Ethik der Interpersonalität in der Gesundheitsversorgung

Imago Hominis (2012); 19(2): 107-113
Martin W. Schnell

Zusammenfassung

Ärzte und Pfleger gestalten den Patientenkontakt als einen interpersonellen Schutzbereich in je unterschiedlicher Weise. Beide Weisen stoßen auf Grenzen, mit denen die Heilberufler umzugehen haben. Diese Ergebnisse resultieren aus einer Untersuchung auf onkologischen Stationen.

Schlüsselwörter: Interpersonalität, Ethik als Schutzbereich

Abstract

Physicians and Nurses organize their contact to patients as an interpersonal area of protection each in a different way. Both ways meet with borders, healthworkers have to handle. These results follow from a study on oncological units.

Keywords: Interpersonal Relations, Ethics as an Area of Protection


Die Rede von einer Ethik der Interpersonalität impliziert, dass das, was sich zwischen Personen abspielt, das ethisch Relevante ist. Da diese allgemeine Aussage auf den speziellen Zusammenhang der Gesundheitsversorgung bezogen werden soll, erfolgt ihre Näherbestimmung vor dem Hintergrund einer Ethik des Gesundheitswesens.

1. Was ist Ethik im Gesundheitswesen?

Eine genuine Ethik im Gesundheitswesen besteht ihrerseits aus drei Disziplinen: einer Ethik als nichtexklusivem Schutzbereich, einer Ethik als empirischem Phänomen und aus einer Forschungsethik.

Im Mittelpunkt der Ethik als Schutzbereich steht das Bemühen um eine nichtexklusive Ethik des bedürftigen Menschen im Schnittpunkt von Philosophie, Medizin, Pflegewissenschaft und Behindertenpädagogik. Deren Ziel ist die Einlösung der Idee, dass niemand aus dem Achtungs- und Schutzbereich des Ethischen herausfallen darf – schon gar nicht kranke Menschen, pflegebedürftige Menschen oder behinderte Menschen.1

Der Forschungsethik geht es um eine Beurteilung von ethisch relevanten Einflüssen, die Forschung (vulnerablen) Probanden und dem Forscher selbst zumutet. Ihr Ziel ist es, Schutz und ethische Prävention für diese Personen zu gewährleisten und die Forschungsfreiheit zu fördern.2

Zur Ethik als empirischem Phänomen zählen Ausmessungen eines heilberuflich relevanten Schutzbereiches durch empirische Forschung. Deren Ziel ist es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Achtung und Schutz im Alltag gewährt oder verwehrt werden (durch Ärzte, Pflegende, Therapeuten…).3

Entsprechende Projekte befassen sich mit einer empirischen Erforschung des Aufbaus von Achtung und Schutz im pflegerischen Versorgungsalltag und dort unter anderem mit den Lokalitäten des Altenheims,4 der Psychiatrie,5 der Palliativstation6 und anderem mehr.

2. Ethik der Interpersonalität

Die Frage nach einer Ethik der Interpersonalität wird an dieser Stelle als ein Beispiel für eine Untersuchung im Sinne einer Ethik als empirischem Phänomen betrachtet, also als eine Frage, die durch Antworten aus der Praxis im Licht empirischer Forschung bearbeitet wird.

Wenn Interpersonalität in dieser speziellen Hinsicht somit als das zentrale ethische Phänomen betrachtet werden soll, dann ergeben sich daraus zwei Nachfolgeprobleme:

  •  Wie werden im heilberuflichen (ärztlichen, pflegerischen etc.) Versorgungsalltag Achtung und Schutz aufgebaut und gewährt – oder auch verwehrt?
  • Wie kann diese Frage durch empirische Forschung beantwortet werden?

Die Wahl der Interpersonalität als Generator für Achtung und Schutz wird plausibel vor dem Hintergrund, dass Pflegende von sich aus die Interpersonalität als Basis und Ziel ihrer Tätigkeit benennen. Die Pflege sieht sich als Anwalt des Patienten: Pflegende sind für den Patienten „da“, sie schaffen eine Atmosphäre der Zuwendung. Pflege versteht sich als Bindeglied und als „Übersetzer“ zwischen Arzt und Angehörigen.7

Im Bereich der Pflegetheorien ist Interpersonalität ebenfalls eine zentrale Kategorie. Man denke etwa an das bekannte Diktum Hildegard Peplaus: „Die entscheidenden Elemente in Pflegesituationen sind offensichtlich die Pflegeperson, der Patient, und was zwischen ihnen vorgeht.“8 Oder man denke an Martin Bubers Philosophie des dialogischen Prinzips, die wiederum Tom Kitwood, den Nestor der personzentrierten Pflege, geprägt hat.9

In der Medizinethik ist Interpersonalität ein Topos der sog. sprechenden Medizin, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert als Widerpart zu einer einseitig naturwissenschaftlich verstandenen Arzttätigkeit herausbildet und seither mit den Namen Victor von Weizsäcker, Thure von Uexküll und Klaus Dörner verbunden ist.10

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Interpersonalität ein Prinzip in der Medizin und in der Pflege ist und dass beide Heilberufe anhand dieses Prinzips miteinander verglichen werden können.11

3. Forschungsprojekt

Bei der Untersuchung des Aufbaus des interpersonalen Patientenkontakts bietet es sich somit an, nicht nur Daten aus dem Bereich der Pflege zu erheben, sondern, um mögliche Kontraste zu erzielen, auch Daten, die die Handlungsweisen von Ärzten zum Gegenstand haben. Aus dieser Überlegung resultiert die Suche nach dem Setting, also nach dem zu erforschenden Versorgungsbereich. In welchem Versorgungsbereich haben Pflegende und Ärzte die Möglichkeit, eine Beziehung zum selben Patienten aufzubauen?

Eine Beziehung umfasst mehr als nur eine Anzahl von Begegnungen! Zudem sollten Ärzte und Pflegende denselben Patienten begegnen. Ein Vergleich zwischen Ärzten und Pflegenden hinsichtlich des Aufbaus von Interpersonalität setzt nämlich eine Vergleichbarkeit voraus, die am besten dadurch erzielt wird, dass Pflegende und Ärzte aus einem Versorgungsbereich als Probanden gewählt werden, in dem sie mit denselben Patienten umgehen.

Als geeignetes Setting wurden daraufhin onkologische Stationen gewählt. Onkologiepatienten haben einen hohen Begleitungsbedarf über einen längeren Zeitraum, oft während mehrerer Klinikaufenthalte. Zu Onkologiepatienten können Pflegende und Ärzte eine Beziehung aufbauen. Pflege und Medizin erheben von sich aus den Anspruch, eine „gute“ Beziehung zum Patienten aufbauen zu wollen. Damit sind sachlich aufeinander bezogene (also nicht zufällige) und zeitlich aneinander anknüpfende (also mehrere) Begegnungen gemeint. Die genaue Anzahl ist variabel. Im Hausarztwesen etwa bezeichnen COPD-Patienten die Begegnungen mit ihrem Arzt schon als Beziehung, wenn diese nur dreimal im Jahr für insgesamt ca. 30 Minuten zustande kommen und wenn die Patienten mit den Treffen zufrieden gewesen sind.12 30 Minuten in zwölf Monaten! Im Hinblick auf stationär behandelte Onkologiepatienten steht deutlich mehr Zeit bei vermutlich auch größerem Hilfebedarf zum Aufbau einer Beziehung zur Verfügung.

4. Fragestellung

Die Fragestellung des Forschungsprojekts lautet: „Wie gestaltet sich der Patientenkontakt mit onkologischen Patienten im Vergleich der Berufsgruppen der Pflegenden und der Ärzte?“

5. Methode

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde ein Methodenmix gewählt, da eine singuläre Methode zu viele Nachteile mit sich bringen würde.

Zunächst erfolgte eine Befragung der Ärzte und der Pflegenden nach ihrem Verständnis einer guten Beziehung zum Patienten. Die Befragung bietet den Vorteil, einen Einblick in deren subjektive Sicht zu erhalten. Sie hat allerdings den Nachteil, soziale Wünschbarkeiten zu provozieren. Hingegen hat die Beobachtung der Probanden den Vorteil, Einblick in das zu gewähren, was Pflegende und Ärzte gegenüber dem Patienten tun. Sie hat jedoch den Nachteil, dass dabei fraglich bleibt, was das Beobachtete zu bedeuten hat.

Diese Einschätzung führte dazu, einen Methodenmix aus Interview und Beobachtung in einem Dreischrittverfahren anzuwenden. Die Probanden wurden zunächst danach gefragt, was sie als gute Idealbeziehung zum Patienten bezeichnen (Schritt 1), dann wurden sie in ihrer alltäglichen Beziehungsgestaltung zu Patienten beobachtet (Schritt 2), schließlich wurden ihnen die Beobachtungen im Lichte des geäußerten Ideals zur Interpretation vorgelegt (Schritt 3).

Fokussiertes Leitfaden-Interview (Schritt 1)„Wie gestalten Sie den Kontakt zu Patienten? Wie sähe eine ideale Beziehung aus?“
Teilnehmende Beobachtung (Schritt 2)Wie wird Kontakt hergestellt? (Beobachtungsbogen)
Evaluationsinterview (Schritt 3)„Sie haben das Ideal der Beziehung als x bezeichnet und in der Praxis y getan. Was bedeutet das?“ (y=x oder y#x)

6. Forschungsethik

Die methodische Durchführung erfolgt unter forschungsethischen und datenschutzrechtlichen Bedingungen. Pflegende und Ärzte zählen als Probanden zu den Experten und sind daher keine vulnerablen Personen. Eine besondere ethische Prävention ist in ihrem Falle nicht angezeigt.13 Anders verhält es sich im Falle der Onkologiepatienten. Sie sind von der Typik her vulnerable Personen, treten innerhalb des Projekts aber nicht als Probanden auf. Sie werden nicht interviewt, von ihnen werden keine personenbezogenen Daten erfragt. Sie erhalten eine Information über das Projekt und müssen selbstverständlich zustimmen, dass die teilnehmende Beobachtung in ihrer Gegenwart erfolgt, sofern sie, die Patienten, sich dazu in der Lage fühlen.

Pflegende und Ärzte, also die Probanden im eigentlichen Sinne, erhalten eine Information. Sie leisten eine schriftliche informierte Zustimmung, die auch die Pseudonymisierung ihrer personenbezogenen Daten regelt. Das gesamte Projekt ist schließlich von einer Ethikkommission begutachtet worden.

7. Durchführung der Datenerhebung

Die Daten wurden an drei onkologischen Stationen erhoben. Es erfolgten Interviews mit insgesamt 6 Pflegenden und 6 Ärzten. Die Beobachtungen der 12 Probanden geschahen jeweils während einer ganzen Schicht.

Bei der Durchführung der Beobachtungen stellte sich ein bekanntes Phänomen ein. Die Beobachter saßen in den Patientenzimmern und warteten darauf, dass sich die Tür öffnet und eine Pflegende oder ein Arzt eintritt und den Kontakt zum Patienten aufnimmt und in bestimmter Weise gestaltet. Diese Gestaltungen wurden protokolliert. Während der Wartephasen waren Patient und Beobachter allein im Zimmer. Indessen sollte der Beobachter keinen ausdrücklichen Kontakt zum Patienten eingehen, um die Beobachtung des Bezugs zu den eintretenden Heilberuflern nicht zu beeinflussen (etwa durch kleine Handreichungen, die das Klingeln nach der „Schwester“ überflüssig machen würden). Es zeigte sich jedoch, dass, wie in Bent Hamers Film Kitchen Stories gezeigt, der Patient von sich aus einen Kontakt zum anwesenden Beobachter gesucht hat. Kleine Gespräche, kurze Gesten und Handlungen waren offenbar unvermeidlich, da sich die Anwesenden als Menschen und nicht nur als Forscher und als Beobachtungsobjekt wahrgenommen haben. Die dadurch entstehende Verzerrung ist unvermeidlich und ihrerseits zu protokollieren. Die Verzerrungseffekte konnten dadurch reduziert werden, dass in den Interaktionen zwischen Patient und Beobachter alle Items, die, wie krankheitsbezogene Informationen, Fragen nach dem Wohlbefinden etc., von Ärzten und Pflegenden bedient werden sollten, ausgespart worden sind.

8. Methode der Datenauswertung

Gemäß der in drei Schritten erfolgten Datenerhebung baut sich die Datenauswertung ebenfalls in drei Schritten an. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf eine summarische Zusammenfassung.

In den Leitfadeninterviews trat immer wieder die Aussage „Ich bin für den Patienten da“ auf. Diese Aussage erhielt den Code „Da-sein“ (Schritt 1). Ebenso erfolgte eine Codierung beobachteter Merkmale. Beispiel: Proband kommt ins Zimmer, sagt dem Patienten, dass sich die Untersuchung um 1 Stunde verschiebt und geht direkt wieder. Dauer 15 Sekunden. Codierung = „Erklärung abgeben“ (Schritt 2). Zur Kontrastierung erfolgte dann das Evaluationsgespräch: „Sie haben dem Patienten kurz und einfach erklärt, dass sich die Untersuchung um 1 Stunde verschieben wird. Die Erklärung ging schnell, es gab keine Diskussion und keine Rückfragen. Bedeutet das für Sie „für den Patienten ,Da-sein‘?“ Die Antworten der Probanden auf diese Frage bilden die eigentlichen Ergebnisse der Studie. Sie zeigen, wie sich der Patientenkontakt mit onkologischen Patienten im Vergleich der Berufsgruppen der Pflegenden und der Ärzte gestaltet.

9. Ergebnisse

Ich beschränke mich wiederum auf wesentliche Aspekte (die komplette Studie ist nachzulesen bei M. Eicher14).

Die Selbsteinschätzung (gemäß Schritt 1) besagt, dass der Kontakt Pflegender zu Patienten idealerweise als ambitionierte Begegnung gestaltet werden soll („Mein Anspruch an mich … Ich hab den Patienten nicht stehen lassen … Ich bin mit ihm da durch.“). Ärzte begreifen den Kontakt als Informationsgabe („Man muss dem Patienten erklären, was man tut, dann ist er häufig viel ruhiger.“).

Die Beobachtung (gemäß Schritt 2) ergab, dass es zu 792 Kontaktereignissen (wie Ansprechen, Antworten, Körperberührung, Blickkontakt, …) auf Seiten der Pflegenden und zu 885 durch Ärzte gekommen ist. Die Kontaktdauer pro Schicht pro Patient durch die Pflegenden lag etwa bei 35 Minuten, bei den Ärzten bei etwa 33 Minuten. Die Kontaktereignisse der Pflegenden dienten der Förderung des Wohlbefindens (u. a. durch Mitteilung privater Dinge), die Kontaktereignisse durch Ärzte der Unterbreitung von Vorschlägen, der Beantwortung von Fragen (u. a. Wertschätzung, Respekt).

Die Evaluation (gemäß Schritt 3) mittels der Frage „Sie versuchen eine angenehme Atmosphäre zu erzeugen. Gelingt ihnen das immer?“ beantworteten die Pflegenden mit den Worten: „Nein, oft bin ich überfordert oder es gibt Konflikte.“ Auf die Frage: „Sie erklären dem Patienten die Diagnose und die Therapie und besprechen diese Dinge mit ihm. Versteht der Patient die Informationen immer?“ erwiderten die Ärzte: „Nein, Patienten haben oft Angst oder andere Sorgen, außerdem haben sie eine andere Alltagssprache als wir.“

Zusammenfassend und pointiert kann als Ergebnis der Untersuchung festgehalten werden: Ärzte gestalten den Patientenkontakt zu onkologischen Patienten als Informationsvermittler. Pflegende gestalten den Patientenkontakt zu onkologischen Patienten hingegen als Empathieträger. Beide Berufsgruppen leben den Patientenkontakt jedoch mit einer gewissen Differenz von Anspruch und Wirklichkeit.

10. Diskussion

Der berufsspezifische Habitus (Arzt = Technokrat, Pflege = Gefühlsarbeiter) bedarf der Revision, da beide Modi im Alltag Grenzen haben. Die Grenze der Wirksamkeit des Technokraten liegt darin, dass der Patient nicht alle relevanten Informationen versteht. Die Grenze der Gefühlsarbeit zeigt sich wiederum darin, dass Gefühlsarbeit eine Anstrengung ohne Grenzen sein kann, die Pflegende potentiell überfordert und die somit nicht jeden Patienten berücksichtigt.

Die Tatsache, dass beide Berufsgruppen den Patientenkontakt mit einer gewissen Differenz von Anspruch und Wirklichkeit durchführen, zeigt, dass das Handeln keine Anwendung von Theorien und Modellen der Ethik und der Kommunikation auf einen Einzelfall ist. Ethik in der Praxis ist eine Unschärfe, eine Abweichung, ein Sinn dafür, wie sehr man von Aristoteles oder Kant abrücken darf, ohne sie zu verraten.

Der Schutzbereich des Ethischen wird von Ärzten und von Pflegenden von entgegen gesetzten Seiten aufgebaut. Der Arzt eröffnet das interpersonale Feld mit einer Aufforderung: „Der Nächste bitte!“ Der Arzt ist aktiv und spricht den Patienten an. Er schafft dadurch eine geordnete Dyade, ist selber aber für fürsorgliche Aspekte und für Dritte unzugänglich. Die Pflegenden werden hingegen in Interpersonalitäten hineingezogen durch die „Bitte des Nächsten.“ Pflegende sind in der passiven Position, angesprochen zu werden, und da es viele Nächste gibt, zu dauernder Fürsorge aufgerufen. Es ist unklar, wie sie von sich aus eine Ab- und Eingrenzung ihrer Tätigkeit vornehmen können.15

11. Ausblick

Die Durchführung der heilberuflichen Tätigkeit im Licht einer gewissen Differenz von Ideal und Wirklichkeit ist offenbar unumgänglich. Das gilt bereits für Ausbildung und Studium.16 Ein Ideal lässt sich nicht immer verwirklichen, dennoch muss an ihm festgehalten werden. Eine Pflegende von einer onkologischen Station sagt dazu: „Ich liebe meine Patienten, aber manchmal bin ich überfordert. Soll ich deshalb gleichgültig werden?“

Es stellt sich jedoch die Frage, was geschieht, wenn die Differenz von Ideal und Wirklichkeit zu groß wird. Die europäisch angelegte NEXT-Studie (Nurses‘ early exit) untersucht Gründe für den Berufsausstieg von Pflegenden in den Dimensionen:

  a)  Arbeitsorganisation (Schichtsystem),
  b)  körperliche Anstrengung (Heben und Tragen),
  c)  psychosoziale Situation (Anerkennung und Belohnung).17

Es kann gefolgert werden, dass etwa dauerhafte Differenzen zwischen Ideal und Wirklichkeit eine Mangelsituation bedeuten und Burn-Out oder andere Leiden befördern. Mögliche Folgen dieser Situation sind:

  a)  Berufsausstieg oder
  b)  Unzufriedenheit im Beruf

Sofern es nicht zum Berufsausstieg kommt und die Pflegekraft daher mit dauernder Unzufriedenheit im Beruf verharrt, können wiederum Hass auf die Organisation und Ablehnung der eigenen Tätigkeit als Folgen verzeichnet werden. Den negativen Endpunkt einer solchen Tendenz bilden ethisch problematische Handlungen. Unter ihnen ist wiederum die Patiententötung sicherlich das Schlimmste. Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Unzufriedenheit, Zynismus, und eine schlechte Teamkommunikation unter anderem einen Nährboden für die Verübung von Patiententötungen durch Pflegende abgegeben haben.18

Dieser extreme, von jeder Ethik weit entfernte Außenpunkt zeigt, dass Interpersonalität nie allein einen Schutzbereich des Ethischen gewährleisten kann. Gelingende Interpersonalität ist vielmehr auf funktionierende Kommunikation, gerechte Grundstrukturen der Institutionen und auf einen ausreichenden Einsatz von Ressourcen und Personal der Gesundheitsversorgung angewiesen.19

Referenzen

  1. Schnell M. W., Ethik als Schutzbereich, Huber, Bern (2008); Dederich M.,Schnell M. W. (Hrsg.), Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik, transcript Verlag, Bielefeld (2011)
  2. Schnell M. W., Heinritz Ch., Forschungsethik, Huber, Bern (2006)
  3. Schnell M. W., Ethik als empirisches Phänomen, in: Schnell M. W. (Hrsg.), Ethik der Interpersonalität. Die Zuwendung zum anderen Menschen im Licht empirischer Forschung, Schlüter, Hannover (2005)
  4. Josat S., Schnell M. W. et al., Qualitätskriterien in der stationären Altenhilfe, Pflege (2006); 2: 127-139
  5. Haynert H., Schnell M. W., Psychisch Kranke im Licht einer Ethik als nichtexklusivem Schutzbereich, Pflegezeitschrift (2009); 7: 45-62
  6. Schnell M.W., Schulz Chr., Möller M., Dunger Chr., Autonomie und Fürsorge am Lebensende, in: Schnell M. W. (Hrsg.), Patientenverfügung. Begleitung am Lebensende im Zeichen des verfügten Patientenwillens, Huber, Bern (2009)
  7. Wagner E., Operativität und Praxis. Der systemtheoretische Operativitätsbegriff am Beispiel ethischer Medizinkritik, in: Kalthoff H. et al. (Hrsg.), Theoretische Praxis, Suhrkamp, Frankfurt/M. (2008), S. 445
  8. Peplau H., Zwischenmenschliche Beziehungen in der Pflege. Ausgewählte Werke, Huber, Bern (2009), S. 21
  9. Schnell M. W., Weisheit des alten Menschen, Z Gerontol Geriat (2010) 43: 393-398
  10. Schnell M. W., Das medizinische Feld und der geistige Raum des Arztes, in: Bedorf Th. (Hrsg.), Zugänge. Ausgänge. Übergänge. Konstitutionsformen des sozialen Raums, Königshausen und Neumann, Würzburg (2009)
  11. Schnell M. W., siehe Ref.1
  12. Langer Th., Arzt/Patient-Beziehung zwischen Individualität und Funktionalität – wie Patienten ihre Beziehung zum Arzt beschreiben, in: Schnell M. W. (Hrsg.), Ethik der Interpersonalität. Die Zuwendung zum anderen Menschen im Licht empirischer Forschung, Schlüter, Hannover (2005)
  13. Schnell M. W., Heinritz Ch., siehe Ref. 2; Schnell M. W., Pflegeforschungsethik, in: Brandenburg H. et al. (Hrsg.), Pflegewissenschaft 2, Huber, Bern (2007)
  14. Eicher M., Verantwortungsbewusste Experten und Virtuosen der Empathie?, in: Schnell M. W. (Hrsg.), Ethik der Interpersonalität. Die Zuwendung zum anderen Menschen im Licht empirischer Forschung, Schlüter, Hannover (2005)
  15. Schnell M. W., siehe Ref.3
  16. Schnell M. W., Langer Th., Arzt/Patient-Kommunikation im Medizinstudium, in: Langer Th., Schnell M. W. (Hrsg.), Das Arzt-Patient-Gespräch, Marseille, München (2009)
  17. Hasselhorn H. M., Müller B. H., Arbeitsbelastung und -beanspruchung bei Pflegepersonal in Europa – Ergebnisse der Next-Studie, Fehlzeiten-Report 2005, Vol. 2005, S. 21-47, Heidelberg (2005)
  18. Schüßler N., Schnell M. W., Patiententötung – Das Team im Zeichen des Bösen, Die Schwester/Der Pfleger (2010); 7: 122-134
  19. Schnell M. W., Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung, in: Bauer U., Büscher A. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Pflege, VS, Wiesbaden (2008)

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, M.A. 
Direktor
Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen, Department Pflegewissenschaft 
Fakultät für Gesundheit, 
Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Straße 50, D - 58448 Witten
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