Tierversuche: Abwägung in der biomedizinischen Grundlagenforschung

Imago Hominis (2015); 22(3): 157-166
Rainer Nobiling

Zusammenfassung

Tierversuche haben sich mehr als 50 Jahre nach der Formulierung der Grundsätze „3R“ so weit von vorwissenschaftlicher Tierquälerei entfernt, dass eine Neubewertung geboten ist.
Bei Tierversuchen in der Grundlagenforschung ist ein medizinischer Nutzen für Mensch und Tier zunächst nicht erkennbar. Diese Versuche und die medizinischen Experimente sind aber voneinander abhängig: medizinische Forschung ohne Grundlage bleibt blind. Es gelten neben unterschiedlichen rechtlichen auch verschiedene ethische Maßstäbe: Mögliche Belastungen der Tiere müssen gegen „Erkenntnis um ihrer selbst“ willen gewogen werden.
Dabei sollte einem möglicherweise ungerechtfertigten Handeln das verantwortungsvolle Handeln gegenüberstehen. Dies wiederum ist gegen die Folgen eines Verzichts auf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu wägen, der nicht zuletzt für fundierten Tierschutz erforderlich ist.

Schlüsselwörter: Ethik in den Biowissenschaften, Pathozentrische Ethik, Ethik und Recht

Abstract

After more than 50 years of the concept „3R“, animal experimentation has left behind characteristics of an unscientific method that often included torture. Therefore, ethical standards are indispensable that take into account the scientific basis of “3R” as well as benefits from research for animal welfare.
Although basic science cannot be separated clearly from applied research, e.g. for medical applications, the ethical measure is different and difficult, since an abstract scientific benefit has to be weighed against animal suffering or pain.
However, renunciation of findings in basic science may prevent from improvements in animal welfare as well as medical care. Therefore, a critical examination of all ethical arguments have to include possible consequences of omission  of experiments that most probably extend basic knowledge about animals in particular and nature in general.

Keywords: ethics in life sciences, pathocentric ethics, ethics and law


Einleitung

Bevor zu Tieren, Tierschutz, Tierhaltung oder Tierversuchen und Ethik Stellung bezogen wird, muss der Gebrauch des Begriffes „Tier“ in diesem Artikel gegenüber der zoologischen Systematik abgegrenzt werden: Als „Tiere“ im Sinne des Tierschutzgesetzes gelten nach rechtlicher Übereinkunft Wirbeltiere.1 In Deutschland werden zusätzlich noch Zehnfußkrebse und Kopffüßer unter rechtlichen Schutz gestellt.2 Mit dieser Einschränkung geht implizit eine Abstufung in der Wertigkeit einher, die auch die tägliche Lebenswirklichkeit abbildet: Nicht alle Tiere gelten als gleichwertig. Insbesondere tierische Schädlinge oder Krankheitsüberträger werden in der Regel nicht als schützenswerte Tiere angesehen. Insofern wird die ethische Grundlage des alltäglichen Umganges mit Tieren mit abgestuften Wertigkeiten auch in den Rechtsgrundlagen sichtbar.

Hinzu kommt eine weitere Werteabstufung, die mit physischer, phylogenetischer und auch emotionaler Nähe zum Menschen zu tun hat: Die für Ernährung bestimmten Tiere scheinen in der öffentlichen Debatte weniger schutzbedürftig zu sein als Haustiere; wild lebende Ratten oder Mäuse rufen in der Regel sogar Abwehrreaktionen hervor, während Kleinnager als Versuchstiere beträchtliches Mitleid zu erwarten haben. Diese in sich widersprüchliche Haltung zum Tierschutz ist weder rechtlich noch biologisch verständlich. Im Fall von Ratte und Maus wird allerdings mit den übergeordneten Argumenten Gesundheitsschutz und Schädlingsbekämpfung eine ethisch nachvollziehbare Begründung für die Tötung von Wirbeltieren gegeben.

Die Worte Tierversuche und Versuchstiere können sich einer solchen differenzierten Betrachtung nicht so sicher sein: Bereits die damit verbundenen Assoziationen bewirken bei vielen Mitbürgern Abwehrreaktionen, die bis zu schlecht beherrschten Emotionen führen können. Oft wird „Tierversuch“ ohne Detailwissen mit „Tierquälerei“ gleich gesetzt. Die Unkenntnis bezieht sich dabei nicht nur auf „Tierversuche“; auch über „Tierquälerei“ sind gelegentlich falsche und aus der Sicht des wissenschaftlich fundierten Tierschutzes höchst fragwürdige Vorstellungen im Umlauf. Goethes Aphorismus „Wer Tiere quält ist unbeseelt, weil Gottes guter Geist ihm fehlt“ ist ebenso griffig wie korrekt, wenn man Tierquälerei klar definiert und nicht leichtfertig mit der Durchführung von Tierversuchen gleichsetzt. Leider geschieht genau dies häufig.

Dagegen werden in der privaten Haustierhaltung mitunter Fehlernährung, mangelnde Auslaufmöglichkeiten oder Einzelhaltung von Rudeltieren beobachtet. Manche Tierhalter können oder wollen diese Mängel nicht erkennen, sondern sind im Gegenteil davon überzeugt, so ihre Tierliebe zu demonstrieren. Eine solche anthropozentrische und emotionale „Tierethik“ wird den Bedürfnissen der Tiere nicht gerecht.

Im Gegensatz zu mancher landläufigen Unterstellung sind Tierversuche keine eigenständige Forschungsrichtung. Sie sind ein Teil des Methodenspektrums der naturwissenschaftlich orientierten Forschung, insbesondere in den Bereichen Biologie und Medizin. Sie finden auch in der Umweltforschung oder in der technischen Chemie statt, hier in der Form von (vorgeschriebenen) Toxizitätsprüfungen.

Einige tierexperimentelle Ansätze in der Grundlagenforschung sind den Bereichen „systematische Beobachtung, Beschreiben von Verhalten“ zuzuordnen. Da hierfür die Tiere mit Kennzeichnungen wie z. B. Fußringen oder Peilsendern versehen werden, müssen die Tiere für kurze Zeit geringe Beeinträchtigungen hinnehmen, was diese Vorhaben zu „Tierversuchsvorhaben“ macht (zur rechtlichen Definition: siehe unten).

Andere Tierversuchsvorhaben in der Grundlagenforschung untersuchen Vererbungsprozesse, Wachstumsverhalten oder versuchen, grundsätzlich zu klären, welche Funktionsprinzipien Organen wie dem Herzen oder den Blutgefäßen zugrunde liegen. An spezielle Krankheitsbilder oder Patientengruppen wird dabei zunächst nicht gedacht, die Normalfunktion und die beteiligten Signal- und Regulationssysteme geben die Forschungsthemen vor. Erst die Ergebnisse lassen Entscheidungen darüber zu, ob und wie auf den erarbeiteten Grundlagen medizinische Anwendungsforschung möglich sein kann. Die Zwecke und Ziele von Tierversuchen sind so vielfältig, dass diese wenigen Beispiele zunächst ausreichen müssen.

Begriffsabgrenzungen und rechtliche Klarstellungen

Die Begriffe „Tierversuch“ und „Grundlagenforschung“ werden in unterschiedlichen Kontexten mit so vielen verschiedenen Inhalten verbunden, dass für diese Betrachtung Definitionen und Abgrenzungen dringend geboten sind, wenn eine sinnvolle Einordnung auch für eine ethische Beurteilung erfolgen soll.

„Tierversuch“ wird in der öffentlichen Debatte oder in der Laienpresse zu oft mit „Tierquälerei für fragwürdige wissenschaftliche Zwecke“ assoziiert. Nur gelegentlich wird zugegeben, dass etwas Sinnvolles geschieht, insbesondere, wenn die betreffende Forschung ein bestimmtes Krankheitsbild zum Ziel hat, welches durch eigenes Erleben ein konkretes Gesicht bekommen hatte. Der Begriff hat sein negatives Image vermutlich in einer Zeit erhalten, als Patienten in der kurativen Medizin durch „Heilversuche“ mit teilweise verheerenden Ergebnissen geschädigt wurden. Man versuchte seinerzeit, solche Krankheitsverläufe zu verstehen und stellte sie in (oft belastenden) Tierversuchen nach. Anfang der 1930er Jahre gab es dann erste Bemühungen, sowohl unverantwortliche Heilversuche an Patienten als auch unsystematische tierexperimentelle Ansätze einzuschränken und in einen ethisch verantwortbaren wissenschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang zu stellen.

Der Rechtsrahmen hierfür, ein „Tierschutzgesetz“, hatte den Anspruch, dass Tiere um „ihrer selbst willen“ geschützt werden sollten. Diesem ersten Deutschen Tierschutzgesetz3 haftete aber der Makel an, dass es im Kontext der beabsichtigten Ausgrenzung jüdischer Mitbürger den Tierschutz instrumentalisierte, indem die Praxis des rituellen betäubungslosen Schlachtens, des Schächtens, verboten wurde. Am Text und an der Systematik des Gesetzes ist erkennbar, dass es weniger um einen umfassenden Tierschutz ging als um die Verhinderung von Tierquälerei.

Eine Definition für „Tierversuch“ war in diesem Gesetz noch nicht enthalten: Auch der Absatz über Tierversuche beginnt mit einem Verbot von schwer belastenden Versuchen, also Tierquälerei. Für wissenschaftlich sinnvolle Versuche, z. B. „zur Klärung bisher ungelöster Fragen“ wurde ein Genehmigungsverfahren eingeführt. Ebenfalls war eine Abstufung der Wertigkeit unterschiedlicher Spezies enthalten: Die Verwendung von Hunden, Katzen, Pferden und Affen war nur mit Einschränkungen statthaft.

Eine rechtlich klare Definition des Tierversuchs wurde dann im Tierschutzgesetz von 19724 gegeben: „Ein Tierversuch ist ein Eingriff oder eine Behandlung zu wissenschaftlichen Zwecken, also zum Erkenntnisgewinn, die möglicherweise zu Schäden oder Leiden bei den (Versuchs-)Tieren führt“. Die Pflicht zur Vermeidung von Schäden und Leiden war in diesem Gesetz enthalten, eine explizite ethische Abwägung wurde dagegen noch nicht gefordert.

Die Abgrenzung von versuchsbedingten Schäden und Leiden gegenüber solchen, die bei einer „natürlichen Lebensweise“ auftreten, ist schwierig, wenn nicht unmöglich: Die täglichen Bemühungen ums Überleben (Futtersuche oder die Flucht vor Fressfeinden) beinhalten z. B. für Mäuse in der freien Natur meist einen weit höheren Stresspegel als für Versuchstiere in einer Versuchsanlage. Klimatisierte Versuchstierhaltungen bieten geschützte Räume ohne Fressfeinde, vor denen die Flucht ergriffen werden muss, und wesentlich mehr Platz, als er den meisten landwirtschaftlichen Nutztieren zugestanden wird.

Das Gesetz von 1972 führte zu einer transparenten Genehmigungspraxis: Eine Anordnung von Tierversuchen (Eingriffen) mit dem Ziel, Verhalten und Reaktionen von ganzen Organismen auf diese Eingriffe zu studieren und zu systematisieren, unterliegen als „Versuchsvorhaben“ der Genehmigungspflicht. Diese gilt streng genommen also nicht für den einzelnen Eingriff als Tierversuch. Ein nachlässiger Sprachgebrauch setzt beides aber mitunter gleich.

In der ethischen Beurteilung von Tierversuchen fand sich bis etwa vor 15 Jahren folgende Alternative: Messungen z. B. an isolierten Herzen oder Nieren, oder gar an einzelnen Zellen, waren Experimente an „nicht schmerzfähiger“ biologischer Materie und folglich keine Tierversuche. Der Begriff „Alternative“ für solche experimentellen Ansätze ist jedoch irreführend: Die Erkenntnisse aus Messungen an einzelnen Zellen oder isolierten Organen hätten an intakten Tieren nicht gewonnen werden können. In der Forschung wird in aller Regel mit einer für das jeweilige Problem optimierten Methode gearbeitet. Die Benutzung des in diesem Zusammenhang oberflächlichen Begriffes „Alternative“ hatte aber eine gewisse beruhigende Wirkung in der öffentlichen Diskussion: „Alternativen“ gelten vielfach als weniger belastende und damit ethisch vertretbare Verfahren.

Für viele derartige Versuche mussten allerdings Tiere getötet werden, um dieses biologische Material zu gewinnen. Eine Analogie zu überwiegend akzeptierten Tierschlachtungen zum Gewinnen von Nahrungsmitteln war erkennbar; einfache Logik verhinderte, dass derselbe Vorgang „Tiertötung“ unterschiedlich benannt und bewertet wurde. Der im §1 des Tierschutzgesetzes genannte „Vernünftige Grund“ lag in beiden Fällen vor: Erkenntnisgewinn und Sicherung der Ernährung. Gemeinsames Merkmal war und ist, dass Tiertötungen nur unter Narkose stattfinden dürfen. Eine Grundsatzdebatte, ob Tiertötungen (durch Menschen) überhaupt statthaft sein können, findet sich bei Birnbacher.5

Der Begriff „Versuchstiere“ wird allerdings auch für diejenigen Tiere verwendet, die für die Herstellung von Zellkulturen oder isolierten Organen getötet werden. Dieses Vokabular erschwert eine Sachdiskussion: Es ist kaum vermittelbar, dass schmerzfreies Töten von Tieren unter Narkose oder die Verwendung von belastungsfrei entnommenen Blutproben zur Realisierung von „alternativen“ Versuchsansätzen keine Tierversuche sind, wenn diese Tiere als Versuchstiere bezeichnet werden. Nachträgliche erläuternde Kommentare z. B. in Tierschutzberichten6 können dieses falsche Verständnis kaum richtig stellen. Dadurch gerät auch die ethische Bewertung in diese Grauzone unklaren Sprachgebrauchs.

Seit der Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie7 mit dem Tierschutzgesetz von 20128 stellt sich die rechtliche Situation noch verwickelter dar, da auch Verfahren, die keine Tierversuche im Sinne der alten Definition sind, nun als Tierversuche bezeichnet werden. Der Gesetzgeber hätte diese Unklarheit vermeiden können, indem man den neuen Begriff „Verfahren“ aus der neu gefassten Richtlinie als Oberbegriff für die Verwendung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken auch ins Deutsche Tierschutzrecht übernimmt.

Damit umfasst die „Verwendung von Tieren für wissenschaftliche Zwecke“ alle rechtlichen Kategorien, die als Tierversuche im erweiterten Verständnis des Deutschen Tierschutzrechtes oder als „Verfahren“ im aktuellen EU-Recht bezeichnet werden. Hierbei sind auch solche Prozeduren eingeschlossen, bei denen Tiere zu technischen Zwecken verwendet werden. Dies sind unter Anderem vorgeschriebene Qualitätskontrollen von Medizinprodukten oder Toxizitätsprüfungen von Chemikalien. Auch die Verwendung für alternative Zwecke (z. B. Tiertötungen zum Anlegen von Zell- und Gewebekulturen) macht Tiere zu Versuchstieren.

Im Tierschutzrecht werden seit 1972 rechtlich definierte Zwecke genannt, zu denen Tierversuche statthaft sein können. Dies sind unter anderem „translatorische“ Forschung, also Forschung mit unmittelbar benennbarer medizinischer Zielsetzung, vorgeschriebene Versuche z. B. zur Qualitätssicherung von Medizinprodukten und Grundlagenforschung. Diese rechtliche Unterteilung hat ihre Wurzel im Grundgesetz (GG), das im Art. 2 ein Grundrecht auf Gesundheit schützt. Die „Grundlagenforschung“ dagegen genießt den durch die Verfassung garantierten Schutz der Wissenschaftsfreiheit.9 Ein Genehmigungsverfahren für wissenschaftliche Versuche wurde erstmals im §6 des Gesetzes von 1933 formuliert, obwohl verantwortungsvolle Institutsleiter wie z. B. Carl Ludwig10 bereits in den 1860er Jahren von seinen Assistenten dieselben Begründungen für die Durchführung von Tierexperimenten verlangte, wie sie heute in Genehmigungsverfahren üblich sind.

Die Beziehung zwischen Grundlagenforschung und translationaler Forschung

Im Folgenden soll eine Beschränkung der Bewertung auf Verfahren für „Grundlagenforschung“ vorgenommen werden. Anwendungsforschung in der Human- und Tiermedizin unterliegt anderen ethischen Maßstäben und basiert auf eigenen verfassungsrechtlichen Grundlagen.11 Sie dient dem Zweck, verbesserte, also belastungsarme Diagnose- und Therapieverfahren zu entwickeln und in der Erprobung soweit voranzutreiben, dass das Risikoprofil für menschliche und tierische Patienten bei der weiteren Erprobung hinreichend präzise abgeschätzt werden kann.

Der Begriff „translationale Forschung“ unterstreicht die enge inhaltliche Beziehung. Eine Übertragung („Translation“) von Erkenntnissen der Grundlagenforschung auf spezielle Medizinbereiche erfordert eine breite wissenschaftliche Erarbeitung dieser Grundlagen.

Eine inhaltliche Abgrenzung ist nicht einfach, zumal bei rechtlich möglichen Versuchszwecken zusätzlich zur „Grundlagenforschung“ auch das „Erkennen physiologischer Zustände“ genannt wird, ein Zweck, der sicherlich nicht der „translationalen Forschung“ zugeschrieben werden kann. Darüber hinaus gelten im aktuellen Tierschutzgesetz7 frühere Zuordnungen12 als Tierversuche, die noch vor 20 Jahren als Alternativen zu Tierversuchen speziell gefördert wurden. Offenbar wird das schmerzfreie Töten von gentechnisch veränderten Versuchstieren inzwischen ethisch und rechtlich anders bewertet:13 Bereits die Bewertung der Zucht solcher Tiere als Tierversuch zieht die Notwendigkeit einer ethischen Bewertung nach sich. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch manche Projekte zur Entwicklung von „Alternativen“ z. B. zum Ersatz von belastenden Toxizitätsprüfungen, Tierversuchsprojekte sind, die der Grundlagenforschung zuzuordnen sind. Solche Konstellationen erschweren das Formulieren von ethischen Standards beträchtlich.

Auch in der anwendungsorientierten Qualitätssicherung von Medizinprodukten, wie etwa Impfstoffen, sind Tierexperimente ein Teil des Methodenspektrums, um Wirkungen auf ganze Organismen modellhaft abbilden können. Eine 1:1 Übertragung ist dabei weder möglich, noch beabsichtigt. Es geht um die Nutzung von aussagekräftigen Modellorganismen. Die Entwicklung und Charakterisierung solcher Modelle und ebenso der wissenschaftlich begründete Ausschluss von ungeeigneten Modellen sind aber Gegenstand von biomedizinischer Grundlagenforschung.

Ein anderes Beispiel ist die Erforschung und Beschreibung von Umwelteinflüssen auf lebende Organismen. Hier kann es z. B. bei Wasserbauwerken (Staustufen etc.) um die Optimierung des Lebensraums von Fischen gehen. Auch die systematische Beobachtung von Tieren bei der Gestaltung ihres natürlichen Lebensraumes schließt die Möglichkeit ein, dass die Tiere bei manchen Varianten auf nicht vorhersagbare Weise beeinträchtigt werden. Damit müssen solche Studien als Tierversuche beantragt und genehmigt werden.

Ein weiteres Feld, das zunächst ausschließlich von wissenschaftlicher Neugier vorangetrieben wird, ist das Studium und Verstehen von biologischen Wachstums- und Entwicklungsvorgängen. Auch wenn dies im Einzelnen nicht immer geplant ist: Ein Teil der Erkenntnisse über Störungen dieser Vorgänge kann für das Verstehen von Krankheiten wie Krebs nützlich sein. In diesem Fall wären also die Ergebnisse der Grundlagenforschung in der medizinischen Forschung verwertbar. Sogar die „negativen Ergebnisse“, also Falsifizierungen von Arbeitshypothesen, werden häufig für die medizinische Anwendung fruchtbar gemacht.

Nicht zuletzt ist sinnvoller und wissenschaftlich fundierter Tierschutz auf Untersuchungen angewiesen, mit denen grundsätzlich geklärt wird, welche Eingriffe, Behandlungen oder Haltungsbedingungen von Tieren überhaupt belastend sind. Derartige Untersuchungen sind nicht auf Versuchstiere wie Ratten und Mäuse beschränkt: Landwirtschaftliche Nutztiere profitieren in gleichem oder sogar größerem Maße von diesen Forschungsansätzen.

Es ist nicht auf den ersten Blick einleuchtend, dass intuitive Vergleiche mit Schmerzen und anderen Beeinträchtigungen („Leiden“) von Menschen und die Übertragung von Erkenntnissen aus dem menschlichen Alltag auf Tiere in jedem Fall sinnvolle Ergebnisse liefern. Unwissen oder Fehleinschätzungen auf diesem Gebiet können sowohl zur Vorhersage einer falsch hohen als auch einer falsch niedrigen Schmerzbelastung führen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass vermeintliche Tierschutzmaßnahmen sich ungünstig auf das Wohlbefinden von Tieren auswirken.

Um Wissens- und Erkenntnislücken mit Blick auf verbesserten Tierschutz schließen zu können, ist wiederum Grundlagenforschung unter Einschluss von Tierexperimenten erforderlich, damit Möglichkeiten und Grenzen des Tierschutzes selbst besser verstanden werden.

Naturwissenschaft als Wechselspiel zwischen Hypothese, Modell und Experiment

Die systematische Beobachtung und Beschreibung von Naturvorgängen gilt spätestens seit Galilei als ethisch gerechtfertigt. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Schlüsselexperimente als Falsifizierungsversuche von theoretisch entwickelten Modellvorstellungen wissenschaftstheoretisch geboten sind. Galileis Verdienst ist es, mit seinen Untersuchungen zum freien Fall geschickte Modellüberlegungen und systematische Versuchsreihen kombiniert zu haben. Er zeigte mit dieser Methode einen grundsätzlichen Fehler der intuitiven, allgemein akzeptierten und von Aristoteles als Lehrmeinung verkündeten These: „Körper fallen entsprechend ihrer Schwere mit verschiedenen Geschwindigkeiten nach unten.“ Galileis Ergebnis dagegen war: „Alle Körper fallen gleich schnell, wenn man von der Reibung durch die Luft absieht“. Dies war damals nicht gut überprüfbar, weil ein hinreichend gutes Vakuum („Luftleere“) nicht zur Verfügung stand. Seine durch Extrapolation gewonnenen Ergebnisse zeigten trotzdem, dass die neuen Modellvorstellungen im Prinzip valide waren.

Damit war ein Anfang gemacht: Das Aufstellen von Hypothesen und das Durchführen der Schlüsselexperimente spielen sich seither in einem Umfeld ab, das als Erforschung von grundsätzlichen Naturvorgängen – Grundlagenforschung – zunehmend positiv besetzt ist. Klassifizierungen dieser Arbeiten als „überflüssige Spielerei ohne Bedeutung für die Praxis“ kamen zwar immer wieder vor, wurden aber zunehmend als vorwissenschaftliche Anwürfe abgelehnt. Unerwartete Anwendungen von zuvor belächelten Ergebnissen ließen Skepsis oder Ablehnung weiter verstummen. Solange Physiker bei solchen Grundlagenexperimenten den freien Fall von Probekörpern oder die Ausrichtung magnetischer Körper in Kraftfeldern studierten, solange Chemiker den Energieumsatz bei Verbrennungsvorgängen untersuchten, war die Angelegenheit „Forschung um ihrer selbst willen“ und ethisch weitgehend unproblematisch.

Das Suchen nach möglichen Anwendungen war den „reinen“ Wissenschaften zwar nicht fremd, galt jedoch als suspekt, da die Möglichkeit eines teilweise als unethisch angesehenen wirtschaftlichen Erfolges bestand.

Beispiele für nachträgliche und unbeabsichtigte technische Anwendungen können trotzdem reichlich benannt werden: Die Satellitentechnik, aber auch die Entwicklung von Transportfahrzeugen ist ohne Galileis Erkenntnisse und Arbeitsmethoden nicht vorstellbar. Die Rundfunk- und Mobilfunktechnik haben letztlich die Arbeiten von Heinrich Hertz über elektromagnetische Wellen zur Grundlage. Und die einer intuitiven Vorstellung komplett verschlossenen mathematischen Vorstellungen zu komplexen Zahlen von C. F. Gauß sind zu unerlässlichen Hilfsmitteln bei der zeitgemäßen Energieversorgung geworden.

Damit ist skizzenhaft umrissen, wie und warum Grundlagenforschung als Wissenschaftsmethode zu einem unverzichtbaren und überwiegend ohne ethische Konflikte akzeptierten Bestandteil einer neuzeitlichen, aufgeklärten Wissenschaftskultur werden konnte.

Die zunächst deskriptive Forschung in den Lebenswissenschaften brauchte allerdings wegen der Komplexität des Forschungsgegenstandes deutlich länger, bis sie zu ersten modellhaften Vorstellungen und falsifizierbaren Hypothesen gelangen konnte. Dabei stand bis zum Beginn des 19. Jh. diesen Modellbildungen noch der „Vitalismus“ als Hürde entgegen: Eine vis vitalis als fundamentale Lebenskraft war z. B. im Blut höherer Lebewesen verortet und galt als eine mit den Methoden der Physik oder Chemie nicht weiter hinterfragbare Quelle von Lebensäußerungen wie Herzschlag, Muskelkraft oder auch der Wahrnehmung der Umgebung über die Sinnesorgane.

Die Emanzipation von der vitalistischen Physiologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte auch in Teilen der Lebenswissenschaften dazu, dass experimentell überprüfbare Hypothesen formuliert wurden. Bei den dafür erforderlichen systematischen Versuchen wurden auch lebendige Wesen eingesetzt. Parallel dazu wuchs eine wissenschaftsskeptische Haltung gegenüber solchen Bemühungen, insbesondere wenn auch höhere Pflanzen und sogar Tiere zum Test von wissenschaftlichen Theorien eingesetzt wurden. Vitalistische Grundgedanken hielten sich außerhalb des Wissenschaftsbetriebes länger als in den Köpfen von Ringer, Magendie, Helmholtz und anderen Pionieren dieser nichtvitalistischen Richtung in der Physiologie.

Der Vitalismus als Hürde war damit zwar überwunden, dennoch beschäftigte man sich auch noch am Anfang des 20. Jahrhundert mit dem Grundgedanken: Vitalismus vs. Mechanismus.14 Bei den Versuchen, physikalische, und das hieß an der Schwelle zum 20 Jahrhundert: mechanistische Modelle, auf biologische Modelle anzuwenden, könne die Empfindungsfähigkeit von höheren Lebewesen keine Berücksichtigung finden. Ausgerechnet der Physiker Ernst Mach wies mehrfach auf diesen Konflikt hin15 und wurde damit zum Mitbegründer einer Ethik, die Empfindungen und Missempfindungen von Tieren berücksichtigte, die Tiere somit nicht den leb- und empfindungslosen Messgeräten der Physiker oder Chemiker gleich stellte. Diese pathozentrische Ethik findet sich später in den Teilen des Tierschutzrechtes wieder, in denen Schmerz- und Leidensverminderung („refine“) gefordert wird. Seit wenigen Jahren besteht in Europa die Verpflichtung, beim Antragsverfahren die mutmaßliche und bei der Tierzahlmeldung die tatsächliche Belastung der Tiere anzugeben.

Parallel zu den frühen theoretischen Überlegungen fanden bereits Experimente im Dienst der Medizin statt. Angesichts des starken Leidens kranker Menschen und vieler hoch belastender Therapieversuche, zumal in der Chirurgie, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erschienen ähnliche Experimente zur Verbesserung der Situation dieser Patienten gerechtfertigt. Solche oft hoch belastenden Tierexperimente begründeten vermutlich den Ruf von Tierexperimenten als unwürdige Tierquälerei.

Ein gewisser Teil dieser Experimente waren aus heutiger Sicht grausame Tierfolter. Man rechtfertigte dies damit, dass auch die damals üblichen medizinischen Prozeduren (Operationen ohne Narkose) für Patienten äußerst belastend waren und ein „Fortschritt“ im Methodenvergleich auch Grausamkeiten einschließen konnte. Diese Vorstufe einer Abwägung rechtfertigte seinerzeit viele Versuche.

Das damalige Fazit war: Medizin und Forschung hierfür sind eben grausam und ein akzeptabler Preis für den Fortschritt. Wer dagegen als Grundlagenwissenschaftler aufbrach, um ohne unmittelbare medizinische Ziele das Wissen zu erweitern, fand sich im Fall von Experimenten mit Tieren schon im 19. Jahrhundert auf der Anklagebank wieder: Die naturwissenschaftlichen (mechanistischen) Forschungen nehmen angeblich keine Rücksicht auf die Empfindungsfähigkeit der Tiere.

Ethische Bewertungsrahmen

Die ernsthafte Grundlagenforschung des 19. Jh. begann aber bereits, sich mit ethischen Fragen und der Berechtigung von Tierexperimenten auseinanderzusetzen. (Carl Ludwig,16 oder Ernst Mach17)

Im Gegensatz zum (eher wissenschaftsfeindlichen) Vitalismus ist mit den Überlegungen zur Leidensfähigkeit von Tieren ein erster ethischer Maßstab formuliert worden, der Möglichkeiten aufzeigt, die Belastung von Versuchstieren zu berücksichtigen und Abwägungen zu treffen.

Hier konnte die Grundlagenforschung zunächst gute Argumente sammeln: Wer die physiologischen Basisvorgänge z. B. bei Narkose oder Schmerz, bei der Funktion von Körperteilen oder Organen besser verstehen wollte und konnte, machte sich zum Wegbereiter einer besseren Medizin. Die hierfür in der Folge erforderlichen Versuche konnten schonender geplant werden, was sich einerseits positiv auf die Versuchstiere auswirkte, aber natürlich auch humanen und tierischen Patienten zu Gute kommen konnte, wenn die Ergebnisse der Grundlagenforschung als Basisinformationen in die translatorische Forschung eingingen.

Ein anderer verwendeter ethischer Maßstab geht von der phylogenetischen Entfernung verschiedener Lebewesen zum Menschen aus: Je größer die genetische Übereinstimmung, umso bedenklicher sollte man bei der Nutzung der Lebewesen als „Versuchswesen“ sein. Hier wird ein morphologisch-statistischer Parameter („genetische Ähnlichkeit, phylogenetische Nähe“), benutzt, um Leidensfähigkeit messbar zu machen. Der Ausgangspunkt ist der Mensch, dessen genetische Ausstattung und Leidensfähigkeit, dessen Bewusstsein und Selbstbewusstsein das Maß festlegen, wie die Natur zu betrachten ist: der Mensch als Normalmaß. Ob und in welchem Umfang diese Korrelation zwischen phylogenetischer Nähe und Leidensfähigkeit stimmt, erfordert kontinuierliche Forschungsanstrengungen. Die bisher daraus formulierten Modelle können noch nicht als etabliert bezeichnet werden.

Daraus entsteht ein Argumentationsbruch: Tiernutzung, eine artgerechte Haltung und schonende Tötung von Nutztieren (zum Nahrungserwerb) werden ohne Kenntnis dieser Modelle gefördert, eine wissenschaftliche Nutzung, und sei es zur Erforschung von Tierkrankheiten, wird eher abgelehnt.18 Diese Widersprüchlichkeit ist schon vor einigen Jahren aufgefallen und thematisiert worden.19 Man hat es nicht mit Ethik, sondern eher mit Ideologie zu tun, wenn Tierexperimente mit Tierquälerei gleichgesetzt werden und eine nach menschlichem Gefühl artgerechte Haltung mit Tierschutz.

Offenbar ist für eine Einordnung, ob der jeweilige Umgang mit Tieren ethisch zu rechtfertigen oder abzulehnen ist, in hohem Maße durch subjektive, von Emotionen bestimmte Bewertungskriterien abhängig, wobei menschliche Empfindungen als Maßstab herangezogen werden. Erfolgreiche, d. h. breit überzeugende Versuche zur Objektivierung hat es in diesem schwierigen Umfeld bisher nicht gegeben. Es gibt allerdings Ansätze, sich auf Koordinaten außerhalb von menschlichen Orientierungspunkten zu berufen: Indizien hierfür finden sich wiederum in der Verfassung („Verantwortung vor Gott und den Menschen“) und im Tierschutzgesetz („Tiere als Mitgeschöpfe“). Mit dieser theologischen Begründung maßt sich der Mensch Privilegien nicht selbst an. Er erhält in seiner Gottesebenbildlichkeit den Auftrag, verantwortlich mit der Natur umzugehen. Die Übersetzung „… macht euch die Erde untertan…“20 meint zwar genau diesen verantwortungsvollen Umgang, ist aber durch egoistische Fehldeutung in Verruf geraten: Auch absolute Herrscher waren zu verantwortungsvollem Handeln gegenüber den Untertanen verpflichtet, kamen dieser Verpflichtung aber nicht immer nach. Eine von der Theologie absehende Argumentation hat es schwerer, die im Alltag üblichen Abstufungen bei Lebensformen und verfassungsmäßige Privilegien wie die allgemeinen Menschenrechte zu begründen.21

Diskussion

Von David Watson, einem britischen Domherrn des 20. Jahrhunderts, stammt das Zitat: „Das Gegenteil von Missbrauch ist nicht Nichtgebrauch, sondern der richtige Gebrauch.“

Es gibt offenbar beim „Handeln“ mindestens zwei Spielarten: verantwortungsbewusstes und verantwortungsloses Handeln; dies muss aber auch fürs Unterlassen festgestellt werden: Ohne eine Besinnung auf die Verantwortung beim Unterlassen müssen sich Antworten auf Fragen nach der ethischen Vertretbarkeit von Handeln, z. B. der Durchführung von tierexperimentellen Forschungsprojekten in der Grundlagenforschung, den Vorwurf der Unvollständigkeit gefallen lassen.

Ein recht schlichtes Beispiel zum verantwortungsvollen Gebrauch von Genehmigung und Verbot aus dem motorisierten Straßenverkehr mag dies verdeutlichen: Durch verantwortungslose Fahrweise (Raserei, Vorfahrt erzwingen etc.) werden jedes Jahr tausende Verkehrsteilnehmer geschädigt und tödlich verletzt. Kaum jemand käme auf den Gedanken, deswegen das Autofahren vollständig zu verbieten nur die schuldigen Verursacher wurden und werden mit Fahrverboten belegt. Andererseits waren auch bei den „autofreien“ Wochenenden Mitte der 1970er Jahre Einsatzfahrten z. B. von Rettungsfahrzeugen nicht nur zulässig, sondern notwendig.
In erweiterter Form gilt dies ebenso für die praktische Medizin, ihre wissenschaftliche Vorbereitung und eben für die biologische Grundlagenforschung.

Die zu selten gestellte Frage lautet: Kann oder darf man auf einen Erkenntnisgewinn verzichten, wenn ein direkter praktischer Nutzen, z. B. bei der Behandlung von Krankheiten (noch) nicht sichtbar ist? Hier werden unterschiedliche Kategorien gegeneinander abgewogen: Ein abstrakter Erkenntnisgewinn gegen eine konkret benennbare Belastung von Versuchstieren. Dies gilt für jeden Erkenntnisgewinn, auch wenn er die Arbeitshypothese falsifiziert. Es kommt also darauf an, Experimente so zu planen und die Ergebnisse so auszuwerten, dass als Ertrag hochrangiger Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Für eine vollständige ethische Abwägung muss zugleich gefragt werden, welche Konsequenzen der Verzicht auf diesen wissenschaftlichen Ertrag hätte. Diese Abwägung ist schwierig, da die wissenschaftliche Bedeutung der Ergebnisse und die Konsequenzen für künftige Forschungen nicht immer konkret benannt werden können. Ob und in welchem Maße das so erworbene Grundlagenwissen verwertbar ist, kann diese Abwägung beeinflussen, sollte sie aber wegen der unbestimmten Wartezeiten nicht dominieren.

Eine verantwortliche Abwägung ist aber unverzichtbar, da der Ertrag von zwei Jahrhunderten naturwissenschaftlich orientierter biomedizinischer Forschung zu einem wichtigen Bestandteil der Kultur des 21. Jahrhunderts geworden ist. Die Grundlagen, das Fundament dieses Gebäudes, können nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis müssen Teile dieses Fundamentes permanent weiterentwickelt und auf ihre Tragfähigkeit für neue Herausforderungen untersucht werden. Es wäre unwissenschaftlich und wissenschaftsethisch nicht vertretbar, hier auf ein methodisches Hilfsmittel grundsätzlich zu verzichten. Allerdings muss sich die Bewertung des methodischen Einsatzes von Fall zu Fall Korrekturen aus den gewonnen Erkenntnissen gefallen lassen: Operative Eingriffe mit Narkose waren in Ermangelung dieser Grundsatzmethode vor 150 Jahren weder üblich noch möglich. Inzwischen sind sie Standard, und ein Verzicht ist undenkbar. Ohne begleitende Forschung, auch an Tieren, hätte sich Narkose als wissenschaftlich fundiertes Verfahren aber nicht etablieren können.

Eine ethische Betrachtung/Analyse darf sich folglich nicht auf die Verantwortung beim Tun beschränken: die Alternative „Unterlassen“ mit allen Folgen muss gleichberechtigt bedacht werden. Dies hat auch mit dem Grundrecht auf „Wissenschaftsfreiheit“ zu tun: Das Streben nach der Erweiterung von Wissen ist zunächst ethisch positiv besetzt und auch grundsätzlich nach Art 5 GG geschützt. Es darf jedoch eingeschränkt werden, wenn die Verletzung anderer Grundrechte oder Verfassungsziele droht: Das Eindringen in andere Schutzräume der Verfassung (Umweltschutz oder Tierschutz) kann also Anlass zur Schrankensetzung sein und erfordert auch eine ethische Abwägung. Dies wird bei hoher Belastung durch Schmerzen oder Leiden künftig möglicherweise häufiger dazu führen, dass „Hochbelastungsversuche“ seltener beantragt und genehmigt werden, weil die Begründung für eine ethische Vertretbarkeit zunehmend schwieriger wird. Jede Entscheidung wird aber eine ethische Einzelentscheidung bleiben müssen. Ein Pauschalverbot wäre aus den genannten Gründen als ethisch nicht vertretbar einzustufen.

Referenzen

  1. Richtlinie des Rates 86/609/EWG zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, 24. November 1986, ABl. Nr. L 358, S. 1 vom 18. Dezember 1986
  2. Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 28. Juli 2014 (BGBl. I, S. 1308) geändert worden ist
  3. Deutsches Reichs-Tierschutzgesetz vom 24. November 1933, RGS. I S. 987
  4. Tierschutzgesetz, BGesBl Teil I, Nr. 74 vom 24. Juli 1972, S. 1277-1283
  5. Birnbacher D., Dürfen wir Tiere töten? in: Hammer C., Meyer J. (Hrsg.), Tierversuche im Dienst der Medizin, Pabst (1995), S. 26-42
  6. Tierschutzbericht der Bundesregierung 2003, S. 132
  7. Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, 22. September 2010, Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 276, S. 33 vom 20. Oktober 2010
  8. §7 Tierschutzgesetz von 2012, siehe Ref. 2
  9. GG Art 5 (3): Wissenschaftsfreiheit
  10. Carl Ludwig (1816 – 1895), Begründer und Leiter der „Physiologischen Anstalt“ der Universität Leipzig von 1865 – 1895
  11. GG Art 2 (2): Recht auf unversehrte Gesundheit (human) und Art 20a: Tierschutz
  12. Aus §7 Abs 2 TierSchG, siehe Ref. 2: Als Tierversuche gelten auch nicht Versuchszwecken dienende Eingriffe oder Behandlungen, … die vorgenommen werden, um zu wissenschaftlichen Zwecken … b) Kulturen anzulegen oder c) isolierte Organe, Gewebe oder Zellen zu untersuchen …
  13. Dagegen wird das Töten unter Betäubung bei Tieren, die der menschlichen und tierischen Ernährung dienen, nach wie vor neutral bewertet.
  14. Bütschli O., Vitalismus und Mechanismus, Verlag Wilhelm Engelmann, Leipzig (1901)
  15. Mach E., Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Gustav Ernst Fischer Verlag, Jena (1906)
  16. siehe Ref. 10
  17. Ernst Mach (1838 – 1916), Österreichischer Physiker und Wissenschaftstheoretiker
  18. Internetauftritt von Neuland mit Verweis auf den Deutschen Tierschutzbund: www.neuland-fleisch.de
  19. Weber C., Die Welt ist nicht nett, Süddeutsche Zeitung, 29. Mai 2010
  20. Genesis (1. Buch Mose), Altes Testament, 1,28
  21. Blumer K. Tierversuche zum Wohle des Menschen? Ethische Aspekte des Tierversuchs unter besonderer Brücksichtigung transgener Tiere, Dissertation, München (1999)

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Rainer Nobiling
Inst. f. Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 326, D-69120 Heidelberg
nobiling(at)physiologie.uni-heidelberg.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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