Plädoyer für eine Wiederentdeckung einer Kunst des Maßes in der Medizin

Imago Hominis (2011); 18(4): 265-275
Giovanni Maio

Zusammenfassung

Die moderne Medizin ist eine philosophiearme Medizin. Zu sehr ist sie auf Effizienz und Zweckrationalität ausgerichtet, als dass sie das philosophische Fragen als relevant ansehen könnte. Eine solche philosophieferne Medizin ist allerdings problematisch. Denn damit läuft sie Gefahr, zu sehr im Zweckrationalen zu verharren, anstatt die grundlegenden Denkmuster, denen die moderne Medizin folgt, vom Ansatz her zu hinterfragen. Und ein grundlegendes Denkmuster der modernen Medizin, das unbedingt hinterfragt gehört, ist die Hochschätzung des Machbaren, die Glorifizierung der Veränderung, die Vorliebe für die absolute Kontrolle und Planbarkeit. Um zu erfassen, wie beherrschend diese Denkrichtung ist, soll in einem ersten Teil ein Blick auf die Konzeption von Medizin in der Antike gerichtet werden, um in einem zweiten Teil das Erfordernis einer Relativierung des Werts des Machbaren für die moderne Medizin herauszuarbeiten.

Schlüsselwörter: Tugend des Maßes, hippokratischer Eid, Machbarkeit, Gelassenheit, Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik

Abstract

Modern medicine has become a medicine without philosophical reflexion. It is too much oriented towards purposive rationality and efficiency and neglects basic considerations. Such a non reflective medicine seems to be very problematic, because it has lost the capability to get to the bottom of its core identity and to question problematic developements of modern medicine. Such a problematic modern understanding of medicine is its esteem of feasibility, its glorification of modulation, its proclivity for planing and control. In order to question these deeply entrenched ideologies of modern medicine it can be helpful to first look at history of medicine. This look back can help us to realize why the feasibility fantasies of modern medicine have to be called into question.

Keywords: virtue of moderation, hippocratic oath, feasibility fantasies, releasement, reproductive medicine, prenatal diagnosis


1. Das Maß und das Konzept Medizin in der Antike

Um die modernen Fehlentwicklungen der Medizin schärfer zu sehen, kann es sehr hilfreich sein, zunächst einen kleinen Blick auf die hippokratische Medizin der Antike zu werfen. Medizin in der Antike – das kommt uns heute fremd vor, aber bei näherer Betrachtung wird man rasch erkennen, dass die Grundideen, die in der Antike entwickelt worden sind, in vielerlei Hinsicht nach wie vor Relevanz haben. Diese Relevanz können wir nur erkennen, wenn wir die Medizin der Antike nicht nur im Hinblick auf Fakten und Daten betrachten, sondern wenn wir versuchen, sie im Hinblick auf ihr Grundverständnis von Mensch und Welt zu verstehen. Mit Beginn der hippokratischen Medizin im 4. Jahrhundert vor Christus gewann nach einer vorausgegangenen magisch-rituellen Medizin der empirische Aspekt zunehmend an Bedeutung. Der Erfahrung und der unmittelbaren Beobachtung des Kranken wurde ein großer Stellenwert beigemessen. Wenn die hippokratische Medizin versuchte, die Krankheiten auf dem Boden des Erfahrbaren zu erklären, griff sie auf eine Theorie zurück, die die vorsokratischen Philosophen, allen voran Empedokles, bereits vorgedacht hatten, nämlich die Theorie, dass die Welt aus den vier Elementen (Erde, Feuer, Wasser, Luft) bestehe. Aus dieser Elementenlehre heraus entwickelte die hippokratische Schule ein differenziertes Konzept, mit dem alle Krankheiten empirisch erklärbar gemacht werden sollten, nämlich die Viersäftelehre, auch Humoralpathologie genannt.

Die Viersäftelehre lässt sich nur begreifen, wenn man sich eine zentrale Grundannahme dieser Lehre vergegenwärtigt, nämlich die Vorstellung, dass der Mensch als Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos ist. Die Wohlgeordnetheit des Makrokosmos findet ihren Niederschlag im Mikrokosmos Mensch. So ist es auch zu verstehen, dass den vier Urelementen, aus denen der Makrokosmos besteht, die vier körpereigenen Säfte (gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim) entsprechen, die den Mikrokosmos Mensch ausmachen. Die Säfte haben ihren Ursprung im Körper, jeder Saft in einem anderen Organ. Das Blut entspringt im Herzen, die gelbe Galle in der Leber, die schwarze Galle in der Milz und der Schleim im Gehirn. Jedem Saft wird eine Kombination aus den Grundqualitäten (trocken, feucht, warm, kalt) zugeschrieben. So wie der Kosmos in seinem harmonischen Gleichgewicht Bestand hat, lässt sich vom Menschen dann von Gesundheit sprechen, wenn dieses harmonische Gleichgewicht – hier: der Säfte – erhalten bleibt. Gleichgewicht bedeutet, dass die Mischung der körpereigenen Säfte stimmen musste, aber es bedeutete zugleich, dass der Mikrokosmos Mensch im Gleichgewicht mit seiner Umgebung stehen musste, um gesund zu sein. Bestand ein solches Gleichgewicht, sprach man von Eukrasie – geriet das Gleichgewicht durcheinander, so lag eine fehlerhafte Mischung vor, die man Dyskrasie nannte.

Die Dyskrasie – als Ursache der Krankheit – konnte sowohl durch äußere als auch durch innere Einflüsse entstehen; in jedem Fall betraf sie den ganzen Menschen und äußerte sich in einer Krankheit, die den ganzen Körper betraf. Man ging davon aus, dass Ausmaß und Form der Dyskrasie in einem engen Zusammenhang mit dem Lebensalter, dem Geschlecht, der konstitutionellen Verfassung und dem Lebenswandel des Patienten standen. Da das Gleichgewicht also von all diesen Gegebenheiten abhing, gab es für die hippokratische Medizin nicht eine spezielle Krankheit, die sich in typischer Weise äußerte. Es gab stattdessen je nach Konstitution und je nachdem, wie der Mensch lebte und in die Natur eingebunden war, ganz unterschiedliche Manifestationsformen von Krankheit. Schon der gesunde Körper ist im Konzept der Humoralpathologie kein einheitliches System; vielmehr hat jeder Mensch seine eigene Konstitution, seine ihm eigene besondere Mischung der Säfte.

Der für viele Epochen wirkmächtige Arzt Galen aus Pergamon (129 – 199/216 n. Chr.), der in Rom tätig war, hat diese Grundidee weiter ausgearbeitet und eine Typologie der Konstitutionen erstellt, die er in ein direktes Verhältnis zur Viersäftelehre brachte. Je nachdem, welcher Saft im jeweiligen gesunden Körper die Überhand hatte, unterschied er zwischen den vier Temperamenten, die bis heute tradiert sind, nämlich dem Sanguiniker, dem Choleriker, dem Melancholiker und dem Phlegmatiker. Daraus wird deutlich, dass Gesundheit für die Antike nicht ein statischer und festzuschreibender Zustand war, sondern ein Zustand, der im Sinne eines Gleichgewichtes der Säfte, die bei jedem Menschen anders gemischt sind, immer wieder individuell hergestellt werden muss. Daher lässt sich folgern, dass es in der Antike auch keine Krankheit als fest umschriebene Entität gab; der Mensch wurde, da sein Gleichgewicht stets von allen inneren und äußeren Faktoren abhing, immer auf seine Weise krank. Aufgrund der vielfältigen Faktoren, die das Gleichgewicht stören können, hat man in der Antike Krankheit als etwas Individuelles und damit Unverwechselbares betrachtet.

Zusammenfassend ergibt sich folgende Einsicht: Krankheit ist für die Medizin der griechischen (Hippokrates) und später auch der römischen Antike (Galen) wie auch für das Mittelalter (z. B. Hildegard von Bingen) nicht das Resultat einer Organschädigung, sondern das Resultat einer gestörten Harmonie des Körpers mit sich selbst sowie mit den äußeren Faktoren seiner Umwelt. Sie ist also am Ende das Ergebnis der eigenen Weise zu leben und der Stellung des Mikrokosmos Mensch im Makrokosmos Welt.

2. Das therapeutische Konzept der Antike

Versteht man Krankheit als Ausdruck eines Ungleichgewichts, das entsteht, weil der Mensch nicht mehr mit sich und seinem Gefüge harmoniert, so ist es folgerichtig, dass die Therapie der Antike auf die Wiederherstellung dieser Harmonie ausgerichtet sein muss. Diese Wiederherstellung erfordert eine starke Berücksichtigung der jeweils spezifischen Lebensweise des Menschen sowie seines Verhältnisses zur Natur und zum Kosmos. Der Mensch hat nach antiker Vorstellung zwei Naturen: Er ist zum einen allgemeine Natur, d. h., er ist durch Naturgesetze bestimmt; zum anderen hat er zugleich jedoch eine ihm vollkommen eigene Natur, die nicht das Allgemeine repräsentiert, sondern etwas ganz Individuelles ist. Gemäß dieser Vorstellung kann der einzelne Mensch zwar unter Berücksichtigung seiner allgemeinen Natur, aber letzten Endes doch nur in der ihm eigenen Weise gesunden. Der Medizin oblag es, eine Verbindung zwischen diesen beiden Naturen des Menschen herzustellen. Dem liegt die Grundannahme zugrunde, dass die Natur von sich aus nach dieser Harmonie strebt und dem Arzt die Aufgabe zukommt, diesen teleologisch-dynamischen Aspekt der Natur (als physis) zu unterstützen. Bei allen therapeutischen Bemühungen bestand die Grundauffassung der antiken Ärzte darin, dass der Arzt lediglich Diener der Natur sei und dass diese schließlich selbst die Heilung herbeiführe. Dies ist auch in dem aus der Antike stammenden Wahlspruch „Medicus curat, natura sanat“ verankert und wurde bis in die Neuzeit hinein als Überzeugung tradiert.

Medizin ist nach dieser Vorstellung also nicht eine Disziplin, die etwas Neues herstellt, die mit ihrem Machen das Alte überwindet, sondern sie ist sozusagen eine Lenkerin, die auf die Wiedererlangung eines Gleichgewichtszustandes hinsteuert. Dieses Steuern gelingt der Medizin jedoch nicht von außen, sie sitzt gewissermaßen mit auf dem Schiff und kann nicht mehr als zu versuchen, das Schiff zu lenken und in ein Gleichgewicht zu bringen. Da die Medizin das Schiff selbst nicht auswechseln kann, ist sie von ihrem Wesen hier in ihrer Macht begrenzt, sie kann nicht revolutionieren, doch sie kann ordnen und auf den Menschen Einfluss nehmen, um ihn „wieder auf Kurs zu bringen“.1 Der Arzt wurde in der Antike oft mit einem Steuermann verglichen, der das Schiff des Lebens mit Klugheit und Behutsamkeit durch die Widrigkeiten des Lebens hindurchzumanövrieren hat. Dieses Manövrieren vermag der Arzt aber nur bis zu einem bestimmten Punkt – eben nur so lange, als die äußeren Verhältnisse ein solches Lenken noch zulassen. Wird jedoch der Sturm zu stark und das Wasser zu unruhig, hat auch der Steuermann auf diese äußeren Gewalten keinen Einfluss mehr und muss an diesem Punkt seine Grenzen anerkennen.

3. Antike Medizin und das Anerkennen der Grenzen am Ende des Lebens

Dieses Anerkennen-Müssen der Grenzen zeigt sich in der Antike gerade im Umgang mit dem sterbenden Patienten. Das Thema der Behandlung unheilbar kranker Menschen hat in den Schriften des Corpus Hippocraticum breiten Niederschlag gefunden, stellte doch der Umgang mit sterbenden Patienten eine besondere Herausforderung dar.2 Eine berühmte Schrift des Corpus Hippocraticum ist die Abhandlung „Die ärztliche Kunst“, die aller Wahrscheinlichkeit um 400 v. Chr. entstanden ist. In diesem Text lehnt der Autor die Behandlung von Patienten, die von ihrer Krankheit überwältigt sind, ab, weil eine solche Aufgabe nicht zur ärztlichen Tätigkeit gehöre. So gibt er zunächst die folgende Definition der Heilkunst: „(…) die Kranken gänzlich von ihren Leiden befreien, die Heftigkeit der Krankheiten abstumpfen und bewusst keine Behandlung versuchen bei denen, die von den Krankheiten überwältigt sind“.3 Die Behandlung der nicht kurierbaren Patienten gehörte gemäß den Hippokratischen Schriften deswegen nicht zur Aufgabe des Arztes, weil die Verrichtungen des Arztes in diesem Fall sicher frustran wären. Dies lässt sich an folgendem Hinweis ablesen: „Wenn nun der Mensch an einem Übel leidet, das stärker ist als die Werkzeuge der ärztlichen Kunst, so darf man auch nicht erwarten, dass es von der ärztlichen Kunst überwunden werden könnte [...]“.4 Und seine Schlussfolgerung lautet: „Dass also die ärztliche Kunst mit Recht das ausreichende geistige Rüstzeug für eine erfolgreiche Behandlung in sich enthält und mit Recht die nicht heilbaren Krankheiten nicht behandelt, bei denen aber, die sie behandelt, die Behandlung fehlerfrei durchführt, das zeigen meine jetzt vorgetragenen Argumente […].“5 Der Verfasser versucht, die Existenz der Heilkunst als techne (Fertigkeit) mithilfe ihrer Erfolge nachzuweisen. Der Erfolg also ist es, der aufzeigt, dass tatsächlich eine Heilkunst vorliegt. In Analogie zu den anderen Künsten begrenzt der Verfasser hier den Aufgabenbereich der Heilkunst auf das, was sie durch die ihr zur Verfügung stehenden Mittel leisten kann.6 Ein unheilbar Kranker steht somit für den Verfasser dieser Schrift außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Heilkunst, da die Fertigkeit des Arztes hier nicht zum Zuge kommen könne: Wo man nichts ausrichten kann, soll man es nicht erst versuchen, weil man ansonsten mehr schadet als nützt.

Noch expliziter werden die damalige Vorstellung einer guten Medizin und die Ausrichtung am Gebot der Verhältnismäßigkeit und damit an der Kardinaltugend des Maßes im Hippokratischen Eid zum Ausdruck gebracht. So wird dort im § 6 das Verbot des Arztes formuliert, einen Steinschnitt (chirurgische Entfernung von Blasensteinen) vorzunehmen. Dass ein solches Verbot im Eid verankert ist, erscheint zunächst verwunderlich, aber vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass der Arzt nicht alles machen kann, sondern sich als Diener der Natur verstand, der nur innerhalb dessen erfolgreich sein konnte, was die Natur ihm überhaupt ermöglichte, wird dieser Passus des Eides umso verständlicher. So muss bedacht werden, dass ein Einschnitt in die Blase unter den damaligen Verhältnissen als riskanter Eingriff galt, der das Leben des Patienten gefährdete oder eine lebenslange Inkontinenz und Infertilität zur Folge haben konnte. So lässt sich in den hippokratischen Schriften der Hinweis finden: „Eine durchtrennte Harnblase wächst nicht zusammen.“ Insofern ist das Verbot des Steinschnitts ein weiterer Hinweis darauf, dass der Arzt sich gerade im Selbstverständnis der hippokratischen Medizin als Diener der Heilkunst verstand, und zu diesem Dienen gehörte die Anerkennung der eigenen Grenzen. Angesichts der weitgehenden Machtlosigkeit des damaligen Arztes verweist dieses Verbot auf die Tugend des Sich-Bescheidens und letztlich auf das zentrale Prinzip des nil nocere, das Prinzip, niemals zu schaden.7 Auch dieser Passus kann somit als eine klugheitsorientierte Empfehlung angesehen werden, die der Kardinaltugend des Maßes sehr nahestand. Der Arzt hatte bei aller Bescheidenheit der therapeutischen Möglichkeiten eine große Verfügungsmacht über den kranken Menschen, und der gesamte Eid galt der Versicherung, dass diese Macht nicht missbraucht werden würde.

Ein weiterer wichtiger Satz des Hippokratischen Eides lautet: „Die diätetischen Maßnahmen werde ich treffen zum Nutzen der Leidenden nach meinem Vermögen und Urteil, Schädigung und Unrecht aber von ihnen abwehren.“ Sehr interessant ist in diesem Satz der Passus „nach meinem Urteil“. Man könnte sogar geneigt sein, anzunehmen, dass der Hippokratische Eid damit eine ärztlich-paternalistische Grundfigur enthielte, weil dem Arzt zugebilligt würde, nach seinem und nicht nach des Patienten Urteil zu handeln. Doch eine solche Interpretation ist umstritten, da es zahlreiche Quellen gibt, die verdeutlichen, dass auch und gerade in der griechischen Antike Ärzte durchaus die Perspektive des Kranken in ihrem Heilungsplan mit berücksichtigt haben.8 Der Passus „nach meinem Vermögen“ muss vielmehr so gedeutet werden, dass gerade im Selbstverständnis der hippokratischen Medizin der Arzt sich als Diener der Heilkunst verstand und sich seiner Grenzen bewusst war. Das eigene Urteil richtet sich also auf die ärztliche Klugheit, die angesichts der weitgehenden Machtlosigkeit des damaligen Arztes die Tugend des „Sich-Bescheidens“ erforderte.9

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass sich in der Medizin der Antike alles ärztliche Handeln am Gebot der Verhältnismäßigkeit ausrichten musste. Der hippokratischen Medizin, die zeitgleich mit der antiken Tugendethik etabliert wurde, ging es darum, im Umgang mit kranken Menschen das gesunde Maß zu finden und sich bei aller Behandlung stets der Grenzen des Machbaren bewusst zu bleiben. Wie im Hippokratischen Eid ersichtlich, wurde dem Arzt nahegelegt, im Zweifelsfall eher auf eine Behandlung zu verzichten anstatt sich zu überschätzen und dabei dem Patienten großen Schaden zuzufügen. Verbunden mit dem Gebot des Maßes war die stete Rückerinnerung daran, dass jeder Patient einzigartig war und nur auf seine Weise durch die spezifische Unterstützung sowohl seiner Physis als auch seiner Umgebung gesunden konnte.

4. Ablösung der Ganzheitlichkeit durch das Maschinenparadigma der Neuzeit

Seit der Neuzeit wurde diese Grundüberzeugung Zug um Zug auf den Kopf gestellt. Dies hat vor allem mit dem Erstarken der Naturwissenschaften in der Neuzeit zu tun, die dafür gesorgt hat, dass das Konzept der Humoralpathologie und damit die Vorstellung, dass es bei der Gesundheit des Menschen um die Wiederherstellung eines Gleichgewichts ginge, zunehmend infrage gestellt wurde. Neben der im 16. Jahrhundert aufkommenden empirischen Anatomie (Andreas Vesal) bildet die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey einen bedeutenden Meilenstein auf diesem Weg. Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs ist ein „frühes Symptom“ für eine Neuorientierung der Medizin in der frühen Neuzeit. Man löste sich zunehmend vom humoralpathologischen Modell und ersetzte dieses immer mehr durch ein Maschinenmodell. Gerade Harvey hat dieses Denken mit vorbereitet, weil sich mit der Entdeckung des Kreislaufs der Gedanke aufdrängte, der Körper funktioniere wie eine hydraulische Pumpe. Der Mensch wurde immer mehr als eine komplexe Maschine begriffen, die nach den Gesetzen der Physik (und Chemie) funktionierte. Eine solche Sichtweise ist keine Erfindung der Neuzeit. So hatten bereits in der Antike Leukipp und Demokrit einen Atomismus vertreten, wonach sowohl das Universum als auch das Leben auf der Erde aus Atomen bestehe, also kleinsten stofflichen Teilchen. Dass dieses Denken nun wiederbelebt wurde, hing zum einen mit den neuen Entdeckungen und zum anderen mit den vorherrschenden Verfahren des Messens und Wiegens zusammen.

Es hing aber vor allem mit einer geistesgeschichtlichen Revolution zusammen, die verbunden ist mit der Philosophie von René Descartes (1596 – 1650). Descartes war es nämlich, der – nicht zuletzt angeregt durch die Entdeckungen Harveys – die Grundauffassung vertrat, der Mensch bestünde aus Geist und Materie, die vollkommen losgelöst voneinander existieren. Der Körper des Menschen ist für ihn nichts weiter als ein mechanisches Modell, das wie ein Uhrwerk oder ein Automat funktioniert, nur dass der Mensch unabhängig davon eine Seele, einen Geist habe, der in der Maschine Mensch hause. Eine Fortsetzung und Überbietung dieses mechanistischen und dualistischen Denkens lieferte der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751), dessen Buch „L’homme machine“ bis in unsere Tage große Berühmtheit erlangen sollte.

Die mechanistische Konzeption des Menschen hatte erhebliche Auswirkungen auf das Krankheitsverständnis innerhalb der Medizin. So gingen namhafte Medizinprofessoren des 17. Jahrhunderts wie der Hallenser Friedrich Hoffmann (1660 – 1742) und der Niederländer Herman Boerhaave (1668 – 1738) davon aus, dass Krankheiten durch eine gestörte Mechanik des Körpers hervorgerufen werden. Ein Beispiel für diese mechanistische Erklärung ist die These von Boerhaave, dass das Entzündungsfieber durch mechanische Reibung der roten Blutbestandteile entstehe. Und Friedrich Hoffmann verfasste eine Theorie der Hydraulik, nach der sämtliche Körpervorgänge allein durch die Bewegung der Körperflüssigkeiten und durch die Veränderungen des Gefäßtonus erklärbar sein sollen. Die Vorstellung vom Menschen als einer technischen Erscheinungsform innerhalb eines mechanisierten Weltbildes führte zu der Annahme, dass das Entstehen von Krankheiten nicht über verschiedene Faktoren und unter Einbeziehung von Umwelt und Psyche zu erklären sei, sondern dass es sich dabei um Resultate unabänderlicher Naturgesetze handle, die den Körper determinieren. Sämtliche Lebensvorgänge sind innerhalb dieses mechanistischen Erklärungsmodells grundsätzlich auf messbare und mathematisch berechenbare Einheiten zurückzuführen. Für den Gedanken einer individuellen Reaktionsweise auf die Einwirkungen auf den Körper – wie sie die Humoralpathologie kannte – ist in diesem Konzept kein Platz mehr.

Bedingt durch das Weltbild der Renaissance wurde die Medizin der Neuzeit immer mehr von mechanistischen Erklärungsmustern geprägt. Dieses mechanistische Modell hat auf viele Ärzte eine starke Anziehungskraft ausgeübt; im Grunde besteht sie bis heute. Durchbrochen wurde dieser mechanistische Zugang durch eine eher ganzheitliche Perspektive der verschiedenen vitalistischen Konzepte, die wiederum eine Verbindung zur tradierten Humoralpathologie hatten. Diese tradierten Konzepte sollten spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Schulmedizin nahezu vollständig aufgegeben werden.

Ein weiterer radikaler Umbruch im Denken lässt sich vor allem bei Rudolf Virchow (1821 – 1902) nachweisen. Er ist einer der wegweisenden Revolutionäre der Medizin, indem er sagt, dass die Lehre der Humoralpathologie eine „Pathologie der Bibel und des Volkes“,10 also eine Pathologie, die vollkommen überholt und vor allem unwissenschaftlich sei. Virchow brachte die aus seiner Sicht wissenschaftliche Ergründung der Krankheit mit der These auf den Punkt: „Leben und Tod liegen in der Zelle“.11 Leben und Tod lägen also nicht mehr im Gleichgewicht der Säfte und auch nicht in der Lebenskraft oder der Seele, sondern allein in der Zelle. Für Virchow ist Leben nichts, was irgendwie mystisch beginnt, es bedeutet für ihn nichts anderes als das Folgen des einen Lebens aus einem anderen. So prägte er den berühmt gewordenen Satz „Jede Zelle entsteht aus einer Zelle“. Er antizipierte damit die Vorstellung einer Erbfolge von Leben und verortete nicht nur den Kern des Lebens, sondern auch die Ursache aller Krankheiten in der Zelle. Hatte das mechanistische Paradigma eher das Organ in den Mittelpunkt gerückt, so ging Virchow nun eine Stufe tiefer und machte die Krankheit zum Produkt von Zellstörungen. So heißt es etwa an einer Stelle, die Zelle sei „die Person des Lebens, im Gesunden sowohl auch im Kranken“. Damit war der Begriff der Zellularpathologie geboren, und diese Grundtheorie sollte die weitere medizinische Wissenschaft weltweit prägen.

Mit seiner Begründung eines lokalistischen Verständnisses von Krankheit hat Virchow die Denkbewegungen des 20. Jahrhunderts vorbereitet – ohne diesen großen Paradigmenwechsel wäre auch die Molekularbiologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht denkbar gewesen. Virchow ging strikt davon aus – und auch das ist bis heute die Grundüberzeugung der Naturwissenschaften –, dass die Phänomene in der Zelle restlos auf physikalisch-chemische Vorgänge zurückgeführt werden können. Mit der Hinwendung zum lokalistischen Prinzip wurde es prinzipiell möglich, die spezifischen Ursachen von Krankheiten ausfindig zu machen. Insofern ist die Hinwendung zur Zelle zunächst ein sichtbarer Fortschritt der Medizin hin zur erstmaligen Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten von Infektionen gewesen, bis hin zur Ära der Antibiotika ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts.

All diese Fortschritte haben dem Ansehen der Medizin sehr genutzt, weil deutlich wurde, dass man mithilfe der Forschung zahlreiche Menschenleben retten konnte. Gleichzeitig ist im Rausch dieser Erfolge das alte Verständnis von Krankheit als einer Reaktion des gesamten Organismus auf eine äußere wie innere Ursache zunächst einmal weitgehend vergessen worden. Dieses Verständnis trat zunächst mit der Anthropologischen Medizin eines Viktor von Weizsäcker (1886 – 1957) und auch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder stärker ins Bewusstsein. Und es ist heute wichtiger den je, denn die moderne Medizin ist so sehr im Credo des Mechanizismus und der damit verbundenen Machbarkeit verfangen, dass sie sich dabei von ihrem Auftrag, dem kranken Menschen zu dienen, zuweilen zu entfernen droht.

5. Naturwissenschaftliche Medizin als einseitige Antwort auf den Menschen

Die Planbarkeit, die Berechenbarkeit, die Herstellung von Sicherheit, die Prozessualisierung sind die positiven Werte der Naturwissenschaft. Die Medizin als Naturwissenschaft setzt voraus, dass das, was für das Labor gut ist, auch für den Menschen, für sein Selbstverständnis gut sein muss – und genau das ist der schwerwiegende Fehler und Trugschluss, dem die moderne Medizin aufsitzt. Sie verkennt nämlich grundlegend, dass das Nichtwissen, die Nichtvorhersagbarkeit des Lebensverlaufs für den Menschen kein Mangel, sondern ein Segen ist, weil der Mensch nur angesichts dieser inhärenten Ungewissheit seiner Zukunft tatsächlich Pläne schmieden und sich in seinem Planen als freier Mensch fühlen kann. Die ordnende, planende, rechnende Medizin, die diese Ordnungen zum Wert an sich erklärt, möchte eigentlich nicht weniger, als das Leben des Menschen zu reduzieren auf einen funktionierenden Mechanismus, der sich allein nach vorgegebenen Gesetzen zu bewegen hat. Eine Medizin, die keine Grenze, keine Unverfügbarkeit zulassen und alles planbar machen möchte, hat als Ideal nicht das menschliche Leben im Blick, sondern die perfekt einstellbare Maschine, ja sie geht eigentlich stillschweigend davon aus, dass der Mensch nicht mehr ist als eine komplexe Maschine, und je mehr man diese Maschine von vornherein programmieren kann, desto mehr wird der Wert dieser Maschine steigen, so das Credo. Und genau hier liegt der grundlegende Irrtum.

Das Lebendige ist dadurch definiert, dass es sich der Vorhersagbarkeit entzieht. Dadurch lässt sich die Bestrebung einer Etablierung von Planbarkeit verstehen als implizite Bestrebung zum Entzug des Lebendigen. Dass aber nun mit einem solchen Entzug des Lebendigen das Leben selbst gerade nicht aufgewertet, sondern radikal entwertet und in die Belanglosigkeit gedrängt wird, wird kaum bemerkt. Was angepeilt wird, ist die Reduzierung des Lebens auf einen kontrollierbaren Prozess, und man verkennt, dass allein dieses Ziel Ausdruck eines technisch-ökonomischen Denkens ist, das dem Menschen nicht gerecht wird, weil es eine unüberwindbare Kluft gibt zwischen einem Produkt als Resultat des Herstellens und dem Leben als Ausdruck eines Lebensvollzugs.

6. Der machbare Mensch als neues Credo der Medizin

Die zwischenzeitig möglich gewordene Entwicklung von Klonierungstechniken, die Erfindung der Pränataldiagnostik, das genetische Testen von Embryonen schon vor der Einnistung, all dies war in seiner Gesamtheit nur deswegen möglich, weil die dahinter stehende Medizin implizit davon ausgeht, dass der Mensch nicht in die Welt „geworfen“ ist, sondern ein machbares Produkt. Es kann hier nicht darum gehen, diese technischen Errungenschaften pauschal zu kritisieren. Manche von ihnen haben auch etwas Segensreiches an sich. Die Problematik entsteht erst dort, wo der Mensch angesichts der unbestreitbaren Erfolge zu der Annahme verleitet wird, dass alles machbar sein sollte und dass man sich daher mit nichts mehr abzufinden bzw. anzufreunden hätte. Der heutige Mensch verfällt in seinem Streben nach einer grundlegenden Emanzipation von allen Bedingungen des Lebens zuweilen dem Irrglauben, dass er nicht nur die äußeren Bedingungen des Lebens bestimmen, sondern auch seine eigene physische Identität selbst „machen“ und steuern könnte. Durch die Überbetonung der Machbarkeit glaubt sich der heutige Mensch zum eigenen Gestalter all seiner Lebensaspekte zu machen. Er glaubt die Zügel in der Hand zu halten und verliert dabei den Blick dafür, dass die Machbarkeit des eigenen Lebens sich nur auf Marginalien beschränkt, verglichen mit all dem Unverfüg- und Unmachbaren, mit all den Vorbedingungen, in die man hineingeboren wird, und im Vergleich zu all den Widerfahrnissen, denen bestenfalls in „reflektierter Gelöstheit“12 begegnet werden kann.

Angesichts der Nicht-Machbarkeit einer Welt, die schon vor der eigenen Existenz bestand, erscheint der Anspruch des heutigen Menschen, sich zum Macher nicht nur seiner äußeren Lebensbedingungen, sondern auch seiner selbst zu erklären, als irrationale Selbstüberschätzung.13 In der schwerwiegenden Folge dieser Selbstüberschätzung beraubt er sich der Chance, ein gutes Verhältnis zum Vorgegebenen und zu dem, was einem widerfährt, zu entwickeln. Damit nimmt der Mensch sich auch die Chance, dem Gegebensein der Welt und dem Geworfensein seiner eigenen Existenz etwas Positives, ja vielleicht Sinnstiftendes abzugewinnen.14 Die problematische Seite der Vorstellung des Menschen als das Machbare liegt also in der Totalisierung des Machbarkeitsdenkens und nicht in dem legitimen Bestreben der sinnvollen Emanzipierung.

7. Trügerisches Versprechen der Machbarkeit

Was folgt daraus für das Verhältnis der Medizin zum Maß und zur Grenze? Der problematische Umgang der modernen Medizin mit der Grenze des Machbaren beginnt nicht dort, wo gegen die Krankheit gekämpft wird, sondern erst dort, wo die Medizin suggeriert, dass der moderne Mensch gar keine Grenze, gar kein Schicksal mehr anzunehmen brauche, weil die Medizin ihm, dem modernen Menschen, die absolute Freiheit geben könne – die Freiheit, seinen Körper selbst auszuformen, die Freiheit, seine Nachkommen selbst auszusuchen, die Freiheit, sich nach seinem Belieben zu „optimieren“. Das implizite Versprechen dieser absoluten Freiheiten ist das eigentliche Problem vieler Bereiche der modernen Hochglanzmedizin. Problematisch ist dieses Versprechen nicht zuletzt deswegen, weil es trügerisch ist.

Es ist eben nicht nur Freiheit, die gewährt wird, wenn zum Beispiel die ästhetische Medizin dem Menschen suggeriert, er könne sich seine Körperform selbst aussuchen, denn mit dem selbst Aussuchen-Können ist eine neue Unfreiheit für ihn selbst verknüpft, die Unfreiheit, sich dem Konformitätsdruck der Leistungsgesellschaft zu beugen, und zugleich die Unfreiheit, schon morgen diese selbst gewählte Körperform nochmals auf die Tauglichkeit für die damit verbundenen Ziele überprüfen zu müssen. Wenn die Körperform nicht mehr Schicksal, sondern nur noch Resultat der eigenen Wahl sein soll, wie es viele Bereiche der ästhetischen Medizin versprechen, so ist aus diesem Wählen-Können der eigenen Körperform doch nicht neue Freiheit erwachsen, sondern neue Unfreiheit, weil man dann für dieses Gewählte auch verantwortlich gemacht werden wird und man das Gewählte jeden Tag neu hinterfragen muss, ob es noch „zeitgemäß“ ist. Ab dem Moment, da man das Schicksal des so Seienden ersetzt durch die eigene Wahl, gerät man in eine Spirale des immer wieder neu Wählen-Müssens, in eine Spirale des stetigen Abgleichs. Verlorengegangen ist dann die Unbekümmertheit des eigenen Umgangs mit sich selbst. Freiheitsgewinn ist das nicht unbedingt. Und genau das ist die Fehlentwicklung weiter Teile der modernen Medizin, weil sie Werbung für ihre technischen Möglichkeiten betreibt und damit viele Menschen unter dem Versprechen der Freiheit im Grunde immer weiter in eine Abhängigkeit zur Medizin bringt.

8. Hochglanzmedizin als Hindernis zur Bewältigung der Krankheit

Im Kontext der Medizin gibt es eine Scheu, überhaupt von Grenze zu sprechen. Man zieht es vor, lediglich vom Potential des Machens zu sprechen – man macht Versprechungen. Die Medizin wird gerade dem Patienten, dem alles versprochen wird, dem jede Machbarkeit und jede Garantie gegeben wird, nicht gerecht, weil sie ihn täuscht und falsche Erwartungen weckt. Eine humane Medizin müsste über jede Betonung der Hoffnung hinaus auch das Scheitern ehrlich ansprechen. Fatalerweise aber können es sich die modernen Kliniken als Wirtschaftsunternehmen gar nicht mehr leisten, das Scheitern, die Nichtgarantierbarkeit zu thematisieren, weil sie ansonsten Umsatzeinbußen riskieren. Stattdessen betreibt jede Klinik Marketing und wirbt mit ihren Möglichkeiten; sie wirbt eben nicht mit ihren Grenzen.

Werbung verträgt sich nur schlecht mit dem Maß, mit den Grenzen des Machbaren. Innerhalb eines Unternehmens Krankenhaus, das für sich Werbung betreibt, muss alles möglich, alles machbar sein. Ein gutes Marketing darf keinen Raum für Unsicherheit, ja gar für das etwaige Scheitern lassen. Daher ist es gerade eine solche Atmosphäre der Garantie, die den Patienten am Ende im Stich lässt, weil sie ihn nicht ernst nimmt. Eine humane Medizin müsste zu ihren Grenzen stehen, sie müsste diese Grenzen thematisieren, sie müsste sie als das Natürlichste der Welt zum Ausdruck bringen. Im Angesicht der Nichtplanbarkeit von Krankheit und der Nichtgarantierbarkeit von Heilung dürfte eine humane Medizin keine Scheinsicherheit vorgaukeln. Sie müsste vielmehr darauf abheben, früh genug auch das Scheitern und das sich Anfreunden mit der Notwendigkeit beizubringen.

Was sich in der hippokratischen Medizin im Aphorismus „Medicus curat natura sanat“ noch ausdrückte, ist im heutigen Denken der Medizin kaum mehr präsent. Und doch müsste man sich neu eingestehen, dass die Heilung und der Erfolg von einer seriösen Medizin nicht garantiert werden kann. Hilfe für Menschen, die in Not sind und denen keine Garantie versprochen werden kann, wird insofern auch darin bestehen müssen, dass diesen Menschen geholfen wird, auch das Scheitern als Teil ihres Weges zu betrachten, statt sich – induziert durch die Versprechungen der Dienstleistungsmedizin – dem Scheitern von vornherein komplett zu versperren.

Ein gutes Beispiel für diese gravierende Fehlentwicklung der modernen Medizin ist die Reproduktionsmedizin. Die Reproduktionsmedizin ist in weiten Teilen eine privatwirtschaftlich organisierte Gesundheitsindustrie geworden; als Unternehmen suggeriert sie zunehmend absolute Machbarkeit und Kontrollierbarkeit. Sie macht Reklame mit ihren Möglichkeiten, und damit nährt sie das Bewusstsein, dass man heute gar nicht mehr unfruchtbar bleiben braucht. Im Falle der Unfruchtbarkeit hat man ja die Möglichkeit, so die Marketing-Botschaft, über die Reproduktionsmedizin mehr oder weniger garantiert ein Kind zu bekommen. Wer heute trotzdem unfruchtbar bleibt, hat es einfach nicht oft genug versucht oder etwas falsch gemacht. Dass die ungewollte Kinderlosigkeit – irgendwann – auch als ein Schicksal angenommen werden kann, wird in dieser Atmosphäre des Machens kaum in Erwägung gezogen. Die Grenze, bis wann das Gegebene als das zu Revidierende und ab wann das Gegebene als das zu Akzeptierende zu betrachten ist, ist schwierig zu finden und nicht in feste Kategorien zu gießen. Das Problem der modernen Reproduktionsmedizin besteht aber darin, dass sie so tut, als sei das Gegebene ausschließlich das zu Revidierende. Damit lässt sie die Potentiale verkümmern, die der Mensch durchaus hat, sich auch innerhalb des zunächst schmerzhaft Gegebenen positiv einzufinden. Kinderlose Paare haben eine Chance, mit der Zeit die Kinderlosigkeit zu bewältigen, aber damit sie das tun können, muss von vornherein diese Option des Sich-Anfreunden-Könnens mit thematisiert werden. Eine Hochglanzbroschürenmedizin versäumt dies viel zu oft, weil sie den Begriff des Schicksals weitgehend getilgt hat, nicht nur aus ihren Broschüren, sondern auch aus ihrem Bewusstsein.

Solange der moderne Patient mit der vermeintlichen Machbarkeit geblendet wird, wird er gefangen gehalten in seinem Bestreben, alles zu kontrollieren. Damit aber wird ihm die Freiheit genommen, sich in seiner eigenen Weise auf das einzustellen, was ist. Diese Freiheit des sich Einstellens wird erst dann ganz zur Geltung kommen können, wenn man das Gegebene als ein solches erst einmal akzeptiert und sich nicht vollends den Verheißungen der Machbarkeit hingibt. Dazu anzuleiten, müsste eine neue alte Aufgabe der Medizin sein.

9. Vom Wert der Annahme des Gegebenen

Solange die Medizin das Maß nicht kennt und nur die Möglichkeit der Veränderung preist, solange sie kein Innehalten kennt und nur dem Aktivismus folgt, solange sie keine Besinnung kennt und sich dem „Sedativum der Dynamik“15 hingibt, so lange wird sie ihren Auftrag, den kranken Menschen zu helfen, nicht erfüllen. Eine auf Machbarkeit fixierte Medizin setzt nur auf die zu verändernden äußeren Gegebenheiten des Lebens, sie setzt auf die Korrektur des kranken Körpers, aber sie verkennt, dass die Freiheit des Menschen sich nicht darin erschöpft, die äußeren Einflüsse und körperlichen Manifestationen zu gestalten, sondern die größte Freiheit des Menschen, seine Freiheit besteht doch vielmehr in der Wahl seiner inneren Einstellung zu dem äußerlich Vorgegebenen.16 Der Mensch ist befähigt, über seine Einstellung zur Welt die Welt selbst in seine Hand zu nehmen, indem sie durch die eigene Einstellung anders auf ihn wirkt als die gleiche Welt auf einen Menschen mit einer anderen Einstellung. Wir leben in einer Ära, die von der Überzeugung getragen ist, dass man sich mit nichts abzufinden habe, und so entwirft die moderne Welt ganze Arsenalien der Weltbemächtigung. Das Credo aber, dass die Welt grundsätzlich zu bemächtigen und nicht anzunehmen ist, dieses Credo lähmt die großen Ressourcen, die der Mensch hat, wenn er nicht nur an der äußeren Welt, sondern an seiner inneren Einstellung zur Welt arbeitet. Es wird vollkommen verkannt, dass der Mensch befähigt werden kann, dem Sosein des Seienden auch mit einer Grundhaltung des sich Anfreundens zu begegnen. Das Sich Anfreunden mit dem, was ist, mag die zentrale Ressource sein, auf die jeder kranke Mensch zurückzugreifen erlernen müsste. In dieser Haltung der Annahme wird der Kranke erst befähigt werden, mit der Krankheit zu leben.

Jede Gesellschaft bringt die Medizin hervor, die sie verdient. Der Mensch in unserer modernen Gesellschaft ist ein Mensch, der bei allem Überfluss seiner Lebensumstände innerlich so verarmt ist, dass er auf seine Welt zuweilen zu sehr mit der Haltung des Begehrens reagiert und das Innehalten, die Bescheidung, das Maß tendenziell aus den Augen verliert. Wir wissen aus der antiken Philosophie, dass ohne die Kardinaltugend des Maßes kein Mensch glücklich werden kann, und was dem modernen Menschen am meisten fehlt, ist gerade das Maß im Umgang mit seinem Begehren. Er begehrt, der allererste Anfang sein zu wollen, er begehrt, ein mangelloses Leben führen zu wollen, er begehrt, sich mit nichts abfinden zu müssen. Dieses Begehren ist es, was den modernen Menschen in seiner Anspruchshaltung am Ende unglücklich, angstvoll und gar verzweifelt macht. Er ist Opfer seiner Ansprüche an die Machbarkeit der Welt und übersieht, dass sein Glück tatsächlich bei ihm liegt, aber eben nicht in seiner Hand, sondern in seiner inneren Einstellung. Daher wird Medizin nur dann wirklich ein Dienst am Menschen sein, wenn sie äußerlich das Behandelbare behandelt und zugleich dem Patienten dabei hilft, sich vielleicht doch anzufreunden mit dem, was nicht zu ändern ist. Denn nicht das Machen, das Herstellen, das Produzieren von Gesundheit ist die letzte Aufgabe der Medizin, sondern letzten Endes doch – in radikaler Abkehr von der Antike – das Versprechen, da zu sein, wenn nichts mehr zu machen ist, weil dann, wenn scheinbar nichts mehr zu machen ist, doch noch das Eigentliche gemacht werden kann, nämlich das Füllen der restlichen Lebenszeit mit einer lebensbejahenden Grundhaltung, die der Arzt gerade heute zu schenken befähigt sein sollte.

Referenzen

  1. vgl. Schipperges H., Paracelsus, in: Engelhardt D. von, Hartmann F. (Hrsg.), Klassiker der Medizin, Beck, München 1991, S. 95-112 
  2. siehe hierzu näher Benzenhöfer U., Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, Beck, München 1999 
  3. Hippokrates, Ausgewählte Schriften, übersetzt und herausgegeben von Diller H., Reclam, Stuttgart 1994, S. 229 
  4. Hippokrates, siehe Ref. 3, S. 234 
  5. Hippokrates, siehe Ref. 3, S. 240 
  6. vgl. Bergdolt K., Medizin und Gewissen, Beck, München 2004 
  7. Wilmanns J., Ethische Normen im Arzt-Patient-Verhältnis, in: Knoepffler N., Haniel A. (Hrsg.), Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle, Hirzel, Stuttgart 2000, S. 203-220 
  8. ein indirekter Hinweis ist in Platons Ärztetypologie zu finden, siehe Maio G., Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin – Ein Lehrbuch, Schattauer, Stuttgart 2011 
  9. Wilmanns J., siehe Ref. 7 
  10. zit. nach Schipperges H., Heilkunde als Gesundheitslehre. Der geisteswissenschaftliche Hintergrund, VFM, Münster 1993, S. 73 
  11. Schipperges H., siehe Ref. 10 
  12. Kamlah W., Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, BI Wissenschaftsverlag, Mannheim 1973, S. 159 
  13. Marquard O., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Reclam, Stuttgart 1986; Maio G., siehe Ref. 8 
  14. vgl. Maio G., Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebensein des Lebens und medizinisch-technischer Gestaltbarkeit, Herder, Freiburg 2011 
  15. zit. in Küpper Joachim, Mittelalterlich kosmische Ordnung und rinascimentales Bewusstsein von Kontingenz, in: Graevenitz G. von, Marquard O. (Hrsg.), Kontingenz, Fink, München 1998, S. 173-223, hier S. 223 
  16. Maio G., siehe Ref. 8

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M. A.
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 26, D-79104 Freiburg
maio(at)ethik.uni-freiburg.de

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