Bioethik aktuell: Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, sehen sich in einer ausweglosen Situation. Was passiert in dieser „suizidalen Zuspitzung“, von der Sie sprechen – und wo gibt es Spielraum, um zu helfen?
Ute Lewitzka: In der klassischen suizidalen Entwicklung gibt es eine lange Phase von Ambivalenz. Da haben wir die Möglichkeit, Menschen zu erreichen. Es kann aber auch zu einer Zuspitzung kommen. Von dem Entschluss „Jetzt tue ich es“ bis zur Handlung vergehen dann oft nur 10 bis 15 Minuten. Die Betroffenen sind wie in einem Tunnel, sie können nicht mehr an Angehörige, Kinder oder Lokführer denken. Wenn man sie da anspricht, unterbricht und vor allem den Zugang zu den Suizidmitteln beschränkt, kann wieder ein Raum von Reflexion entstehen. 75 bis 95 Prozent aller Menschen, die erfolgreich an einer Selbsttötung gehindert werden, versuchen es im Lauf der folgenden Jahre auch kein weiteres Mal. Das heißt: Wenn wir den Zugang zu Methoden erschweren, könnten wir Zeit gewinnen und vielen helfen, ihre akute Krise zu überwinden.
Seit 2021 steigen die Suizidzahlen erstmals wieder an
Bioethik aktuell: Wie haben sich die Suizidzahlen in Deutschland entwickelt?
Ute Lewitzka: Wir haben so viele Tote nach Suizid in Deutschland, als ob alle 14 Tage eine Boeing 747 mit 364 Menschen verschwindet. In den 1980er-Jahren waren es fast 20.000 Suizide jährlich, seit Anfang der 2000er sind es um die 10.000 Suizidtote pro Jahr. Die bessere psychiatrische Versorgung und Präventionsangebote waren für den Rückgang entscheidend. Aber leider erleben wir wieder einen Anstieg der Zahlen seit 2021. In Deutschland werden Suizide und assistierte Suizide nicht getrennt erfasst. Wir vermuten, dass in dem Anstieg ein hoher Anteil von assistierten Suiziden steckt.
Bioethik aktuell: Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben festgestellt. Sie waren bei einer Anhörung im Rechtsausschuss zur Neuregelung dabei, als Ethiker sagten: „Angebot schafft Nachfrage“ – und das positiv bewerteten. Wie haben Sie darauf reagiert?
Ute Lewitzka: Durch dieses Urteil wurde uns allen schnell klar, was es bedeutet. Auch ein assistierter Suizid ist ein Suizid. Man schafft jetzt ein Angebot, das eine neue Gruppe von Menschen anspricht, nämlich vorwiegend mittelalte bis alte Frauen. Das zeigen uns die internationalen Statistiken. Einige hochrangige Ethiker haben in dieser Anhörung davon gesprochen: „Angebot schafft Nachfrage“, und fanden das nicht schlimm: „Ja, die Suizidzahlen werden sich mindestens verdoppeln.“ Und ich dachte: Warum eigentlich? Warum muss das so sein?
„Angebot schafft Nachfrage“: Wollen wir mehr Suizide?
Bioethik aktuell: Viele argumentieren mit Selbstbestimmung. Sie sagen aber, in den allerwenigsten Fällen sei es eine freie Entscheidung. Warum?
Ute Lewitzka: Weil ich die Menschen sehe, die ins Hilfesystem kommen, auch die mit Todeswünschen. Die sagen: „Geben Sie mir die Spritze. Ich habe doch mein Leben gehabt.“ Aber wenn man sich mit ihnen hinsetzt und fragt: Was steckt dahinter? dann kommen Dinge wie: „Ich möchte meinen Angehörigen nicht zur Last fallen, ich habe Angst vor dem Pflegeheim, ich möchte nicht auf Hilfe angewiesen sein, für mich bedeutet das, meine Würde zu verlieren.“ Und da schreit in mir alles auf. In einem Land wie Deutschland: Warum können wir nicht dafür sorgen, dass Menschen gut alt werden, dass sie gut sterben können und dass Pflegebedürftigkeit nicht automatisch mit Würdeverlust assoziiert wird? Aber das tun wir, auch weil wir ein völlig schräges Altersbild haben, Altersdiskriminierung, wo der Mensch nichts mehr wert ist. Wir driften immer mehr auseinander, nicht nur politisch, sondern als sorgende Gemeinschaft. Und das finde ich traurig und ich bin nicht bereit, es achselzuckend hinzunehmen.
Wenn der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt
Bioethik aktuell: Sie haben gesagt, der Staat nehme sich unter dem Label „Autonomie“ aus der Verantwortung. Was meinen Sie damit?
Ute Lewitzka: Es wird alles unter dem Aspekt von Autonomie und Würde gelabelt und für liberal erklärt. Aber gleichzeitig sorgt der Staat nicht dafür, dass Menschen keine Angst haben müssen zu sterben. Er sorgt nicht für genügend palliative Strukturen. Damit baut er unbewusst Druck auf oder lässt zu, dass Druck aufgebaut wird. Dabei hat der Staat eine Schutzfunktion. Er muss vulnerable Gruppen schützen. Das tut er in Deutschland momentan gar nicht.
Bioethik aktuell: Ein Punkt, der oft zu kurz kommt: In der Suizidprävention helfen Menschen dabei, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Beim assistierten Suizid organisieren sie das Tötungspräparat und sind bei der Einnahme dabei. Was verändert sich dadurch?
Ute Lewitzka: Das ist ein wesentlicher Punkt: Die andere Person nimmt aus meiner Sicht hierdurch eine Bewertung des Lebens des anderen vor und bestätigt letztlich, es sei besser, wenn es ihn oder sie nicht mehr gibt. Das ist neu. Jeder, der bei einem Suizid zustimmend mitwirkt, gibt dem Individuum das Signal: Dein Leben ist nicht mehr lebenswert. Es mag Menschen geben, die das genau abwägen. Aber gerade bei einzelnen sogenannten Sterbehelfern, die das wiederholt machen, spielen unbewusst andere Motive und Mechanismen eine Rolle. Da sollte man genau hinschauen. Diese Menschen sagen, sie würden es aus Mitgefühl tun. Meines Erachtens geht es auch um das Gefühl: „Ich kann dich von deinem Leid erlösen.“ Das hat für mich auch etwas mit Macht zu tun. Und wenn es ein Arzt ist, der das tut, verändert sich auch das Vertrauen im Arzt-Patienten-Verhältnis. Das ärztliche Ethos hat eine Garantenstellung für das Leben. Eine Ärztin steht für Hoffnung, Begleitung, jemand, der für ein gutes Sterben sorgt, ohne das Leben bewusst zu verkürzen. Wenn ich mich als Patientin darauf nicht mehr verlassen kann, verschiebt sich etwas in den Fundamenten der Medizin.
Ein hochrangiges DACH-Forum als kritische Stimme
Bioethik aktuell: Sie haben das DACH-Forum Suizidprävention und assistierter Suizid mitgegründet. Namhafte Institutionen, Fachgesellschaften und Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz treffen sich jährlich und nehmen Stellung zur Entwicklung. Was ist Ihr Ziel?
Ute Lewitzka: Für mich ist das DACH-Forum wichtig, weil es zeigt: Wir sind viele, die hinschauen und kritisch fragen, was die Entwicklungen rund um assistierten Suizid mit unserer Gesellschaft machen. Wir bringen Erfahrungen und Wissen aus Psychiatrie, Palliativversorgung, Pflege, Philosophie und anderen Disziplinen zusammen und geben damit eine fundierte Stimme in die Öffentlichkeit. Unser Ziel ist es, Menschen in Krisen nicht allein zu lassen, sondern Wege aufzuzeigen, wie Leben wieder möglich wird. Ich sehe das Forum als Gegengewicht zu einer einseitigen Sichtweise auf Autonomie und als Mahnung, die Verletzlichkeit und Verbundenheit des Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Bioethik aktuell: Sie fordern ein Suizidpräventionsgesetz für Deutschland. Was müsste das leisten?
Ute Lewitzka: Es muss valide Zahlen schaffen, ein Monitoring, und Prävention, vor allem auch niederschwellige, endlich strukturell verankern. Es darf nicht sein, dass Suizidassistenz professionalisiert und finanziert wird, während Prävention im Ehrenamt verharrt. Suizidprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung – nicht das Angebot für den schnellen Tod.
Bioethik aktuell: Was wünschen Sie sich zum bevorstehenden Mental Health Day?
Ute Lewitzka: Mehr Bewusstsein dafür, dass Suizidalität kein Randthema ist. Dass Menschen in Krisen nicht allein gelassen werden. Und dass wir als Gesellschaft lernen, unsere Alten, Kranken und Schwachen nicht nur als Last zu sehen, sondern als Menschen, die ein Recht auf Würde, Zuwendung und ein gutes Leben bis zuletzt haben.
Das Gespräch führte IMABE-Direktorin Susanne Kummer.
www.felberinstitut.de
www.suizidprophylaxe.de
www.d-a-ch-forum.org