Bioethik Aktuell

IMABE-Symposium: Beziehungen und Sinn stärken Lebensqualität in der Krankheit

Wie Medizin, Pflege und Familie ein gutes Lebensende ermöglichen können

Lesezeit: 04:48 Minuten

Lebensqualität ist zu einem Schlüsselkonzept für die Gesundheitsversorgung geworden: Lässt sie sich überhaupt messen? Was konkret heißt Lebensqualität im Angesicht einer unheilbaren Erkrankung? Was bedeutet Lebensqualität für einen hochaltrigen Menschen? Was heißt „keine Lebensqualität mehr“ im Kontext der Debatte um aktive Sterbehilfe? Welche ethischen Fragen wirft das Konzept der Lebensqualität auf? Diesen Themen widmete sich am 13. November 2020 das interdisziplinäre IMABE-Jahressymposium „Lebensqualität: Was am Ende zählt. Herausforderungen an Medizin und Pflege“ in Wien. An dem Webinar nahmen rund 150 Experten aus Österreich, Deutschland, Kroatien und Slowenien teil.

Sich selbst annehmen lernen inmitten eigener Fragilität

„Wir leben heute in einer Zeit der Gerontophobie“, sagt der Soziologe und Altersforscher Franz Kolland (Karl Landsteiner Privatuniversität Krems). Jugendwahn und Anti-Aging verschärfen die Altersdiskriminierung und negative Selbstwahrnehmung älterer Menschen, ebenso die pauschale Definition von älteren Menschen als Risikogruppe in der COVID-19-Krise. Demgegenüber müsse das Alter nicht als Verlust, sondern als „Dividende“ wahrgenommen, positiv als ein „Werden zu sich selbst“ verstanden werden. „Das Annehmen seiner selbst in dieser Fragilität gehört ganz wesentlich zum Werden zu sich selbst“, betont Kolland. Für die Lebensqualität von Menschen im hohen Alter sind laut Kolland vier Faktoren entscheidend: die Beziehung zur Familie und sozialen Netzwerken, die Möglichkeit einer sinnvollen Betätigung, die Beziehung zum eigenen Körper/zur Gesundheit sowie die Sinnfrage als Quelle von Glück und Zufriedenheit. Studien würden zeigen, dass Sinnleere zu einer erhöhten Mortalität führt.

Auch der Einsame hat noch ein Gegenüber

Daran knüpfte der Medizinethiker und Theologe Matthias Beck (Universität Wien) an: „Wir werden den Menschen nicht erfassen, wenn wir nicht seinen Geist, seine spirituelle Dimension berücksichtigen. Der Mensch ist von Innen nach Außen gebaut.“ Die Grundfrage laute: Wozu überhaupt leben? Hat das Leben (noch) einen Sinn, ein Ziel, eine Zukunft womöglich über das endliche Leben hinaus? Von der Beantwortung dieser Frage hänge ab, wie jemand mit Fragen am Ende des Lebens umgeht, so Beck. Am Ende des Lebens würden „vor allem menschliche Beziehungen und ein gut ausgebildetes geistig-geistliches Innenleben“ zählen. Auch der Einsame „habe noch ein Gegenüber, dem er oder sie sich zuwenden können. Dann kann auch das Sterben ein Stück weit an Einsamkeit verlieren“.

Ethik: Sterben zulassen ist nicht Töten

Dank der Fortschritte in der Medizin der vergangenen Jahrzehnte ist die Überlebensrate von Patienten selbst bei schweren Erkrankungen enorm gestiegen. Lebensqualität ist dabei nicht unbedingt ein Widerspruch zu Lebensverlängerung. Allerdings: „Wir haben vergessen, unsere ethischen Kompetenzen parallel mitzuentwickeln“, merkt die Intensivmedizinerin Barbara Friesenecker (MedUni Innsbruck) kritisch an. Es bestehe die Gefahr einer „unmenschlichen Machbarkeitsmedizin“. Unter Ärzten brauche es deshalb ein erneutes „Bewusstwerden, dass neben der Heilung auch das ‚gute Leben am Ende des Lebens‘ und ein Sterben in Würde - ohne Angst, Schmerzen, Stress oder Atemnot - Ziel therapeutischer Bemühungen ist“. Die Vorsitzende der Arge Ethik der Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) zeigte auf, dass die Durchführung von Behandlungen am Lebensende ohne medizinische Indikation nicht nur „eine Körperverletzung, sondern auch eine Seelenverletzung“ darstellt. Eine nutzlose Therapie ohne Aussicht auf Erfolg kann und muss beendet werden. Sterben zulassen bedeute keineswegs eine Tötung des Patienten, stellte Friesenecker klar. Wichtig sei die frühzeitige Kommunikation innerhalb des behandelnden Teams, mit dem Betroffenen, sofern möglich, und den Angehörigen. Ein Konzept wie die Klinische Perspektiven Konferenz (KPK ) sei dafür hilfreich.

Jürgen Brunner, Pädiater und Sprecher des Klinischen Ethikkomitees der MedUniversität Innsbruck, erläuterte anhand eines COVID-19-Falls - ein Patient mit schweren Vorerkrankungen -, wie in einem ethischen Konsil die Entscheidung getroffen wurde, keine Intensivbehandlung durchzuführen - und welche Folgen sich daraus ergaben.

Die Rolle der Angehörigen - Menschen wollen als Jemand behandelt werden

Welche Rolle spielen Angehörige für die Lebensqualität von Patienten? „Eine entscheidende Rolle“, sagt die Heidelberger Psychoonkologin Monika Keller. Angehörige sind die wichtigste existentielle Ressource für Menschen in Krankheit. Selbst fühlen sie sich aber oft überfordert. Keller spricht vom „Syndrom der hilflosen Hände“. Familien bräuchten besondere Betreuung und Aufmerksamkeit, zugleich sei sie selbst immer wieder über das Potenzial der Angehörigen überrascht. Wenn es zu Konflikten komme oder Aggression gegenüber dem Betreuungsteam, sei es wichtig, den Betroffenen gezielt Wege der Unterstützung und Entlastung aufzuzeigen.

Für die Pflege sei eine „Ethik der Sorge“ als Widerstand gegen bloßes „Machen“ wichtig, betont die deutsche Pflegewissenschaftlerin Helen Kohlen (Philosophisch-Theologische Hochschule/Vallendar). „Achtsamkeit, Kompetenz, Verantwortung und Resonanz sind zentrale Dimensionen einer ethisch situierten sorgenden Praxis.“ Die Gefahr heute bestünde darin, dass „Handeln“ durch „Machen“ im Sinne von Technik und Organisation ersetzt wird - damit ginge jedoch der eigentliche Kern des pflegerischen Tuns verloren. Auch für die Wiener Pflegewissenschaftlerin Doris Pfabigan (GÖG) darf Lebensqualität nicht nur ein schönes Schlagwort bleiben. In der Langzeitpflege müsse „an bestehenden Strukturmängeln nachhaltig gearbeitet werden.“ Es sei wichtig, Menschen in ihrem Würdegefühl zu stärken. „Menschen wollen Jemand sein, wie ein voller Mensch behandelt werden!“

Wie das Wohl des einzelnen im Pflegeheim in den Mittelpunkt gerückt werden kann - entgegen allen Systemzwängen - zeigte Pflegedienstleiterin Sabine Wimmer auf eine eindrucksvolle Weise auf. Sie erzählte aus der Praxis des Bezirksalten- und Pflegeheim Sierning/OÖ, wie mitten in der COVID-19-Pandemie die Sorge um die Bewohner ebenso groß wurde wie die Sorge um die eigenen Mitarbeiter. 

Der Tagungsband „Lebensqualität: Was am Ende zählt“ erscheint im Frühjahr 2021 und kann unter postbox@imabe.org bestellt werden.
Die Video- und Audiomitschnitte stehen ab Anfang Dezember 2020 online zum Nachsehen und Nachhören zur Verfügung!

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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