Bioethik Aktuell

COVID-19: Debatte zu einem „Corona-Immunitätspass“ nimmt Fahrt auf

Kritiker sehen Grundrechte in Gefahr und befürchten eine Spaltung der Gesellschaft

Lesezeit: 02:44 Minuten

Angesichts der Lockerung der durch die Corona-Pandemie bedingten Beschränkungen nimmt die ethische Debatte zu den Immunitätsausweisen international Fahrt auf: Jeder, der einmal an COVID-19 erkrankt war und gesundet ist, soll sich innerhalb seines Landes und international frei bewegen dürfen – vorausgesetzt, er hat einen Ausweis, der ihm bescheinigt, immun zu sein. Die Idee eines sog. „Immunitätspasses“ ist gleichermaßen bestechend wie umstritten.

Estland hat kürzlich damit begonnen, einen der weltweit ersten digitalen Immunitätspässe zu testen (vgl. Reuters, online, 23.5.2020) und seine Grenzen geöffnet. „Der digitale Immunitätspass soll Ängste abbauen und Gesellschaften auf der ganzen Welt dazu anregen, ihr Leben inmitten der Pandemie fortzusetzen“, sagt Taavet Hinrikus von Back to Work, einer NGO, die den Pass entwickelt. China implementiert derzeit ein durchaus umstrittenes Gesundheits-Tracking-System, das den Immunitätsstatus leicht einbeziehen könnte (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online, 27.5.2020). Zertifikate für nach COVID-19 gesundete Patienten bereitzustellen wird in Deutschland, Großbritannien und Italien ernsthaft in Betracht gezogen.

In Österreich äußerte sich Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Die Grünen) kritisch gegenüber einem Immunitätspass. Es handle sich um eine sensible ethische Grundsatzfrage, weil dieser die Bevölkerung in zwei Teile unterteilen würde – von denen ein Teil mehr Freiheiten hat als der andere (vgl. Standard, online, 14.5.2020). In Deutschland wird sich der Deutsche Ethikrat mit Immunitätsnachweisen für SARS-CoV-2 befassen, eine Ad-hoc-Stellungnahme soll noch vor dem Sommer veröffentlicht werden.

Die WHO warnt vor solchen Ausweisen, da es derzeit viele Unsicherheiten gibt. Es gibt keine verlässlichen Daten darüber, ob und wie lange ein Patient, der COVID-19 durchgemacht hat, auch tatsächlich immun ist, oder ob er sich auch ein zweites Mal anstecken könnte. Zahlreiche Ethiker melden ernsthafte Vorbehalte an, sowohl was die Umsetzung als auch den Datenschutz betrifft. So haben Natalie Kofler von der Harvard Medical School und die kanadische Bioethikerin Françoise Baylis in Nature in einer Stellungnahme mit sechs ethischen und vier praktischen Gründen gegen einen Ausweis argumentiert (2020; 581: 379-381, Zehn Gründe, warum Immunitätspässe eine schlechte Idee sind). So könnte aus ihrer Sicht „jede Dokumentation, die die individuellen Freiheiten auf der Grundlage der Biologie einschränkt, zu einer Plattform für die Einschränkung der Menschenrechte, für die zunehmende Diskriminierung und die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit werden, anstatt diese zu schützen.“ Außerdem würden praktische Gründe gegen eine Einführung sprechen. Es sei ungewiss, ob Menschen, die sich erholen, immun sind, die Tests seien oft ungenau und es würden zu viele benötigt.

Denkbar wäre auch, dass sich Menschen bewusst mit Corona infizieren, um danach ihre Freiheitsrechte wieder genießen zu können oder um den Job nicht zu verlieren. Das könnte sehr schnell die Fallzahlen in die Höhe treiben. Datenschützer wiederum befürchten, dass Arbeitgeber, aber auch Versicherungen künftig vermehrt Immunitätsnachweise verlangen könnten. Das habe nichts mehr mit der Idee des Impfpasses gemein. Seien dort bislang ausschließlich Eintragungen nach einer tatsächlichen Impfung durch den Arzt vorgenommen worden, sollen nun auch medizinische Befunde bzw. Bewertungen wie eben zur Immunität gegen eine Krankheit eingetragen werden. Bei diesen Informationen handle es sich jedoch um hochsensible Gesundheitsdaten, die nach Artikel 9 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) nicht erfragt werden dürfen, außer in klar definierten Ausnahmefällen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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