Wandel des studentischen Urteils in klinisch-ethischen Entscheidungen

Imago Hominis (2011); 18(4): 317-329
Martin W. Schnell, Thorsten Langer, Maren Bongartz, Ole Jung

Zusammenfassung

Entscheidungen sind Bestandteil des ärztlichen Handelns. Das Treffen von Entscheidungen in ihrem ethischen Bezugsrahmen muss erlernt werden. Diese Studie untersucht, wie sich das studentische Urteil in klinisch-ethischen Entscheidungen im Laufe des Medizinstudiums entwickelt. Innerhalb einer Befragung schildert eine Fallvignette eine Entscheidungssituation im Bereich der Pädiatrie; der Erhebungsbogen erfragt das studentische Urteil zu Entscheidungsaspekten der Fallgeschichte. Die Auswertung der Fragen erfolgte deskriptiv, mit qualitativen und quantitativen Methoden.

Schlüsselwörter: Medizinstudierende, medizinische Ausbildung, Entscheidung, Medizin-ethik, Therapiebegrenzung 

Abstract

Physicians are confronted with clinical decisions in their daily routine. Decision making regarding its ethical dimensions must be learned. This study investigated the development of student’s judgment concerning ethical decisions in the course of their academic studies. Inside a survey an expert-based vignette describes a situation of decision-making in a pediatric clinical case. The questionnaire asks for the student’s judgment upon aspects of decision-making in the vignette.

Keywords: medical students, medical education, medical ethics, decision-making, withholding treatment


1. Einleitung

1.1 Klinisch-ethische Entscheidungen

Ärztliches Handeln ist immer auch Entscheidungshandeln. Entscheidungen stehen an, wenn Sachlagen nicht eindeutig sind, da es Alternativen gibt. Wenn nicht alle Alternativen zugleich oder problemlos nacheinander realisiert werden können, muss eine Entscheidung her. Die Entscheidung gibt einer Alternative den Vorzug. Entscheidungen können kritisch befragt werden und sind dann vom Entscheidungsträger ethisch zu verantworten. Entscheidungen können fraglos sein, aber auch sehr konfliktreich.

Die Sachlage stellt sich dem Arzt dramatisch dar, wenn von ihm Entscheidungen für und über nichteinwilligungsfähige Patienten, möglicherweise unter Zeitdruck, erwartet werden.1 In diesem Fall ist der maßgebliche Wille des Patienten nicht einfach offenbar, sondern aus Patientenverfügungen oder als mutmaßlicher Wille zu ermitteln. Entscheidungen benötigen Informationen. Entsprechende Informationen müssen interpretiert, und die Interpretationen müssen behauptet werden. Kurz: Da eine sich selbst erklärende Sachlage, die völlig evident und durch alle möglichen Informationen belegt ist und viel Zeit zur Überlegung lässt, nicht immer oder nur selten angetroffen werden kann, muss die anstehende Entscheidung aktiv und verantwortlich getroffen werden. Es besteht dann die Anforderung zu handeln und zwar oft aufgrund unzureichender Gründe.

In diesem Sinne bildet die Annahme des Konzepts der gemeinsamen Entscheidungsfindung („shared-decision-making“), dass es einen Punkt gibt, an dem „alles für die Entscheidung Relevante“ Arzt und Patient zur Verfügung steht, einen Grenzfall.2

Die mit einer Entscheidung verbundene Verantwortung zu übernehmen, ist Teil des ärztlichen Handelns. Diese Verantwortung ist eine ernste Angelegenheit, da der Akt der Entscheidung in der Medizin (ähnlich dem Akt der Entscheidung im Juristischen) einen Einschnitt setzt: Wir machen es (zunächst) so und nicht anders! Mit der Entscheidung wird die allgemeine Ebene des allgemeinen Wissens verlassen in Richtung auf die Singularität eines Patienten.3

1.2 Urteil und Entscheidung in ethischer Sicht

Das in einer Beurteilung enthaltene ethische Urteil gibt Auskunft darüber, ob eine Entscheidung in ethischer Hinsicht akzeptabel ist oder (eher) nicht. Das Urteil ist wiederum als Maßstab akzeptabel, wenn es sich auf eine allgemeine Ethik bezieht.

Die Literatur, die das Urteilsvermögen und dessen Umfeld zum Gegenstand hat, bezieht sich in dieser Frage mehrheitlich und alternativ auf zwei Ethiken: die Tugendethik bzw. die Prinzipienethik.4

Der tugendethische Ansatz betrachtet Entwicklung und Ausbau einer handlungsleitenden Einstellung, die in konkreten Situationen das Angemessene zu tun ermöglicht. Der Tugendhafte wird dem Kontext, auf den er handelnd einwirkt, gerecht.5 Der prinzipienethische Ansatz geht davon aus, dass die moralische Entwicklung einer Person diverse Stufen (i. d. R. im Ausgang von L. Kohlberg) durchläuft und dabei von der Ausrichtung auf situative Ansprüche auf eine Orientierung an universellen Normen, die für jedermann gelten, abzielt.6

Ein Urteil, das sich auf den tugendethischen Ansatz bezieht, fragt danach, ob eine Entscheidung einem Individuum gerecht geworden ist. Das Urteil, das dem prinzipienethischen Ansatz folgt, fragt hingegen, ob eine Entscheidung universelle Normen beachtet habe.

1.3 Die Einheit von Tugend- und Prinzipienethik

Im Hinblick auf die Ziele von Ausbildung und Unterricht in der Humanmedizin besteht in der Moralpsychologie die Meinung, dass Gehalte aus beiden Ansätzen, dem tugend- und dem prinzipienethischen Ansatz, für Mediziner relevant sind.7 Es ist somit sinnvoll und wünschenswert, wenn Ärzte gleichermaßen tugend- und prinzipienethisch handeln. Sie sollen fürsorglich auf die Individualität ihres Patienten eingehen und zugleich allgemein geltende Regeln und Normen beachten, so dass ein Patient stets als Einzelperson und als Bürger und Mensch behandelt und geachtet wird.

Dieses Ziel wird als Ergebnis einer fortschreitenden Entwicklung der ethischen Orientierung des werdenden Mediziners angesehen. Fortschritt im Sinne der Tugendethik bedeutet, dass der Handelnde auf eine Situation und einen konkreten Menschen immer besser einzugehen vermag. Fortschritt im Sinne des prinzipienethischen Ansatzes bedeutet hingegen, dass der richtig Handelnde die einmal erreichte Orientierung an universellen Normen beibehält und in allen kommenden moralisch relevanten Situationen zur Geltung kommen lässt.

1.4 Die Evaluation der Entwicklung von Tugenden und Prinzipienorientierung: ein Dilemma 

Die Lehrevaluationsforschung fragt danach, ob angehende Ärzte während des Medizinstudiums diese wünschenswerte Verkopplung von tugend- und prinzipienethischer Orientierung ausbilden und fortentwickeln. Der somit angestrebten Überprüfung der Effektivität der Lehre stehen allerdings methodische Schwierigkeiten gegenüber, die die Frage betreffen, wie Ausbildung und Entwicklung von Tugenden und Prinzipienorientierung nachgeprüft und ggf. gemessen werden können.

Dem tugendethischen Ansatz geht es um eine Förderung der ärztlichen Fürsorge und anderer Haltungen. Der evaluative Nachteil dieses Ansatzes liegt darin, dass Haltung und Charakter „schwer objektiv überprüft werden können.“8 Dem prinzipienethischen Ansatz geht es hingegen um eine Förderung des kognitiven Vermögens von Ärzten. Der Nachteil dieses Konzepts ist seine „einseitige Berücksichtigung unpersönlicher kognitiver Fähigkeiten.“9 Eine gleichzeitige Entwicklung von Tugenden und Prinzipienorientierung gilt als wünschenswert, die Messung einer solchen Entwicklung befindet sich jedoch in einem Dilemma!

1.5 Die Fragestellung

Das Medizinstudium soll Studierende darauf vorbereiten, klinische Entscheidungen fällen, begründen und verantworten zu können.10 Die Approbationsordnung sieht daher vor, dass die ärztliche Ausbildung wissenschaftliche Grundlagen, praktische Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln soll, so dass der Studierende lernt, Gesundheitsversorgung auch im einzelnen Krankheitsfall durchführen zu können. Im Studium üben die Studierenden, simulierte Entscheidungen an Fallbeispielen und im Patientenkontakt zu treffen und kritisch zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die allgemeine Frage, welche Faktoren im Verlauf des Studiums auf das Urteilsverhalten der Studierenden einen nachweisbaren Einfluss haben. Sind es ethische, technische, naturwissenschaftliche oder noch andere?
Mit der Frage nach der Entwicklung des studentischen Urteils in klinisch-ethischen Entscheidungen befasst sich die vorliegende vergleichende Vignettenstudie. Die Studie arbeitet mit folgender Zuordnung: In einer Vignette geht es um eine klinisch-ethische Entscheidung, die von den Figuren innerhalb der Vignette getroffen wird. Die damit entstandene Situation wird wiederum den Probanden vorgelegt, um deren Urteil einzuholen.

Entwicklung zu thematisieren heißt: die Gestalt des Urteils in Entscheidungssituationen im Verlaufe der Zeit des Studiums zu beschreiben. Dabei wird von uns die Frage, ob das studentische Urteil in der Entwicklung einen Fortschritt, einen Rückschritt oder eine andere Richtung eingeschlagen hat, ausgeklammert zugunsten einer qualitativen Beschreibung, weil die vergleichende Vignettenstudie in der Frage der Entwicklung kein normatives Stufenmodell zur Bemessung von Fort- oder Rückschrittlichkeit zugrunde legt.

Um dem im Hinblick auf eine Evaluation bestehenden Dilemma von Tugend- und Prinzipienethik zu entgehen, verzichtet die vorliegende Studie auf wichtige, aber umstrittene Entwicklungsmodelle und verfährt deskriptiv. Mit diesem Vorgehen ist die Hoffnung verbunden, Erkenntnisse über den ethischen Entwicklungsprozess von Medizinstudierenden zu gewinnen, die in der Ausbildung wiederum genutzt werden können. Zusammenfassend wird in der vorliegenden Studie untersucht, wie sich das klinisch-ethische Urteil Medizinstudierender im Laufe des Studiums in Bezug auf eine ethisch konfliktreiche Fallgeschichte verändert und welche Rückschlüsse dadurch auf etwaige Entwicklungsprozesse bei den Studierenden gezogen werden können.

2. Methode

Die vorliegende Studie verwendet ein hypothesen-generierendes Design, wobei qualitative und quantitative Verfahren zum Einsatz kommen.

2.1 Die Probanden

Die in die Studie eingeschlossenen Probanden rekrutieren sich aus einem Jahrgang (n= 84) Studierender im Modellstudiengang Humanmedizin der Privaten Universität Witten/Herdecke. Das Studium an der Universität Witten/Herdecke ist problem- und patientenorientiert. Die Studierenden haben, wie in Modellstudiengängen der Humanmedizin in Deutschland mittlerweile allgemein üblich, vom ersten Semester an Patientenkontakt. Sie durchlaufen über neun Semester Lehre im Bereich „Kommunikation in der Medizin“, die zusätzlich in Form eines integrierten Curriculums mit dem Querschnittsfach „Ethik“ verbunden ist und die auch auf die Inhalte in der (Vor)Klinik Bezug nimmt.11 Das Ethikcurriculum ist problemorientiert aufgebaut. Von einer Fallgeschichte ausgehend, werden die ethisch-klinische Situation und die zu ihrer Gewichtung relevanten Werte und Normen herausgestellt. Die Studierenden sollen in die Lage versetzt werden, durch ihr Urteilsvermögen eine konkrete Situation und relevante Normen/Werte aufeinander beziehen zu können. Im Laufe des Studiums nimmt die Komplexität der zu beurteilenden klinisch-ethischen Situationen zu.

Die als Probanden zu gewinnenden Studierenden wurden in ihrem 1. Fachsemester zu einer Informationsveranstaltung eingeladen und um Mitarbeit gebeten. Dabei sind Ziele und Methoden der Studie erläutert, Datenschutz und die Achtung forschungsethischer Grundsätze zugesichert worden.12 Den Studierenden wird ein und dieselbe Fallvignette mit identischem Fragebogen dreimal während des Studiums vorgelegt. Die Ergebnisse der ersten beiden Erhebungen, zweites und viertes Semester werden hier vorgelegt, die dritte Erhebung (siebtes Semester) steht noch aus.

2.2 Das Instrument der Vignette

Studien im Bereich der Forschung zum Urteilsverhalten in medizinischen Zusammenhängen weisen darauf hin, dass es sinnvoll ist, die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit von Studierenden der Humanmedizin im Verlaufe ihrer klinischen Ausbildung zu thematisieren.13 Ebenso sinnvoll sei es, die Thematisierung dieser Entwicklung in eine longitudinale Studie einzubetten.14 Da es in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommt, klinisches Handeln zu evaluieren – zumal die Probanden keine Ärzte sind und daher auch nicht klinisch handeln –, sondern es um eine Thematisierung von urteilsbezogenen Einstellungen und Werten geht, gilt es ein diesbezüglich geeignetes Instrument einzusetzen. In der Literatur wird die Vignette als ein geeignetes Instrument angesehen, um einen Einblick in Einstellungen und Werthaltungen in ethischen Urteilsfindungen erlangen zu können.15

Das Instrument der Vignettenstudie eignet sich dazu, ein Spektrum von Wertentscheidungen durch die Konstruktion von Begebenheiten zu erfassen. Es wurde in Fragen klinisch-ethischer Entscheidungen zuletzt unter anderem von Schöne-Seifert, Sahm und Schnell et al verwendet.16 Vignettenstudien arbeiten mit kleinen Fallgeschichten oder Bildern, die Probanden vorgelegt werden und von diesen meist eine Kommentierung oder Bewertung erwarten. Diese Studienart ist ein Mittel, um Informationen darüber zu erhalten, wie Menschen in Situationen urteilen würden, die nur schwer zu beobachten sind und die den Probanden deshalb als zu bewertende narrative Beschreibungen vorgelegt werden.17

Vergleichend ist die vorliegende Vignettenstudie, da sie die Antworten der Teilnehmer an den Erhebungszeitpunkten einander gegenüberstellt und somit Aufschlüsse über die Entwicklung des studentischen Urteils in klinisch-ethischen Entscheidungen erhält.

Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Vignette erscheint es als relevant, den Studierenden einen Fall zur Beurteilung und Entscheidung vorzulegen, der inhaltlich in der Pädiatrie verortet ist und somit den Studierenden in das Spannungsfeld zwischen minderjährigem Patienten und dessen Eltern stellt.18 Dies ist aus didaktischer Sicht günstig, da der Fall eine ethisch und kommunikativ anspruchsvolle Situation ermöglicht, die für die Antwortmöglichkeiten und Begründungen mehrere Möglichkeiten bietet.

Die Vignette beschreibt den Fall eines 10-jährigen Jungen mit einer spinalen Muskelatrophie, d.h. einer genetisch bedingten Krankheit, die u. a. die Atemmuskulatur betrifft und schwächt. Im Rahmen dieser Grunderkrankung muss er bei einer Lungenentzündung intubiert und beatmet werden. In Hinblick auf die weitere Behandlung befürworten die Ärzte die Anlage eines Tracheostomas. Dabei handelt es sich um eine permanente Öffnung unterhalb des Kehlkopfes, die die Atemarbeit erleichtert und mit der man eine erneute Intubation, die als schwierig erachtet wird, vermeiden kann. Die Eltern lehnen den Eingriff ab, da er den Verlust der natürlichen Stimme für Paul bedeuten würde und sie ihm die Möglichkeit erhalten wollen, mit der eigenen Stimme zu kommunizieren.

Die ungekürzte Version der Vignette ist bei den Autoren erhältlich.

Die Vignette wurde von drei erfahrenen Ärzten aus den Bereichen Pädiatrie und Chirurgie auf ihre Realitätsnähe geprüft.

Entscheidungen im Bereich der Pädiatrie sind sehr häufig geteilte und gemeinsam getroffene Entscheidungen. Die „Dreiecksstruktur aus Kind, Eltern und Arzt“19 bildet eine Eigentümlichkeit der Kinderheilkunde.

2.3 Der Fragebogen

Der der Vignette angefügte Fragebogen beinhaltet offene und geschlossene Fragen zu unterschiedlichen Aspekten der Entscheidungssituation. Das Instrument wurde von den Autoren entwickelt, von Experten aus den Bereichen Ausbildungsforschung, Ethik, Pädiatrie sowie von Medizinstudenten auf seine Verständlichkeit und inhaltliche Sinnhaftigkeit hin beurteilt. Verbesserungsvorschläge wurden von den Autoren diskutiert und in die Endversion des Bogens eingearbeitet.

Die Fragen bezogen sich auf eine Bewertung der ärztlichen Entscheidung sowie auf eine Einschätzung der Motive und Implikationen für den Patienten, die Eltern und den Arzt. Dabei sollten die Probanden zunächst in einer dichotomen Antwortmöglichkeit beurteilen, ob der Arzt die Entscheidung der Eltern zu akzeptieren habe. Die Ja/Nein-Stellungnahmen konnten durch eine kurze Freitextäußerung erläutert werden. Weiterhin wurden die Probanden gebeten, mögliche Verhaltensweisen des Arztes zu beurteilen (tugendethische Perspektive) und sodann die Relevanz einer Einbeziehung des moral point of view durch eine Ethikkommission (prinzipienethische Perspektive) zu beschreiben. Schließlich wurde nach der Selbsteinschätzung der Kompetenz der Probanden im Hinblick auf eine Beurteilung von klinisch-ethischen Entscheidungen wie im Falle der Vignette gefragt.

2.4 Auswertung des Fragebogens

Die von den Probanden ausgefüllten Fragebögen wurden von einem der Autoren in eine elektronische Form überführt. Die Freitextantworten wurden hierfür transkribiert, die Antworten auf geschlossene Fragen in ein Statistikprogramm (SPSS, Version 17.0) eingegeben.

An der Datenanalyse waren alle Autoren beteiligt. Um ein hohes Maß an intersubjektiver Validität zu erreichen, wurde auf eine interprofessionelle Zusammensetzung (Ethik, Pädiatrie, Medizinstudium) und eine gemischte Geschlechterverteilung geachtet (1 Frau, 3 Männer). Dass die Analysegruppe die Bereiche Lehre, Klinik und Studium abdeckte, erschien in Hinblick auf eine größtmögliche Validität der Daten ebenfalls sinnvoll, da die Bewertungen der studentischen Probanden aus ihrer Perspektive rekonstruiert werden und in Bezug zu den klinischen und ethischen Aspekten der Fallgeschichte gesetzt werden sollten.

Die Auswertung der quantitativen Daten erfolgte mittels deskriptiver statistischer Verfahren. Die Freitextantworten wurden mittels eines hermeneutisch, interpretativen Verfahrens in einer Gruppe analysiert. Die Freitextantworten aller Probanden wurden in Bezug auf jede Frage des Fragebogens jeweils nacheinander ausgewertet. Ziel war hierbei die Beschreibung von sog. Typen. Ein Typus besteht aus einzelnen Objekten, die einander ähnlich sind, häufig vorkommen und einen gemeinsamen Merkmalsraum bilden.20 Der Typus ist als Kategorie umfassender als der singuläre Fall und weniger umfassend als eine Totalerhebung.

Die Freitextantworten wurden dahingehend analysiert, welche impliziten Annahmen der Probanden in den jeweiligen Äußerungen sichtbar werden. Auf diese Hinweise wurden Hypothesen über mögliche Zusammenhänge formuliert. In einem zweiten Schritt wurde versucht, diese Hypothesen an späteren Passagen sowie anderen Textabschnitten zu testen und ggf. zu modifizieren bzw. zu verwerfen. In einem dritten Schritt wurden die einzelnen Aspekte gruppiert und die Formulierung der o. g. Typen vorgenommen.

Im Anschluss an jedes Analysetreffen verfasste der Erstautor eine schriftliche Zusammenfassung der Ergebnisse, die von den anderen Gruppenmitgliedern ggf. ergänzt oder korrigiert wurde.

Um inhaltlich verstehen zu können, was ein Typus als Gestalt eines Urteils inhaltlich bedeutet, wird die Interpretationstechnik der Zusammenfassung, die durch die Qualitative Inhaltsanalyse, aber auch durch andere Methoden bekannt ist, eingesetzt. Die Zusammenfassung arbeitet mit sinnkonstitutiven Prozessen wie der Auslassung, der Generalisierung und der Selektion.21

In der Auswertung wurden schließlich die Typiken, die an den beiden Erhebungszeitpunkten identifiziert werden konnten, miteinander verglichen und hinsichtlich ihrer Entwicklung beschrieben.

3. Ergebnisse

Die Erhebungen wurden im Zeitraum September 2008 bis Juni 2010 durchgeführt. Zum Zeitpunkt der ersten Befragung befanden sich die Studierenden im 2. Semester, zum Zeitpunkt der zweiten Befragung im 4. Semester.

ErhebungszeitpunkteFachsemesterTeilnehmer (n)
WS 2008/2009 (erfolgt)2 (Vorklinik)25
WS 2009/2010 (erfolgt)4 (Klinikeintritt)24
Tab. 1: Teilnehmer zum Erhebungszeitpunkt 1 und 2

Der Rücklauf der Fragebögen innerhalb der ersten Erhebung lag bei 29,8% und bei der zweiten bei 28,6% (siehe Tab. 1). Auf telefonische Nachfrage gaben Studierende an, dass Überforderung, unzureichendes Wissen und Prüfungsdruck sie an der Teilnahme gehindert hätten.

3.2 Klinisch-ethisches Urteilsvermögen

3.2.1 Bewertung des ärztlichen Urteils der Vignette durch die Probanden

In der Fallvignette empfehlen die Ärzte aus medizinischen Gründen das Tracheostoma. Die Eltern stehen dieser ärztlichen Entscheidung aber ablehnend gegenüber. In der Frage, welche Entscheidung – die der Ärzte oder die der Eltern – zu akzeptieren sei, urteilen die Probanden sehr klar.

Zum 1. Erhebungszeitpunkt votierten Probanden in der deutlichen Minderzahl (36%) dafür, dass die elterliche Entscheidung nicht zu akzeptieren sei, da die Eltern aus Angst und damit unsachgemäß entscheiden würden, da der Patientenwille nicht berücksichtigt werde oder der junge Paul eine eigene Entscheidung unter Mithilfe des Arztes treffen müsse.

Mit 64% beurteilt in diesem Sinne die Mehrzahl der Probanden die Entscheidung der Eltern für gewichtiger als die der Ärzte. Die Eltern können demnach grundsätzlich die Tragweite der anstehenden Entscheidung übersehen, da sie – so die Begründungen – nicht nur die gesetzlichen Vormünder des Patienten sind, sondern diesen auch lieben, am besten kennen, sein Wohl wollen, ja seinen Willen und das, was für ihn Lebensqualität sei, ausmachen könnten. Der Arzt hätte den Prozess zu begleiten und die Eltern zu beraten.

Diese grundsätzliche Vorrangstellung der Eltern ist in Rahmenbedingungen eingefasst. Die Entscheidung der Eltern dürfe nicht fahrlässig sein, keine Lebensgefahr oder dauerhafte Schädigungen bewirken. Zudem – so eine Mindermeinung innerhalb der Mehrheitsfraktion – solle Paul in die Entscheidung einbezogen werden, auch wenn er selbst die anstehende Entscheidung vielleicht nicht voll und ganz einsehen könne.

Zum 2. Erhebungszeitpunkt ist das Ergebnis kaum anders. 66,7% halten die Entscheidung der Eltern für maßgeblicher als die der Ärzte. In der Begründung überwiegen gegenüber den familiär-emotionalen nun die eher rechtlichen Komponenten („Ja. Sorgerecht.“ „Die Eltern sind der gesetzliche Vertreter von Paul.“) Hinzu treten die aus Erhebung 1 bekannten emotionalen Momente. Verändert zu diesem Erhebungszeitpunkt sind zwei weitere Aspekte. Erstens kommt der zeitlichen und sachlichen Angemessenheit des Entscheidungsprozesses eine große Bedeutung zu. Er dürfe nicht zu schnell sein und müsse gut beraten werden. Zweitens ist jetzt die Rolle des Arztes verändert. Auch wenn er die Entscheidung der Eltern aus formaljuristischen Gründen akzeptieren müsse, solle er die Eltern nicht nur beraten, sondern auch von einer Fehlentscheidung warnen, ja, sie gar von seiner Meinung, das Tracheostoma zu legen, letztlich überzeugen.

Diese veränderte Stellung kommt auch in der Mindermeinung der Opponenten zur Geltung. Die elterliche Entscheidung sei nicht zu akzeptieren, da ärztliche Aufgaben wie die Lebensrettung und die medizinische Indikation wichtiger als die Vormundschaft der Eltern sei.

Antwortdimension
Entwicklung
Erhebungszeitpunkt 1Erhebungszeitpunkt 2
Die Entscheidung der Eltern sei zu akzeptierenRechtliche und familiäre Gründe werden genanntEher rechtliche als familiäre Gründe werden genannt
Die Qualität des Entscheidungsprozesses sei von BedeutungDie Qualität sei durch verantwortliche Entscheidungsträger (die Eltern) gesichertDer Prozess als solcher müsse sachlich und zeitlich angemessen sein
Die Rolle des ArztesDer Arzt ist Berater und BegleiterDer Arzt ist kritischer und ggf. intervenierender Begleiter
Tab. 2: Die Entscheidung

3.2.2 Einschätzung der Konsequenzen der elterlichen Entscheidung 

Hier fällt insgesamt auf, dass die Probanden in ihren Beurteilungen schematisch vorgehen und zwischen zwei verschiedenen Schemata unterscheiden.

Das „existentielle Schema“ besteht aus einer dominanten Opposition. Das heißt, dass in diesem Schema nicht alle, aber doch die meisten items oppositionell (A vs. Non A) angeordnet sind. Diese Oppositionen (Unabhängigkeit vs. Bindung, Verlust der Stimme vs. Stimme haben, Leistungsfähigkeit vs. Belastung usw.) überwiegen und sind daher dominant. Lediglich eine Kategorie („eingeschränkte Lebensqualität“) tritt in beiden Antwortreihen auf.

Das „medizinische Schema“ besteht aus einer Kopplung einwertiger Argumente.

Der Konsequenz aus einem Eingriff = A steht ein B als Beurteilung der Konsequenzen aus einem Nichteingriff gegenüber. Medizinische Begriffe sind nämlich einwertige Begriffe, die sehr häufig über keinen Opponenten innerhalb der medizinischen Denkweise verfügen. So hat die Formulierung „neurolog. Ausfälle“ in der möglichen Gegenformulierung „keine neurolog. Ausfälle“ nicht auf dieselbe Weise einen Opponenten, wie dieses bei den existentiellen Begriffen „Leben“ und „Tod“ der Fall ist. Dem entspricht die Ansicht, dass der Begriff „Krankheit“ medizinisch zu verstehen ist, der Begriff „Gesundheit“ jedoch nicht unbedingt, da er starke existentielle Aspekte aufweist.22 Die medizinische Argumentation verzichtet weitgehend auf sog. endgültige Szenarien, sie spricht abgeschwächt („Paul würde möglicherweise wahrscheinlich …“).

Das „existentielle Schema“ arbeitet mit den in Tabelle 3 aufgelisteten dominanten Oppositionen.

Das „medizinische Schema“ arbeitet mit den in Tabelle 4 dargestellten Begriffen.

EingriffKein Eingriff
Unabhängigkeit von der BeatmungsmaschineLebenslange Bindung an die Beatmungsmaschine
Endgültiger Verlust der eigentlichen, natürlichen, vollständigen SprechfähigkeitNatürliche Stimme, aber „Paul habe an Kraft verloren“
LeistungsfähigkeitGroße Belastung
Mit einem Tracheostoma sei Paul ein Außenseiter, „anders“Ohne Tracheostoma sei Paul „normal“, „Person“, „Identität“
„Paul würde leben“„Paul verstirbt“
Eingeschränkte LebensqualitätEingeschränkte Lebensqualität
Tab. 3: Begründungen im existenziellen Schema
EingriffKein Eingriff
Verlust der StimmeAtemnot
Verlust der PersönlichkeitMehr Pflege, Behinderung
Schulwechsel auf die SonderschuleSchwache Atemmuskulatur
Soziale Schwierigkeiten„Sauerstoffunterversorgung“
Hohe Lebensqualität„Neurologische Ausfälle“
Auseinandersetzung mit Leben und TodTod
Tab. 4: Begründungen im medizinischen Schema

Inhaltlich spannt das „existentielle Schema“ einen Bogen zwischen Leben und Tod, normaler Person und Außenseitertum. Das „medizinische Schema“ hingegen verkoppelt die Frage der sozialen Teilhabe Pauls („Schulwechsel“) direkt mit medizinischen Sachverhalten („Sauerstoffmangel“).

Der Entwicklung nach dreht sich nun die Gewichtung um. Zum 1. Erhebungszeitpunkt verwendeten 65% der Probanden das existentielle Schema mit entsprechenden Inhalten. Zum 2. Erhebungszeitpunkt wurde das medizinische Schema von 65% verwendet.

3.3 Empfehlung für ein beratendes Vorgehen des Arztes durch die Probanden

Zum 1. Erhebungszeitpunkt stimmten 44% der Ansicht zu, dass der Arzt die Eltern ergebnisoffen beraten müsse. Zum 2. Erhebungszeitpunkt ist die Verteilung der Antworten in etwa gleich. Die eine Hälfte der Probanden plädierte dafür, dass der Arzt seine Expertise vorbringen solle, ohne die Eltern in eine Richtung zu drängen. Die andere Hälfte ergänzte, dass der Arzt zusätzlich eine persönliche Präferenz hinzufügen solle. Die Eltern müssten zwar entscheiden, aber sie könnten „emotional überlagert“ und daher in ihrer Entscheidungsreife eingeschränkt sein. Die Eltern müssen mit den Konsequenzen der anstehenden Entscheidung im Alltag „leben“. Eben das trifft auf den Arzt nicht zu, weshalb Eltern und Arzt einen je eigenen Blick auf die Situation haben würden.

Interessant sind die über beide Erhebungszeitpunkte verteilten Charakteristika für den Arzt und die Eltern, die deren jeweils eigenen Blick auf die Situation begründen. Der Arzt wird bezeichnet als „objektiv“, „Fachmann“, „Aufklärer“, „Führer“, „erfahren“, „Berater“, „Möglichkeiten aufzeigen“, „Argumentierer“. Die Eltern erhalten die Attribute „emotional“, „kennen Paul gut/besser“, „besorgt“, „nicht objektiv“, „unerfahren“, „wollen das Beste“. In der Begegnung zwischen Arzt und Eltern treffen „Fachmann“ und „Sorge“ aufeinander.

Erhebungszeitpunkt 1 Erhebungszeitpunkt 2
Pro (92%) Contra (8%) Pro (80%) Contra (12%)
  • fachlichere, neutrale, objektivere Abwägung
  • differenzierter Blick von außen
  • könnte den Eltern helfen
  • ist zum Wohl des Kindes
  • könnte dem Arzt neue Aspekte eröffnen
  • Vermittlerrolle (dritte Instanz)
  • Konfliktvermeidung
  • nur theoretische Hilfestellung
  • verwirrt die Eltern
  • der Arzt kann die Situation besser beurteilen
  • Arzt ist Fachexperte
  • Forum bündelt verschiedene Sichtweisen
  • unabhängige Meinung
  • da es keine objektiv richtige Entscheidung gibt
  • hilft den Eltern
  • komplexe Situation
  • schwerwiegende Entscheidung
  • Arzt könnte sich verrennen
  • neutrale Instanz
  • stellt das Vertrauen in den Arzt in Frage
  • setzt die Eltern unter Druck
  • die Eltern treffen die Entscheidung
  • Arzt klärt sie auf
  • es geht nur die Eltern und den Jungen an
Tab. 5: Ethikforum

3.4 Beurteilung des Stellenwertes einer Ethikkommission durch die Probanden

Die Probanden wurden darüber aufgeklärt, dass ein Ethikforum nur eine beratende Funktion hat und selbst keine Entscheidung fällen kann.

Externe Unterstützung durch ein Ethikforum wünschen sich fast alle Probanden. Am ersten Erhebungspunkt 92% (8% contra) und am zweiten noch 80% (12% contra, 8% fehlend).

Das Urteil der Probanden besagt an beiden Erhebungszeitpunkten: Arzt und Eltern als diejenigen, die eine Entscheidung im Falle Pauls zu treffen bzw. auszuführen haben, sollten sich einer Reflexion von Außen durch ein Ethikforum unterstellen. Das Forum ermöglicht eine unparteiliche und reflektierte Sicht auf die Dinge, die kognitiv („Erkennen“, „Durchblicken“) und nicht emotional ausgerichtet ist. Als Ziel dieser Maßnahme wird angegeben: Das Ethikforum könne als unabhängige Instanz einen möglichen Streit zwischen Arzt und Eltern schlichten, es könne den Eltern Orientierung bieten und dem Arzt helfen, wenn er sich in eine zu einseitige Betrachtungsweise „verrennen“ sollte.

Mit dem Plädoyer für den Einsatz des Ethikforums bedienen sich die Probanden der urteilsethischen Perspektive: Es komme nicht nur auf die individuelle Sicht und Perspektive („Fürsorge“, „Fachlichkeit“, …) der Beteiligten an, sondern auch auf unparteiliche Reflexion.

3.5 Selbsteinschätzung der Studierenden in bezug auf ihre Entscheidungskompetenz

Vom ersten zum zweiten Erhebungszeitpunkt kommt es hinsichtlich der Frage, wie gut sich die Studenten durch das Studium der Humanmedizin zur Beurteilung von Situationen wie im „Fall Paul“ vorbereitet fühlen, zu einer deutlichen Veränderung. Aus Sicht der Probanden bereitet das Studium im Laufe der Semester zunehmend besser darauf vor.

Die Probanden beriefen sich bei der ersten Erhebung eher auf eigene Ressourcen („gesunder Menschenverstand“, „Bauchgefühl“, „Gewissen“) und führten bei der zweiten Erhebung dann eher externe Evidenzquellen an („Studium“, „Seminare“, „Praktika“). Diese tendenzielle Verlagerung war stets von dem Hinweis begleitet, dass der „Fall Paul“ sehr komplex sei und konkretes Erfahrungswissen im Umgang mit einer derartigen Situation mehrheitlich benötigt werde, aktuell aber fehle.

4. Diskussion

Aus Sicht der Probanden gilt es in klinisch-ethischen Entscheidungen zahlreiche Aspekte zu beurteilen: die rechtliche Situation („Sorgerecht“), familiäre Sorge („Die Eltern müssen mit der Entscheidung leben“), medizinische Fakten („Die Eigenatmung“), die Rolle des Arztes („Der Fachmann“), die Perspektive der Unparteilichkeit („Ethikforum“) und schließlich die Grenze zwischen Leben und Tod. Tugend- bzw. Prinzipienethik allein greifen zur Bemessung dieser Aspekte zu kurz, da sich während des Studiums sozialisatorische Effekte zeigen. Der Erwerb von medizinischem Fachwissen prägt das Urteil der Probanden und schiebt die auf den Alltag bezogene Sichtweise, die einen medizinischen Eingriff danach beurteilt, wie Paul und seine Eltern mit diesem leben könnten, in den Hintergrund.

Die Einschätzung, dass ein Zusammenspiel von Tugend- und Prinzipienethik innerhalb des Medizinstudiums kein allein hervorstechendes Merkmal des studentischen Urteilsverhaltens bildet, wird auch von anderen, neueren Studien geteilt. Eine Querschnittsstudie an der LMU München untersuchte die moralischen Positionen, die medizinethischen Kenntnisse und die Motivation Studierender innerhalb des Medizinstudiums.23 Sie hob hervor, dass das Studium zukünftige Mediziner darin ausbilden solle, gute Entscheidungen treffen zu können, und legte den Probanden Fragen und Sachverhalte aus den Bereichen Forschung, Genetik, Patientenautonomie, Lebensende, Transplantation und Güterverteilung zur Beurteilung vor. Die Studie gelangt u. a. zu dem Ergebnis, dass die Probanden (Studierende vor dem Eintritt ins PJ) in ihren Beurteilungen eindeutigen Stellungnahmen ausweichen. Innerhalb des Studiums sei kein Entwicklungstrend erkennbar, der anzeige, dass die Studierenden urteils- und kenntnissicher eine medizinethische Position einnehmen würden. Da auch kein nachhaltiger Zuwachs medizinethischen Wissens im Laufe des Studiums vorhanden sei, könne es als fraglich gelten, ob die Studierenden in ethischer Hinsicht auf ihre künftigen Aufgaben gut vorbereitet seien.

Die vorliegende Studie gelangt ihrerseits zu folgendem, weiter führendem Ergebnis hinsichtlich der Entwicklung des studentischen Urteils: Bei der ersten Erhebung akzeptieren die Probanden, dass besonders die Eltern maßgebliche Entscheidungsträger sind. Der Arzt sei ein Begleiter und Berater. Die Probanden urteilen im Rahmen eines existentiellen Schemas, das seine Maßstäbe von den Bedingungen der menschlichen Existenz her gewinnt. Innerhalb dessen sollte der Arzt tugendethisch handeln und zwar abgewogen und kooperativ gegenüber den Eltern! Eine prinzipien-ethische Zusatzbeurteilung der Sachlage durch ein Ethikforum sei zudem wichtig oder könne zumindest nicht schaden.

Bei der zweiten Erhebung sind folgende Veränderungen zu verzeichnen: Der Arzt als Funktionsträger tritt deutlicher hervor. Er sei ein Fachmann und müsse die ggf. zu emotional und daher tendenziell einseitig denkenden Eltern unterweisen und „objektiv“ beraten. Ein relatives medizinisches Denken tritt langsam in den Vordergrund: die Sauerstoffunterversorgung des Gehirns von Paul wird jetzt relevant, die Fragen der alltäglichen Lebensführung Pauls und seiner Familie nehmen an Bedeutung hingegen nicht weiter zu. Eine tugendethisch grundierte Sorgehaltung gegenüber Paul befürworten die Probanden nur sehr dosiert. Der Arzt solle den Eltern zur Seite stehen und sich nur im äußersten Notfall direkt an Paul richten. Eine tendenziell prinzipienethische Beurteilung der Entscheidungssituation um Paul wird lediglich einmal, nämlich, wie auch schon bei der ersten Messung, durch die Befürwortung der Hinzuziehung eines Ethikforums als sinnvoll erachtet.

Am ersten Erhebungszeitpunkt fühlten sich die Studierenden tendenziell überfordert, den „Fall Paul“ beurteilen zu können. Zum zweiten Erhebungszeitpunkt bot das inzwischen innerhalb des Studiums neu hinzugewonnene Wissen dann eine gewisse Orientierungssicherheit.

Die vorliegende Studie hat durch typengenerierende Interpretationsweisen die beiden Schemata „existentielles Schema“ und „medizinisches Schema“ ermittelt. Im Studium und damit in der Entwicklungsperspektive des studentischen Urteils erfolgt offensichtlich eine gewisse Ablösung des medizinischen Schemas vom existentiellen Schema. Dieses zentrale Phänomen hat jedoch auch eine Kehrseite, die möglicherweise auf Nachteile im ärztlichen Urteilsverhalten hindeuten könnte.

Aus dem Blick gerät bereits bei den studentischen Probanden die hohe Interpretationsbedürftigkeit der Situation um Paul und die Involviertheit des Arztes in diese Situation. Die Probanden verwenden selten das Wort „Ich“ und identifizieren sich nicht mit den Akteuren der Fallvignette, sie führen zudem zunehmend „medizinische Fakten“ ins Feld, die sie offenbar als „Tatsachen“ ansehen, die hinzunehmen sind und an denen somit nichts zu interpretieren sei. „Objektive Fakten“, wie die „Eigenatmung“, werden offenbar als unveränderliche „Naturtatsachen“ betrachtet, die auf Grenzen des Interpretations-, Entscheidungs- und Verantwortungsbereiches eines Arztes hindeuten.

5. Schlussfolgerungen

Für die Probanden der vorliegenden, auf die Universität Witten/Herdecke bezogenen Studie gilt der Arzt nicht als Ethikfachmann, sondern eher als Experte für medizinische Sachverhalte. Einige Studierende klagten bei Telefonaten mit unseren Studienhelfern über den Prüfungsdruck, der sie am Ausfüllen des Bogens gehindert habe. In der Konkurrenz mit den großen Fächern der Medizin wird der Ethik eine eher geringe Bedeutung zugemessen.

Die tugend- und die prinzipienethische Einstellung sind bei den Probanden nachweisbar innerhalb einer professionellen Sozialisierung, die ihr primäres Ziel nicht in einer tugend- und prinzipienorientierten Urteilsbildung in klinisch-ethischen Entscheidungen hat. Tugenden und Prinzipien sind keine primären Orientierungsweisen der Probanden, da sich diese hinsichtlich ihres Urteils zwischen dem existentiellen Schema (Annahmen über Gesundheit, Leben und Krankheit) und dem medizinischen Schema (Annahmen über den Status des medizinischen Wissens und die Aufgaben eines Arztes) bewegen. Die Veränderung des Urteils, die die tendenzielle Ablösung des existentiellen Urteilsschemas durch das medizinische bedeutet, sollte von der universitären Lehre stärker beachtet werden.

Die Zunahme medizinischen Wissens verschafft Orientierungssicherheit, bedeutet aber auch eine tendenzielle Abnahme, alltagsrelevant die Situation des Patienten beurteilen zu können. Dieser Befund ist für die Lehre wichtig, sofern neben den Fragen, ob Ethik im Studium unterrichtet werden soll, welche Ansätze dabei Beachtung zu finden haben, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit moralischen Dilemmata für Studierende hat,24 auch darüber nachgedacht werden muss, wie ein Arzt auf die Alltagseinstellung des Patienten gegenüber Krankheit und Medizin einzugehen in der Lage sein sollte.25

Inwieweit sich die beobachteten ansatzweisen Veränderungen im Studium fortsetzen, wird im Rahmen der 3. Befragung der Kohorte im Wintersemester 2011 untersucht werden.

Referenzen

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Anschrift der Autoren:

Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, M. A.
Maren Bongartz, Ole Jung
Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG), Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Straße 50, D-58448 Witten
Schnell(at)uni-wh.de

Dr. med. Thorsten Langer
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin
Helios Klinikum Wuppertal
Heusnerstr. 40, D-42283 Wuppertal

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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