Bioethik aktuell

Krebspatienten brauchen ehrliche Gespräche: Mehr Therapie am Ende bringt nicht „mehr Leben“

Ärzten fehlt Unterstützung, um zu erkennen, wann eine zusätzliche Therapie aussichtslos ist

Lesezeit: 03:44 Minuten

Ärzte wollen Krebspatienten bei einer fortgeschrittenen Erkrankung mit schlechter Prognose meist nicht die Hoffnung nehmen. Häufig werden deshalb weitere Therapieoptionen angeboten. Allerdings ist deren Einsatz nicht immer evidenzbasiert, wie aus einer US-Studie hervorgeht. Stattdessen sind offene Gespräche mit schwerkranken Patienten über ihre Bedürfnisse nötig.

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Bei der Behandlung von Krebspatienten mit sehr schlechter Prognose geht es im Einzelfall oft um die Frage, ob ein weiterer Behandlungszyklus mit einer Medikation oder Infusion („Systemtherapie“) das Leben verlängern kann – bei erträglichen Nebenwirkungen. Bei einem fünften oder sechsten Behandlungszyklus kann dies aber oft nicht garantiert werden, die wissenschaftliche Evidenz fehlt dazu. Eine US-Studie ging nun der Frage nach, welchen Einfluss es auf die Überlebensrate hatte, wenn Krebspatienten mit metastasierten Tumoren ambulant mit einer intensiveren Therapie oder einer wenig intensiven Therapie behandelt wurden. 

Die Zahl der Therapiezyklen hatte keinen Einfluss auf die Überlebensdauer

Das Forscherteam um die Epidemiologin Maureen Canavan von der Yale School of Medicine untersuchte dazu die Daten von knapp 80.000 erwachsenen Krebspatienten mit sechs der häufigsten metastasierten Tumoren. Sie wurden alle mit den entsprechenden Krebstherapie-Zyklen ambulant behandelt. Das mittlere Alter der Patienten lag bei 67,3 Jahren. Das Verhältnis zwischen Männer und Frauen war ausgeglichen. Knapp 55% hatten schon zur Initialdiagnose ein Stadium 4, was Metastasen bedeutet.

Das Ergebnis in der im JAMA Oncology publizierten Studie (2024; 10(7):887-895. doi:10.1001/jamaoncol.2024.1129) ergab: Bei Patienten, die mehr Therapiezyklen erhalten hatten, gab es keinen feststellbaren Vorteil hinsichtlich der Überlebensrate im Vergleich zu jenen ebenfalls ambulant behandelten Patienten, wo man sich am Lebensende mit Systemtherapien zurückgehalten hat. Zwar gab es je nach Krebsart Unterschiede in der Überlebensrate, aufgrund der geringen Fallzahl waren diese aber statistisch nicht signifikant. 

Falsche Hoffnungen verzögern den Weg zu sinnvollen Angeboten  

Die Forscher empfehlen, dass Kriterien entwickelt werden sollten, anhand derer festgestellt werden kann, ab wann ein weiterer Therapiezyklus wirkungslos ist. Dies ist umso wichtiger, da der Zugang zu Palliative Care vielfach verzögert wird, solange aggressive, aber nur scheinbar wirksame Therapien angewendet werden. 

Für Georgia Schilling, Ärztliche Direktorin in der onkologischen Rehaklinik der Asklepios Nordseeklinik Westerland auf Sylt, ist die US-Studie in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. „Diese Ergebnisse sollten uns innehalten lassen, bevor wir dem Patienten noch eine Therapielinie anbieten und dann natürlich auch wieder Hoffnung induzieren“, sagt die Onkologin gegenüber Medscape (15.7.2024). Für Ärzte und medizinisches Personal sei ein weiterer Therapieversuch außerhalb der Leitlinien in einem terminalen Krebsstadium häufig die einfache Lösung: „Es ist viel einfacher für uns, über die Therapie als über ein nahes Versterben zu sprechen“. 

Informierte Entscheidung benötigt klare Kommunikation über die Prognose

Die US-Forscher gehen noch einen Schritt weiter: Sie empfehlen das Geld, das durch mögliche „Übertherapie“ eingespart wird, in eine verbesserte Pflege und Palliation am Lebensende zu investieren. Außerdem sollen Schulungen in der Kommunikation mit Sterbenskranken für Ärzte und Medizinstudenten angeboten werden. Es sei aufwändiger, Fragen nach Therapien zur Schmerzlinderung oder Sterbebegleitung zu besprechen, als aggressive, aber wirkungslose Therapien bis zum Tode anzubieten. „Wir sollten uns vielleicht mehr darauf fokussieren, die Kommunikation über die Prognose und über das Versterben zu suchen, damit der Patient auch wirklich einen Informed Consent machen kann“, resümiert Schilling die Arbeit ihrer US-Kollegen. Zudem sollten Patienten in Gesprächen ermöglicht werden zu klären, was ihnen für die verbleibende Zeit wichtig ist und was sie in ihrer schweren Krankheit und am Lebensende wirklich benötigen, beispielsweise noch Dinge zu regeln.

Wahrhaftige Aufklärung öffnet den heilsamen Raum der Hoffnung

Hoffnung im Sterben ist nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Sie stellt einen wesentlichen Faktor für die Lebensqualität der Patienten dar, deren Ziel nicht mehr das Gesundwerden sein kann. Dazu gibt es zahlreiche Studien. Der Report des britischen Royal College of Physicians (RCP) Talking About Dying: How to Begin Honest Conversations About What Lies Ahead (Update: 2021) bietet Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe Unterstützung bei Gesprächen mit Patienten am Lebensende. Ziel ist es, dass Angehörige von Gesundheitsberufen lernen, ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste zu benennen und zu überwinden.

Für Maria Carla Gadebusch Bondio, Direktorin des Institute for Medical Humanities der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Bioethik aktuell, 6.8.2019), steckt in jeder ärztlichen Prognose ein Rest an Ungewissheit, die Teil jeder wahrhaftigen Aufklärung ist. Dadurch entsteht ein Gestaltungsspielraum, der den heilsamen Raum der Hoffnung öffnet. Eine transparente Aufklärung sollte den schwerkranken Patienten deshalb in die Lage versetzen, seine Situation realistisch einzuschätzen, ohne daran zu verzweifeln. Als Hoffnungsträger für Patienten zählt Bondio Faktoren auf wie Schmerzkontrolle, Bewahrung der Würde, Kontakt mit Menschen, innere Ruhe, Humor und vor allem die Art, wie man mit ihnen über die Prognose spricht.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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