Bioethik Aktuell

Kein Lebensrecht für alle: Frankreich hebt „Freiheit zur Abtreibung“ in Verfassungsrang

Kritiker warnen vor eine Aushöhlung der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit

Lesezeit: 04:25 Minuten

In Frankreich ist der Schwangerschaftsabbruch seit 1975 straffrei. Nun hat das Parlament ein Recht auf „Freiheit zum Schwangerschaftsabbruch“ in der Verfassung verankert. Kritiker sprechen von einer Zäsur in der europäischen Menschenrechtstradition. Das Recht auf Freiheit steht nun über dem Recht auf Leben. Frauen ist damit nicht geholfen.

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Ursprünglich war im Wortlaut ein verfassungsmäßig garantiertes „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ vorgesehen. Der französische Senat lehnte diese Formulierung jedoch ab und ersetze das Wort „Recht“ durch die „einer Frau garantierte Freiheit zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch“. Dadurch wurde die Norm in ihrer endgültigen Fassung leicht abgeschwächt (Légifrance, LOI constitutionnelle n° 2024-200). Frankreich ist damit weltweit das erste Land, dass eine „Freiheit auf Schwangerschaftsabbruch“ in den Verfassungsrang gehoben hat.

Senatspräsident: Verfassung darf nicht für Symbolpolitik missbraucht werden

Scharfe Kritik an der Verfassungsreform äußerte der Präsident des Senats, Gérard Larcher. Die Verfassung sollte nicht dazu dienen, Symbolpolitik zu betreiben, so Larcher. (NZZ, online 29.02.2024). Schließlich sei der Zugang zur Abtreibung in Frankreich ohnehin bereits seit 1975 gesetzlich geschützt. Die Organisation Alliance Vita bezeichnete die geplante Verfassungsänderung als „Unsinn“. Es sei nötiger denn je, eine Politik umzusetzen, die ungewollte Schwangerschaften verhindere.

Frankreich weist eine der höchsten Abtreibungsraten in Europa auf

Der Schwangerschaftsabbruch ist in Frankreich legal und wird von der staatlichen Krankenversicherung bezahlt. Die Anzahl der Abtreibungen steigt seit Jahren an, im Jahr 2022 waren es 234.300 (DREES, online 27.09.2023). Frankreichs Abtreibungsrate zählt zu den höchsten in Europa (WHO-Statistik: Number of abortions, all ages). Im Jahr 2022 wurde die Frist für straffreie Abtreibungen von 12 auf 14 Wochen ausgeweitet. Darüber hinaus sind Abtreibungen aufgrund medizinischer Indikation bis zur Geburt erlaubt.

Viele Frauen werden zu einer Abtreibung gedrängt

Die Verfassungsnorm spricht zwar explizit von „Freiheit“, verkennt jedoch die Realität von Frauen im Schwangerschaftskonflikt. Zahlreiche Erhebungen zeigen, dass die Entscheidung für oder gegen das Kind vornehmlich durch äußere Faktoren bestimmt wird wie fehlende materielle und seelische Unterstützung, Druck durch den Partner oder die familiäre Umgebung. Zwei Drittel der Frauen fühlen sich im Schwangerschaftskonflikt zu einer Abtreibung gedrängt (Bioethik aktuell 09.03.2023 und 02.12.2023). Die Verfassung bietet diesen Frauen keinen Schutz mit Folgen, die oft ein Leben lang belasten können (IMABE-Studienreihe: Schwangerschaftsabbruch und psychische Folgen, Juni 2023).

Ethikerin Kummer: Konflikt wird unter dem Deckmantel der Freiheit schöngeredet

„Schwangere Frauen in Not brauchen Unterstützung und Hilfe, anstatt ihren inneren Konflikt unter dem Deckmantel der Freiheit schönzureden und zu tabuisieren ", betont Susanne Kummer, Direktorin des Wiener Bioethik-Instituts IMABE. „Wir haben alle als Ungeborene begonnen zu sein“, so die Ethikerin. Die allgemeinen Menschenrechte und damit das Grundrecht auf Leben kommen jedem Menschen bedingungslos zu und nicht erst „von Staates Gnaden“.

Aufgabe eines liberalen Staates sei es, die Rechte aller seiner Bürger zu schützen – auch der noch nicht Geborenen. Werde dieser Grundsatz im Namen einer "individuellen Freiheit über alles gekappt", dann gelte am Ende nur noch das Recht des Stärkeren. „Das gefährdet die Demokratie und gibt Anlass zur Sorge, dass bald auch andere Menschenrechte gefährdet sind“, gibt Kummer zu bedenken.

Juristen warnen vor einer Einschränkung der Gewissens- und Meinungsfreiheit

So hatten bereits zahlreiche französische Jurist im Vorfeld davor gewarnt, dass die geplante Verfassungsänderung das Recht auf Gewissensfreiheit von medizinischem Personal und die Meinungsfreiheit einschränken könnte (FigaroVox, online 31.01.2024). In einem offenen Brief legen sie dar, dass mit der neuen Verfassungsnorm lediglich die Freiheit der Frauen zum Schwangerschaftsabbruch, nicht jedoch die Freiheit des medizinischen Personals an diesen mitzuwirken oder diese abzulehnen garantiert und ebenfalls in Verfassungsrang gehoben wird.

Damit gerät die Gewissensfreiheit unter Druck. Gerichte könnten in der Folge argumentieren, dass Ärzte, Hebammen, Anästhesisten oder Pflegekräfte, die nicht an Abtreibungen mitwirken möchte, ja nicht gezwungen seien, diesen Beruf auszuüben und ihre Profession ändern könnten. Diese Diskriminierung führt jedoch das Konzept der Gewissensfreiheit ad absurdum.

Ist der bloße Hinweis auf Alternativen schon „psychologischer Druck“?

Die neue Verfassungsnorm könne laut den Rechtsexperten auch andere Freiheiten, insbesondere die Meinungsfreiheit, beeinträchtigen. Demokratische Diskussionen über den Schwangerschaftsabbruch könnten als Angriff auf Grundrechten verstanden und eingeschränkt werden. Bereits jetzt gibt es in Frankreich ein Gesetz, das „Abtreibungsbehinderung“ unter Strafe stellt, etwa durch „moralischen und psychologischen Druck“. Einer schwammigen Auslegung ist Tür und Tor geöffnet: Wie etwa sind Beratungsstellen für Schwangere in Not einzustufen, die Frauen Optionen aufzeigen, damit sie sich doch für ihr Kind entscheiden können? Ist der bloße Hinweis auf Alternativen schon als „psychologischer Druck“ zu werten?

Selektive Sicht auf Menschenrechte geht auf Kosten der Schwächsten

Die Verfassungsreform entzieht zudem dem ungeborenen Kind jeglichen Schutz des Lebens. Der Versuch, einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Rechten der Mutter und des ungeborenen Kindes zu finden ("Schwangerschaftskonflikt"), wird zugunsten des Rechts des "Stärkeren" aufgegeben: Ungeborene, die nicht für ihre eigenen Rechte eintreten können, müssen ihr Lebensrecht zugunsten des abgeleiteten Rechts auf Privatleben ihrer Mutter opfern.

Eine derart selektive und durch Partikularinteressen geleitete Sicht auf die Menschenrechte birgt zahlreiche Gefahren, betont Antonia Busch-Holewik, Referentin für Recht und Bioethik am IMABE. Etablierte Menschenrechte, wie die Gewissens- und Meinungsfreiheit, werden von neuen, nicht universellen Menschenrechten verdrängt, in denen es nicht mehr um den Schutz der Schwächsten geht, sondern sich die Interessen der Stärkeren durchsetzen. „Frankreich positioniert sich dadurch als äußerst bedenklicher Vorreiter in einer Entwicklung, die sich zunehmend von der ursprünglichen Idee der Menschenrechte entfernt – einer Idee, die jedem Menschen unabhängig von Eigenschaften wie Alter, Entwicklung, Status, Geschlecht oder Vermögen Würde und Rechte zusichert“, so Busch-Holewik.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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