durch ihre ambivalenten Gefühle auf die eingetretene Schwangerschaft. Sie konsultierte Beratungseinrichtungen für Schwangere (Pro Familia und Donum Vitae), ohne dort jedoch die emotionale Unterstützung zu finden, nach der sie in Hinblick auf ihre Mutterschaft eigentlich suchte. Im Gegenteil: Man erklärte ihr, dass manche Frauen eben erst schwanger werden müssten, „um zu erkennen, dass sie keine Mutter sein wollten“ und legte die Abtreibung nahe bzw. verhielt sich „ergebnisoffen“, was der Patientin in ihrer inneren Not nichts nützte. Der Ehemann erkannte zu spät, dass sein Schutz und seine Unterstützung im wahrsten Sinne des Wortes „not-wendig“ gewesen wären und wünschte sich insgeheim jene Frau zurück, die er in den 15 Ehejahren hatte. Seinem Dafürhalten nach würde mit der Abtreibung der Partnerschaftskonflikt beseitigt. Anschließend musste er jedoch erkennen, dass er mit seiner Ehefrau durch die Tötung des gemeinsamen Kindes in eine tiefe Ehekrise mit ständigen aggressiven Attacken und Schuldzuweisungen geraten war. Die Frau kreiste nach eigenen Beschreibungen zu 90 Prozent der wachen Zeit rund um die Entwicklung und Entscheidung zur Abtreibung. Als sie von der Narkose erwachte, durchfuhr sie sofort der Gedanke: „Ich habe den größten Fehler meines Lebens gemacht“, „Ich habe mein Leben abgeschnitten.“ Sie versank in eine schwere Depression mit suizidalen Gedanken. Die Patientin: „Ich fühle mich stückweise geschlachtet.“ Ein „Ersatzkind“ sollte heilend auf die desolate Situation wirken. Die Geburt des zweiten Kindes verlief schwer mit über 25 Stunden Wehen und Geburtsstillstand mit nachfolgender Sectio (Kaiserschnittentbindung). Hebammen beschreiben, dass Geburtskomplikationen nach einer Abtreibung nicht selten sind. Auch hier wären wissenschaftliche Untersuchungen der Häufigkeit auch im Sinne der Prävention von Komplikationen von klinisch großer Bedeutung. Bei dem Neugeborenen entwickelte sich eine fieberhafte Erkrankung. Dies deutete die Mutter sofort als Strafe wegen der Abtreibung. Hier zeigt sich die Entwicklung zum „Post Abortion Surviver Syndrom“, die als eine systemische Erkrankung der Familienmitglieder nach einer oder mehreren Abtreibungen beschrieben wird.15 Der Käfig der Frau steht symbolisch für ihre Antriebsstörung in der Depression, ihre Schuld- und Schamgefühle, die eine soziale Isolation zur Folge haben. Sie hält den Käfig der Hölle ihrer Leiden am Post Abortion Syndrom sozusagen von innen zu, aus Angst vor der Schuldzuweisung anderer und deren Verachtung. Diese „Anderen“ sind im rechten Bildteil schemenhaft dargestellt, die Patientin fühlt sich verlacht. Ihr Mann, unter dem Käfig mit seinen Liebesbeteuerungen ebenfalls von der Frau isoliert, leidet ebenfalls am Post Abortion Syndrom und empfindet: „Du bist ein Versager. Du hast Deine Frau und Dein Kind nicht geschützt. Ich verlange, dass ich leide. Du bist ein Feigling, dass Du Dich nicht aufhängst.“ Da er sich den inneren Auftrag gab, zu leiden, bleibt er passiv den aggressiven Ausbrüchen seiner Frau ausgeliefert, wobei das geborene kleine Kind dieser Atmosphäre mit den entsprechenden Folgen für seine Entwicklung hilflos ausgeliefert ist. Es ist ein wahrer Teufelskreis von Schuld, Wut und Depression entstanden, welcher dringend der therapeutischen Behandlung und spirituellen Erlösung bedarf.

Am Beispiel der Kindheitsgeschichte dieser Patientin lässt sich die Bedeutung des emotionalen Mangels als bahnendem Faktor zur Entwicklung eines Schwangerschaftskonfliktes erkennen. Die Ehe der Eltern der Patientin wurde ohne den Segen der Großfamilie geschlossen, die Kontakte zur Verwandtschaft waren nur sporadisch. Als die Patientin im Kleinkindalter war, zogen die Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland, der Kontakt zur geliebten Großmutter väterlicherseits, welche der Patientin als Geborgenheit vermittelnd in Erinnerung ist, wurde abgebrochen. Beide Eltern gingen in Deutschland ganztags arbeiten, die Patientin kam in eine Kindertagesstätte, wo sie kein Wort verstand. Sie erinnert, wie sie morgens weinend aus dem Schlaf gerissen und angezogen wurde und ihre Eltern erst abends wieder sah.

Die Wohnung der Familie war auf einem abgelegenen Gelände, ohne Bad und Toilette. In der Schule schämte sich die Patientin Mitschülerinnen zu sich einzuladen, was die soziale Einbindung in der Klassengemeinschaft schwierig machte. Ihre Schwester wurde geboren, als die Patientin die Grundschule besuchte. Die Schwester war von den Eltern nicht geplant. Die Patientin musste nachmittags ganz allein auf das Baby aufpassen, sie konnte nur eine Nachbarin bei Notfällen fragen. Diese frühe Verantwortung für die kleine Schwester vergrößerte die soziale Isolation. Als die Patientin 15 Jahre alt war, erinnert sie sich, wie die Eltern sie und ihre Schwester mit zu einem „Ausflug“ nach Holland nahmen. Dies war ganz ungewöhnlich, da es sonst nie solche Ausflüge gab. Der Vater und die Mutter gingen weg und kamen nach langer Zeit wieder mit der weinenden Mutter zurück, die gerade ihr drittes Kind abgetrieben hatte. Die Patientin erfuhr dies erste viel später, wusste es aber intuitiv sofort. Sie hasste und verachtete ihre Mutter, die sich wie der Vater noch mehr in Arbeit stürzte. Der Vater begann zu trinken. Die Patientin kann sich bei diesem Hintergrund umso weniger verzeihen, wie die Mutter abgetrieben zu haben. Die Praxis zeigt, dass sich das Thema Abtreibung mitunter über Generationen wiederholt. Hier wäre eine soziologische und psychologische Erforschung der Zusammenhänge wichtig.

Die psychosoziale Situation der Patientin in der Kindheit war geprägt durch einen Mangel an emotionaler Konstanz durch die Eltern und die traumatische Erfahrung der Trennung von der Geborgenheit vermittelnden Großmutter. Die erlittene Ausgrenzung als „Ausländerkind“ in einer schäbigen Wohnung wurde durch Leistung zu kompensieren versucht, wobei der Selbstwert auf Grund der erfahrenen Mangelsituation in der Kindheit schwach ausgeprägt war. Die Traumatisierung durch die vorgeburtliche Tötung des Geschwisterkindes lastet bis heute emotional unaufgearbeitet auf der gesamten Familie und wirkt auf die Beziehungen destabilisierend, wie für das Post Abortion Surviver Syndrom beschrieben. Der Ehemann hat ebenfalls eine Mangelerfahrung als Scheidungswaise mit einer ihn überbehütenden und bis weit in die Pubertät für sich vereinnahmenden Mutter hinter sich. Auch er kompensierte die innere emotional defizitäre Situation durch Leistung. Das Leben des Paares kreiste um Leistung, Reisen und Statussymbole. Die Schwangerschaft wurde unbewusst als Bedrohung der erreichten leistungsabhängigen Selbstaufwertung empfunden. Durch die Abtreibung sollte der Status quo erhalten und die Lebensausrichtung fortgesetzt werden, welche man durch ein Kind und seine Ansprüche bedroht sah. Die dem Kind zugewandte, lebensbejahende Seite wurde leider in den erfolgten Beratungen nicht gestärkt und so die Entwicklung zur Abtreibung hin indirekt unterstützt. Die Situation im Post Abortion Syndrom schwächt weiter zentral den Selbstwert der Partner. Die Beziehung ist durch Schuld- und Aggressionszuweisungen akut bedroht, wie es auch die Zeichnungen des Ehemanns ausdrücken.

Fall 1: Bilder des Mannes

Männer zeichnen ihre Situation anders. In Abb. 4 a) ist zunächst die Neigung zur aggressiven Selbstverletzung der Frau dargestellt: Sie schlägt ihren Kopf gegen eine Wand und verletzt sich selbst. Das Thema der Verletzung als unbewusste Form der Bestrafung spielt in der belasteten Beziehung eine große Rolle. Daneben zeichnet der Ehemann, wie er passiv dem Agieren seiner Frau durch seine Schuldblockade und Selbstbestrafungsneigung ausgeliefert wie eine Puppe an ihrem Faden hängt (Abb. 4 b). Sie lässt keine wirkliche Nähe zu und gibt ihn auch nicht frei. Beide haben eine unbewusste Übereinkunft, aneinander zu leiden.

Die dritte Zeichnung zeigt die Intention des Ehemannes, nach vorn in die Zukunft zu schauen (Abb. 4 c). Seine Frau, die nur nach rückwärts gewandt in den Zeichnungen ein Gesicht hat, dass heißt, sich bei den Gedanken an das Vergangene identifiziert, kann nicht mit ihm nach vorn schauen. Sie ist wie Lots Frau (Gen 19, 26) erstarrt in den Themen der Vergangenheit, im Post Abortion Syndrom.

Fall 2

Ein weiterer Fall verdeutlicht die Beziehung zwischen erlittenem emotionalen Mangel in der Herkunftsfamilie und der Entwicklung eines Schwangerschaftskonfliktes: Eine Frau zeichnet sich im Meer wie an einer Qualle schwimmend. Sie hat sich schwanger dargestellt, wie sie sich mit den zwei ungeborenen Kindern vor der Abtreibung erlebt hat. Die fehlenden Hände und Füße sprechen wie im ersten Fall auf der Symbolebene von mangelnder Handlungskompetenz und Bodenhaftung zur Bewältigung der im Konflikt anstehenden Problemlösungen. Die Patientin schwebt passiv im Meer und kann nicht aktiv eingreifen. Die Qualle erinnert an die Plazenta und somit an die Schwangerschaften. Weitere Zeichnungen der Frau zeigen die zunehmende emotionale Erstarrung der Patientin und ihr „Wie-vereist-Sein“, was dem oft von Frauen in und nach der Abtreibung beschriebenen und auch von anderen Traumatisierungen bekannten „roboter feeling“ entspricht und in der Traumatherapie auch als „numbing“ (taub, unempfindlich, tumb sein) beschrieben wird.

Die Patientin hatte zwei Abtreibungen im Alter von Mitte Zwanzig und als Dreißigjährige hinter sich und später ein Kind vom gleichen Partner geboren, den sie nach den Abtreibungen, wie sie sagt, als „Versuch der Selbstheilung“ geheiratet hatte. Die Patientin empfand: „Wir sind eine Familie, aber eine tote.“ Kurz nach der Eheschließung brach die psychotische Erkrankung der Patientin aus, die durch das nicht behandelte jahrelange Leiden am Post Abortion Syndrom mitgebahnt worden war. Die Patientin war vier Jahre (!) in verhaltenstherapeutischer Behandlung gewesen, ohne dass die Abtreibungen ein einziges Mal (!) thematisiert bzw. vom Therapeuten angesprochen worden wären.

Dieses Ausklammern der Abtreibungen als möglicher Faktor der psychischen oder psychosomatischen Erkrankung in Therapien ist ein häufig begegnendes Phänomen. Die Patientin hatte nach der ersten Abtreibung beginnend eine depressive Erkrankung im Sinne des Post Abortion Syndroms entwickelt, die sich nach der zweiten Abtreibung verstärkte. Die erste Abtreibung erfolgte aus Rache an ihrem Partner, da er sie betrogen hatte. Die zweite Abtreibung erfolgte ebenfalls in einer Beziehungskrise, als die Patientin den Freund betrogen hatte. Die Patientin stammt aus einer Familie mit neun geborenen Kindern. Die Mutter hatte das erste Kind abgetrieben. Auch die Großmutter und Urgroßmutter mütterlicherseits hatten abgetrieben. Der Vater der Patientin wird von ihr als autoritär und streng beschrieben. Sie habe bis zu seinem Tode immer eine unterkühlte Beziehung zu ihm gehabt und sich heimlich nach seiner Liebe und Anerkennung gesehnt. Die Mutter sei sehr jähzornig gewesen und habe schnell geschlagen. Sie sei überlastet gewesen und habe kaum Wärme für die Patientin gehabt. An körperliche Kontakte wie Schmusen kann sie sich nicht erinnern. Der Vater habe die Mutter dominiert, und sie habe sich nur heimlich widersetzt. Es sei viel Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit unerfüllt geblieben. Außer der Patientin sind noch zwei weitere Geschwister an Psychosen erkrankt.

Das Post Abortion Syndrom ist wie beschrieben in seinem jahrelang nicht behandelt Werden als ein bahnender Auslöser der Psychose zu verstehen, welche eine multifaktorielle Erkrankung ist. Die Patientin hatte in Ritualen wie dem Begraben von Schiefertäfelchen mit den Namen der abgetriebenen Kinder im Garten versucht, sozusagen in Selbstbehandlung ihre Schuld- und Depressionslast zu erleichtern. Sie hat erst nach neun Jahren Suche in unserer Therapie eine Möglichkeit gefunden, die emotionale Verletzung durch die Abtreibungen und die Folgeerkrankung in die psychotherapeutische Behandlung zu integrieren und ihr Leiden an den Folgen ernst genommen zu sehen. Dieses lange „Nicht ernst genommen Werden“ mit dem Leiden nach den Abtreibungen vertiefte die seit der Kindheit bestehende Neigung zu Autoaggression und Selbstzweifel.

Fall 3

Im nächsten Fall hat die Patientin ihre Kindheit bei den Großeltern verbracht, da die Mutter unverheiratet eigentlich das Kind nicht wollte und von den eigenen Eltern großziehen ließ. Die Patientin idealisierte den Großvater, der ihr viel Wissen und Kulturbezug vermittelte. Die Großmutter versorgte die Patientin, ohne wirklich emotional in einer tiefen Beziehung zu stehen. Auch in diesem Fall hatte die Patientin wenig Selbstwertgefühl und authentisches Aggressionspotential im positiven Sinne entwickelt. Sie hatte den Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren und somit in die Fußstapfen des verehrten Großvaters zu treten, entschied sich dann doch für die Ehe mit einem Akademiker und führte an der Seite des dominanten Mannes ein Schattendasein in der Versorgung zweier Kinder. Ihr erstes Kind hatte sie durch eine Fehlgeburt verloren. Nach den zwei geborenen Kindern fuhr ihr Ehemann sie drei Mal zu Abtreibungen, wonach sich die Patientin einige Tage schlecht fühlte. Schon nach der ersten Abtreibung entwickelte sie zunehmend Angst- und Panikattacken, ohne den Zusammenhang zu kennen. Diese Angst- und Panikattacken sowie unklare abdominelle Beschwerden nahmen nach den weiteren Abtreibungen zu und wurden stationär höchstens mit Valiuminfusionen behandelt. Erst nach über dreißig Jahren kam die Patientin nach einem depressiven Zusammenbruch in stationäre psychiatrische Behandlung, in der ein mögliches Post Abortion Syndrom wiederum nicht angesprochen wurde: Der Entlassungsbrief sprach von zwei Geburten und vier Fehlgeburten, die drei Abtreibungen wurden als Fehlgeburten subsummiert und nicht thematisiert. Ein Wiederholungstraum, der über Jahre wieder kehrte, spricht von der emotionalen Not der Patientin. Sie sah ein ehemals stattliches Haus in heruntergekommenen Zustand - symbolisch ein Bild für ihren defizitären Selbstwert und ihr Verletzt-Sein. Drei blutrote Flecken an den Wänden tauchten immer wieder auf und konnten nicht auf Dauer weggeputzt werden. Nach erfolgreicher Therapie des Post Abortion Syndroms, wie an anderer Stelle ausgeführt,16 verschwand dieser Traum vollständig, der psychische Zustand stabilisierte sich.

4. Verhütung pro und contra: Entscheidungskonflikt zum Thema Schwangerschaft

Abschließend möchte ich einen Fall vorstellen, der eine andere Form von Schwangerschaftskonflikt beleuchtet, den es vor sechzig Jahren noch nicht gegeben hat. Die Situation der Frauen und Männer im Umgang mit der menschlichen Fruchtbarkeit hat sich seither eklatant verändert. Es geht um den Konflikt von Frauen im Zeitalter der Empfängnisverhütung, schwanger zu werden oder nicht. Höchst aufschlussreich ist in diesem Kontext eine Lektüre der Enzyklika „Humanae Vitae“ von Papst Paul VI. aus dem Jahre 1968.17

Wie niemals in der Menschheitsgeschichte zuvor stehen die Frauen in der Möglichkeit, ihre Fruchtbarkeit künstlich zu regulieren bei allen Einschränkungen, welche auch bei modernen Verhütungsmethoden gelten. Das Kind ist vom immanenten Faktor der geschlechtlichen Beziehung zwischen Mann und Frau zum Risikofall geworden, den es möglichst perfekt zu verhüten gilt. Sollte diese Perfektion nicht gelingen, kann mit der Abtreibung der erstrebte Zustand wieder erreicht werden. Dass diese Form der Fruchtbarkeitsregulierung in einen Entscheidungsdruck zwingt, zeigt der nun vorgestellte Fall. Ich möchte ihn thematisieren, da von dieser Art des theoretischen Schwangerschaftskonfliktes eigentlich nie gesprochen wird, obwohl er für unsere demographische Entwicklung von hoher Bedeutung sein dürfte. Auch in dem Zusammenhang der Verhütung und Vermeidung von Schwangerschaften sehe ich einen Zusammenhang mit der positiven oder negativen Sozialisation als Mädchen und Frau, dem gut oder schlecht entwickelten Selbstwert und der entsprechenden Eigendynamik, eigene Wünsche zuzulassen, ernst zu nehmen und durchzusetzen.

4.1 Leben mit oder ohne Kind?

Die Patientin im nächsten Fallbeispiel im Konflikt durch Verhütung ist vierzig Jahre alt. Sie entstammt einer gut bürgerlichen Familie. Ihre jüngere Schwester ist mit einem erfolgreichen Geschäftsmann verheiratet und hat zwei Kinder. Die Patientin hat erst im letzten Jahr geheiratet, obwohl sie ihren Mann schon rund zehn Jahre kennt und schon zirka sechs Jahre mit ihm zusammen lebt. Leistung und Verantwortung gerecht zu werden, haben für sie immer eine große Rolle gespielt. Die gemeinsame Wohnung ist perfekt eingerichtet, und der Ehemann liebt Ordnung und Sauberkeit in hohem Maße. Die Tätigkeit der Patientin ist verantwortungsvoll in einem großen Betrieb, wobei sie auch mit Personalentscheidungen zu tun hat. Sie denkt öfter in den letzten Jahren über eine Schwangerschaft nach, kann sich aber nicht entschließen, die „Pille“ abzusetzen, da sie sich nicht sicher ist, der Verantwortung für ein Kind gewachsen zu sein. Sie erlebt ihr Leben schon so als von Pflichten und Leistung geprägt und wüsste nicht, ob sie einem Kind gerecht werden würde. Wenn sie „einfach so“ schwanger würde, wäre das etwas anderes, aber: Bewusst die Pille abzusetzen würde bedeuten, dass sie ja damit die Verantwortung für das Leben des Kindes hätte, das möglicherweise entstehen würde. Ob sie dem Kind diese Leistungsgesellschaft, die immer kälter und fordernder wird, zumuten kann? Sie fühlt sich von dieser Verantwortung überfordert und leidet unter ihrer Entscheidungslosigkeit, zumal die biologische Uhr tickt. Der Ehemann überlässt ihr die Entscheidung. Er findet es gut, wie es ist, und könnte sich, so meint er, auch an ein Kind gewöhnen. Das ist der Patientin wiederum zu wenig Ermutigung, die „Pille“ wegzulassen. So geht die Zeit dahin bei wachsender Unzufriedenheit der Patientin mit sich und dem Leben, das sie führt. Das Bild der Patientin, das im Kontext der Symbolarbeit mit dem katathymen Bilderleben entstanden ist, zeigt einen sehr hohen Berg, sie steht hoch oben. Erst auf meine Nachfrage baut sie beim Hin- und Herlaufen im Aufstieg einen Ruhepunkt ein. Ansonsten ist sie nur geschäftig an dem hohen Berg unterwegs, der symbolisch für Leistung steht, der jedoch gar nicht bis zur höchsten Spitze erklommen werden kann. Oben angekommen empfindet die Patientin zwar Erleichterung, aber keine Freude. In diesem Bild kommt symbolisch zum Ausdruck, wie eingespannt viele Menschen in den Berg ihrer Leistungen sind und gerade Frauen oft unter sehr hohem Leistungsdruck stehen. Bei solch einer verinnerlichten Leistungssituation erscheint es nachvollziehbar, dass die Patientin Zweifel hat, noch mehr Leistung mit einem Kind gewachsen zu sein. Aber: Sie wird nicht glücklich bei diesem Aufstieg, sondern bleibt einsam.

Ist in diesem Dilemma nicht das Dilemma unserer verhütungsaktiven Leistungsgesellschaft verborgen, die für ein Leben mit Kindern, welche die Zukunft bedeuten, immer weniger Raum hat? Sieht so die Selbstverwirklichung und Befreiung der Frauen aus? Mag sein, dass sie vordergründig befreit sind von der Last ungeplanter Kinder, aber wozu haben sie sich unter vielen Opfern auf den Weg zum Gipfel gemacht, wenn dort keine Freude und keine Gemeinschaft warten, sondern erschöpfte Einsamkeit?

Dieser Patientin fehlt auf Grund ihrer Sozialisation der Mut, ihre emotionale Situation hinter dem Berg der Pflichten wahrzunehmen und zu einem möglichen“ Ja“ zum Kind, zum Absetzen der „ Pille“, stehen zu können aus Angst vor der damit verbundenen Übernahme von Verantwortung. Der Mangel an Entwicklung eines belastungsstabilen Selbstwertes führte zur Vermeidung des „Konfliktes Kind“ und zur Vermeidung eines möglichen Teils des Lebens, was depressiv beantwortet wird.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Mangel an positiver Zuwendung, an individueller Förderung, an Raum für Expression und Interaktion mit stabilen Bezugspersonen in der Kindheit zu einer Schwächung des Selbstwertes führen kann. Dadurch werden die Konfliktfähigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit negativ beeinflusst. Dieser innere Mangel erzeugt eine Neigung zu ängstlicher Abwehr. Im Falle eines Konfliktes können dann Entscheidungen gefällt werden, die nicht tragfähig und belastungsstabil sind. Im Falle des Schwangerschaftskonfliktes kann dies eine Tötung des ungeborenen Kindes zur Folge haben. Eine Erkrankung an Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung, das Post Abortion Syndrom, kann die mögliche Folge sein und sollte als Risiko nach Abtreibung verdeutlicht werden.18

Eine Entscheidung über das Leben mit oder ohne Kind auf dem Hintergrund einer Vermeidung der Entscheidung durch jahrzehntelange Verhütung kann ebenfalls zu einer depressiven Erkrankung führen. Authentizität und Selbstwert sind zur positiven Entscheidungsbildung von wesentlicher Bedeutung und hängen mit der Erfahrung tragfähiger Bindungen und Beziehungen in der eigenen Sozialisation zusammen.

Bei lebensprägenden Konflikten spielen die vorhandenen Ressourcen, also das, was dem eigenen Leben letzten Sinn und Halt gibt, eine große Rolle. Hier ist die Verortung in den religiösen Wurzeln von Sinn stiftender Bedeutung und sowohl in der kindlichen Erziehung als auch im therapeutischen Kontext von großer Wichtigkeit.

Referenzen

  1. Julius-Maximilian-Universität Würzburg Philosophische Fakultät III Psychologie, Entwicklungspsychologie, Script auf Grundlage der Vorlesung und der Folien WS 2001/02 und SS 2002 von Prof. Dr. Büttner von Valentin Fließ, valentin@shreddermag.de, 1.1 – 3.6, Ss 1-3, Literatur: Hospitalism: An Injuiry into the Genesis of Psychiatric Conditions in Early Childhood, in: The Psychoanalytic Study oft he Child, Band 1 (1945) und Hospitalism: A Follow-up Report, in: The Psychoanalytic Study oft he Child, Band 2 (1946), Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Klett-Cotta, Stuttgart (1966), engl. Erstausgabe: The First Year of Life (1965)
  2. Peeters-Ney M., Ney P. G., Consequences of Abortion, Lourdes, October 2008
  3. Stangl W., Phasen der psychosexuellen Entwicklung nach Sigmund Freud, http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungFreud.shtml (letzter Zugriff am 2. November 2010)
  4. siehe Ref. 1
  5. siehe Ref. 1
  6. siehe Ref. 1
  7. siehe Ref. 1
  8. siehe Ref. 1
  9. Pokropp-Hippen A., Das Post-Abortion-Syndrom, in: Büchner B., Kaminski C. (Hrsg.), Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug? 10 Jahre Neuregelung des § 218 (1995 – 2005), Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn (2006), S. 29-62, hier: S. 41-42
  10. Krippner K., Steiner B., Die basalen Dimensionen von Traumaverarbeitung und Systemproduktion, 4.2: Intrusion, in: Steiner B., Krippner K., Psychotraumatherapie, Schattauer, Stuttgart (2006), S. 59
  11. Definition des Autors
  12. Pokropp-Hippen A., siehe Ref. 9, S. 43
  13. Pokropp-Hippen A., siehe Ref. 9, S. 44
  14. Pokropp-Hippen A., siehe Ref. 9, S. 45
  15. Peeters-Ney M., Ney P. G., siehe Ref. 2
  16. Pokropp-Hippen A., Diagnostik und Therapie des Post Abortion Syndroms, in: Spieker M. (Hrsg.), Biopolitik, Schöningh, Paderborn (2009), S. 240-241, Abb. 7
  17. Papst Paul VI., Enzyklika über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens „Humanae vitae“ vom 25. Juli 1968
  18. Fergusson D. M., Horwood L. J., Ridder E. M., Abortion in young women and subsequent mental health, J Child Psychol Psychiatr (2006); 47: 16-24

Anschrift der Autorin:

Dr. med. Angelika Pokropp-Hippen
Ottmarsbocholter Straße 4
D-48163 Münster
apokropphippen(at)aol.com

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