Die Rolle der Angehörigen im ethischen Fallgespräch

Imago Hominis (2012); 19(3): 169-176
Klaus Kobert

Zusammenfassung

Ein Ziel interprofessioneller ethischer Fallbesprechungen ist häufig, den mutmaßlichen Willen eines in der Regel nicht-kommunikationsfähigen Patienten bezüglich weiterer Behandlungsmöglichkeiten herauszufinden. In einem solchen Gespräch können die Angehörigen und andere dem Patienten Nahestehende entscheidende Informationen zu seiner Persönlichkeit und Lebensgeschichte einbringen, die von keinem anderen Personenkreis beigesteuert werden können. Deshalb ist die direkte Beteiligung von Familienmitgliedern an dem Prozess der Entscheidungsfindung von besonderer Bedeutung und wird von uns grundsätzlich angestrebt.
Zudem erleben Angehörige ihre Einbeziehung als entlastend, da sie erfahren, in welch verantwortungsvoller Weise das Fallgespräch geführt wird. Das Erleben eines respektvollen, fürsorglichen und differenzierten Umgangs mit existentiellen Fragen kann – im Gegensatz zur Einschätzung von medizinischen Abwägungen und Prognosen – von den Familienmitgliedern auf der Basis ihrer bisherigen Lebenserfahrung beurteilt werden.

Schlüsselwörter: Ethische Fallbesprechung, Patientenbeteiligung, Angehörige

Abstract

A comprehensive ethics case consultation process requires the concurrent participation of patients, families or surrogates to identify the patient’s treatment preferences. Relatives have a crucial role in ethics consultation because they are able to contribute aspects of the patient in a unique way. Any process that relies on the representation of their views obtained beforehand by medical or other professionals is flawed and it denies the patient and/or his family members the opportunity to engage authentically in a process in which they are central.
In addition the relatives often benefit from the participation because they have the opportunity to experience and judge the way, the decision has been formed. This can help them to bear the burden of the crisis. In that sense we vote for “Talking with the patient and not about him” – even if he is represented by family-members.

Keywords: Clinical Ethics Consultation, Patient Involvement, Family Members, Participation


Einleitung

Im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld (EvKB) werden seit 1996 regelmäßig strukturierte ethische Fallbesprechungen durchgeführt. Dabei handelt es sich um interdisziplinäre und multiprofessionelle Gespräche, die seit 2007 von einem Mitarbeiter des in selbigem Jahr gegründeten Ethikberatungsdienstes moderiert werden. Ein weiterer Ethiker übernimmt dabei die Rolle des Ko-Moderators und Protokollanten.

Ziel dieser Ethikberatungen ist es eine Entscheidung zu finden, die sowohl dem Patienten und seinen Behandlungswünschen als auch den moralischen Werten der anderen Beteiligten gerecht wird. Dabei wird eine Modifikation der Nimwegener Methode zur Ethikkonsultation angewandt.1

Die Auswertung der Daten vom 1.1.2007 bis zum 31.12.2011 zeigt, dass 7,6% (14 von 184) der Fallgespräche mit Beteiligung des Patienten durchgeführt wurden. Diese fanden in der Mehrzahl in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie statt. Hier waren die Patienten in der Lage, ihre eigene Position zum Ausdruck zu bringen, auch wenn in der Regel ein rechtliches Betreuungsverhältnis bestand und der gesetzliche Stellvertreter ebenfalls am Gespräch teilnahm.

Die übrigen ethischen Fallbesprechungen (92,4%; 170 von 184) fanden ohne die Beteiligung des Patienten statt. Die Begründung dafür liegt im medizinisch instabilen Zustand und der damit verbundenen Kommunikationsunfähigkeit der Betroffenen (ein gesetzlicher Vertreter – Eltern minderjähriger Kinder, Vormund, Vorsorgebevollmächtigter oder Betreuer- war in 57,1% (105 von 184) der Gespräche miteinbezogen). Somit war es in diesen Fällen unmöglich, Wünsche und Präferenzen von den Patienten direkt zu erfahren. Deshalb werden unter diesen Bedingungen im EvKB Angehörige oder dem Patienten nahe stehende Personen in den Entscheidungsfindungsprozess in der Regel miteinbezogen, indem ihnen die Teilnahme an diesen Gesprächen grundsätzlich angeboten wird.

Kernpunkte von Fallbesprechungen – Die ethische Rechtfertigung medizinischer Maßnahmen

In ethischen Fallbesprechungen wird häufig die Frage nach der weiteren Gestaltung und Intensität der Behandlung angesprochen. Unsere Daten der Jahre 2007 – 2011 zeigen, dass sie in 78,8% (145 von 184) von zentraler Bedeutung war.

Im Allgemeinen müssen drei Voraussetzungen gegeben sein, damit eine Behandlung ethisch gerechtfertigt ist:

  1. Die therapeutische Intervention ist indiziert, also grundsätzlich wirksam zur Behandlung der Erkrankung oder der Symptome. Darüber hinaus sollte sie für den konkreten Patienten im Sinne einer Nutzen-Risikoabwägung angemessen sein.
  2. Nach umfassender Aufklärung hat der Patient in die Durchführung der angezeigten Therapie eingewilligt. Nur so kann aus einer Körperverletzung – und nach deutschem Recht zählt dazu auch die Durchführung einer Operation – eine erlaubte Heilbehandlung werden.
  3. Die Behandlung wird in einwandfreier Weise nach dem aktuellen Erkenntnisstand durchgeführt.

zu 1.: Indikation

Die Indikationsstellung ist eine ärztliche Aufgabe. Dabei kann die ethische Fallbesprechung einen Rahmen bieten, der eine differenzierte fächerübergreifende Auseinandersetzung unterstützt.

Bei der Abwägung von Nutzen und Risiken für den Patienten kommt der Prognosestellung eine entscheidende Bedeutung zu.2 Sie kann häufig nur in der Summe, als Ergebnis einer Gesamtschau, gestellt werden, also unter Einbeziehung aller an der Behandlung beteiligten Disziplinen (wie beispielsweise Intensivmedizin, Chirurgie und Neurologie). Letztlich bleibt dabei fast immer ein veritables Maß an Unsicherheit bestehen, da die Beurteilung auf Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungen basiert.

An dieser Stelle können die Beobachtungen und Einschätzungen anderer Berufsgruppen von großer Wichtigkeit sein, die gleichberechtigt im ethischen Fallgespräch eingebracht werden. Hier ist insbesondere die Pflege zu nennen. Zum Beispiel kann ein Patient, der nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann, sich gegen die Nahrungsaufnahme wehren, z. B. in dem er die Lippen aufeinander presst. Daneben lässt er aber pflegerische Maßnahmen, wie beispielsweise Intimpflege, zu, die ihm früher zuwider war und die er deshalb nach Möglichkeit abgelehnt hat. Er tut so möglicherweise seinen Willen kund, in dem er sich gegen die Nahrungsaufnahmen entscheidet, aber gepflegt werden möchte. Diese Beobachtung macht die Pflege und kann so Hinweise und Informationen geben, die keine andere Berufsgruppe beisteuern kann.

zu 2.: Einwilligung

Wenn eine Indikation zu bestimmten medizinischen Maßnahmen gestellt worden ist, muss der Patient für sich selbst beurteilen, ob die aufgezeigten Optionen mit den benannten Erfolgsaussichten und Risiken seinen persönlichen Präferenzen entsprechen, um sodann in die vorgeschlagenen Maßnahmen einzuwilligen oder sie abzulehnen.

Wenn ein einwilligungsfähiger Patient nach angemessener Aufklärung eine solche Entscheidung trifft, ist diese bindend, unabhängig davon, ob sie als medizinisch sinnvoll eingestuft wird oder nicht.3 Bei einer solchen Konstellation wird sehr selten ein ethisches Fallgespräch angefordert.

Ist ein Patient nicht-einwilligungsfähig, also nicht in der Lage, aktuell seinen Willen bilden und zum Ausdruck bringen zu können, muss stellvertretend versucht werden, den Patientenwillen zu eruieren.4 Zu diesem Zweck stehen verschiedene Quellen bereit:

a) Liegt eine Patientenverfügung vor, ist sie nach deutscher Gesetzgebung bindend, wenn die in ihr gemachten Vorgaben die aktuelle Situation genau treffen. Häufig ist diese Voraussetzung jedoch nicht gegeben, sodass die Behandlungsverfügungen analysiert und interpretiert werden müssen. Zum Beispiel kann es sein, dass ein Patient sich in seiner Patientenverfügung gegen eine Beatmung ausgesprochen hatte. Der Wortlaut deckt aber nicht ab, ob eine dauerhafte Maßnahme abgelehnt wird oder ob der verfasste Wille auch eine kurzzeitige Beatmung ausschließt. An dieser Stelle können Angehörige wertvolle Beiträge leisten, insbesondere wenn sie bei der Erstellung der Patientenverfügung anwesend waren oder vor der gegenwärtigen Krise mit dem Patienten über Fragen zu medizinischen Entscheidungen in schwierigen Lebenslagen gesprochen haben. So kann es sein, dass der Patient aus eigener Erfahrung eine Heimbeatmung, wie er sie bei einem Jugendfreund erlebt hat, für sich nicht vorstellen kann. Eine Beatmung mit der Perspektive, dass diese der Entlastung und Stabilisierung seines gesundheitlichen Zustandes dient und nur zeitlich begrenzt zur Überbrückung einer Krise eingesetzt wird, ist aber durch ihn gewünscht.

Bei den 184 Fallgesprächen der Jahre 2007 – 2010 im EvKB lag in 14,1% (26 Fälle) eine Patientenverfügung vor. Nach einer Umfrage der Deutschen Hospizstiftung im Jahr 2005 haben in Deutschland derzeit ca. 14% der Bevölkerung eine Patientenverfügung erstellt. Damit entspricht der Anteil der Patienten mit persönlicher Patientenverfügung, deren weitere Behandlung in einen Fallgespräch reflektiert wurde, ziemlich genau dem Bundesdurchschnitt. Diese Zahlen können ein Hinweis darauf sein, dass die praktische Anwendung von Patientenverfügungen in der Klinik tatsächlich häufig mit Klärungsbedarf verbunden ist.

Angehörige erleben es grundsätzlich als entlastend, wenn sie sich in ihren Aussagen zum Patientenwillen auf eine Patientenverfügung stützen können.5

b) Wenn keine Patientenverfügung vorliegt, soll bei der Entscheidungsfindung nach der deutschen Gesetzgebung der mutmaßliche Patientenwille durch die Befragung von Bezugspersonen ermittelt werden.6 Dabei ist es das Ziel herauszufinden, was der Patient in der aktuellen Situation wünschen würde, wenn er sich äußern könnte. Hier sind Berichte von Angehörigen über frühere Äußerungen des Betroffenen eine wichtige Informationsquelle.

c) Wenn kein verfügter Patientenwille vorliegt und kein mutmaßlicher Wille ergründet werden kann, etwa weil die Themen Krankheit, Sterben und Tod in der betreffenden Familie nicht angesprochen wurden, muss sich das Behandlungsteam gemäß dem Grundsatz in dubio pro vita für den Lebenserhalt entscheiden.7

zu 3.: Durchführung der Therapie

Die Frage, ob eine Behandlung lege artis erfolgt, ist selten Gegenstand einer ethischen Fallbesprechung.

Zur Klärung der hier beschriebenen Sachverhalte hat sich im EvKB das eingangs beschriebene strukturierte ethische Fallgespräch etabliert und bewährt. Es dauert durchschnittlich 55 Minuten, wobei der Zeitaufwand in den unterschiedlichen Bereichen variiert. In der Psychiatrischen Klinik beispielsweise sind es im Mittel 78 Minuten.

Das ethische Fallgespräch kann bei Bedarf kurzfristig einberufen werden, wobei die Anregung dazu von jedem Mitarbeiter, dem Patienten, seinem gesetzlichen Vertreter sowie seinen Angehörigen ausgehen kann. Ein zentraler Punkt unserer Methode ist dabei die direkte Beteiligung von Angehörigen.8

Ein ausführliches Protokoll wird der Patientenakte beigefügt. So werden Klarheit und Transparenz für Mitarbeiter, die nicht am Fallgespräch teilgenommen haben, geschaffen.

Weitere Angebote sind Ethik-Liaisondienste und die regelmäßige, terminierte Durchführung von Ethikvisiten, vornehmlich auf Intensivstationen. Diese Formen der Ethikberatung finden im EvKB wegen ihrer organisatorischen Struktur grundsätzlich ohne die Beteiligung von Angehörigen statt.9 Sie sind vom ethischen Fallgespräch zu unterscheiden und nicht Gegenstand dieses Beitrags.

Argumente für die Einbeziehung von Angehörigen in das ethische Fallgespräch

1. Informationsgewinn

In dem Bemühen um einen angemessenen und professionellen Entscheidungsfindungsprozess ist also, wie oben dargestellt, ethisch wie rechtlich geboten, dem Selbstbestimmungsrecht eines nicht-einwilligungsfähigen Patienten Geltung zu verschaffen.

Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass Angehörige einen wertvollen Beitrag bei der Entscheidungsfindung leisten. Sie bringen Informationen zur Lebensgeschichte des Patienten ein, berichten von seinen Lebenseinstellungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Ängsten und Wünschen. Hilfreich sind hier häufig die Darstellungen von schweren Krankheitsfällen in der Familie und der Positionierung des Patienten dazu.

Wenn dies direkt im ethischen Fallgespräch geschieht, beeinflussen die Familienmitglieder die Interaktion und somit den Entscheidungsfindungsprozess unmittelbar, und Nachfragen können sofort gestellt werden.10 So ist es möglich, dass die Ehefrau des Patienten beispielsweise berichtet, dass ihr Mann große Probleme damit hatte, seine Mutter in einem Pflegeheim zu besuchen und dass er die Pflegebedürftigkeit als sehr belastend und für ihn nur schwer ertragbar empfunden hat.

Die Anwesenheit der Ehefrau bewirkt, dass Missverständnisse medizinischer und ethischer Natur beseitigt werden können und dass die Werte des Patienten gehört und nicht unbeabsichtigt übergangen werden. Die Teilnahme der Angehörigen hat zudem zur Folge, dass Aspekte, die für sie bedeutsam sind, z. B. der Wunsch, den Patienten möglichst zeitnah wieder zu Hause versorgen zu können, direkt von ihnen aus angesprochen werden können. Auf diese Weise werden sie zu Akteuren und verlassen die Rolle der reinen Informationslieferanten.

Alternativ zu der skizzierten Methodik werden von einigen europäischen Beratungsdiensten die Angehörigengespräche zur Ermittlung des Patientenwillens bereits vor dem eigentlichen Fallgespräch durch einzelne Mitglieder des Beratungsteams geführt. Diese Vorgehensweise führt aber dazu, dass die Informationen lediglich durch Dritte weitergegeben werden und so die Gefahr der verfälschten Interpretation besteht und die Möglichkeit der authentischen Partizipation für alle Seiten ungenutzt bleibt.

2. Fürsorglicher Umgang mit emotionalen Belastungen

Die Teilnahme an einem ethischen Fallgespräch ist für Angehörige in der Regel emotional fordernd. Ursächlich dafür ist die Lebenskrise, in der sie und ihr Angehöriger sich befinden, und nicht das Gespräch an sich. Um die im Zusammenhang mit der Teilnahme stehenden Belastungen möglichst gering zu halten, hat sich folgende Vorgehensweise bewährt:

Zunächst sollte die Rolle der Angehörigen bei Gesprächsbeginn geklärt werden. Dabei ist es wichtig herauszustellen, dass die Entscheidungsverantwortung bei den rechtlich verantwortlichen Personen bleibt, d. h. beim behandelnden Arzt und dem gesetzlichen Vertreter des Patienten.11 Außerdem sollen die Familienmitglieder hier als Sprachrohr des Patienten agieren, also übermitteln, was seine Behandlungswünsche wären, nicht jedoch die ihrigen vertreten.

Es ist häufig unvermeidlich, dass emotionale Belastungen während des Fallgesprächs verstärkt hervortreten. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörigen im Anschluss an das Gespräch fachkundige Begleitung und Unterstützung angeboten wird. Das kann durch Psychologen, Seelsorger oder andere in helfender Gesprächsführung geschulte Mitarbeiter geschehen, wobei vor dem ethischen Fallgespräch unabdingbar festzulegen ist, wer diese Funktion übernimmt.

Darüber hinaus ist es hilfreich, den Angehörigen ein Beratungsangebot des Ethikers für die Folgezeit zu machen. So wird deutlich gemacht, dass seine Zuständigkeit nicht mit dem Fallgespräch endet. Dadurch wird den Angehörigen die Möglichkeit für Nachfragen und Reflexion mit größerem zeitlichen Abstand eröffnet.12

Wenn den auftretenden Belastungen in der beschriebenen Weise begegnet wird, lassen sie sich unserer Erfahrung nach gut mildern. Eine solche strukturierte und auf die Situation der Angehörigen eingehende Gesprächsgestaltung ist im klinischen Alltag meistens nicht gegeben. Wenn die unvermeidlichen, durch die Lage des Patienten bedingten Belastungen aber in einer von Zeitmangel geprägten Begegnung mit Angehörigen zu Tage treten, ist ein angemessener Umgang mit ihnen kaum möglich. Deshalb plädieren wir auch aus diesem Grund für die Einbeziehung von Angehörigen in das ethische Fallgespräch.13 Das Argument, sie zu ihrem eigenen Schutz nicht direkt zu beteiligen, ist nach unserer Auffassung also nicht nur bevormundend, sondern auch sachlich unzutreffend.

3. Entlastung durch Beteiligung

Angehörige profitieren grundsätzlich von offener und aufrichtiger Kommunikation mit Behandlungsteams.14 Diese mitgeteilten Erfahrungen, die außerhalb ethischer Fallgespräche gemacht wurden, bestätigen sich auch in unserer Praxis. In den Nachbesprechungen wird uns immer wieder von den Angehörigen berichtet, dass sie im Nachhinein die Teilnahme an einem ethischen Fallgespräch als entlastend erlebt haben. Es sei für sie wertvoll gewesen zu erfahren, in welch verantwortungsvoller Weise sich alle Beteiligten um den besten Weg für den Patienten bemüht haben. Auch wenn dieser im Laufe der Behandlung verstorben ist, evtl. nach einer Änderung des Therapieziels, seien die jeweils getroffenen Entscheidungen und deren Konsequenzen für sie besser zu akzeptieren und zu tragen.15

Auf eine systematische Nachuntersuchung dieses Sachverhalts, beispielsweise mittels einer Befragung der an einem Fallgespräch beteiligten Familienmitglieder in zeitlichem Abstand dazu, haben wir aus Respekt vor jenen Angehörigen verzichtet, die keinen weiteren Kontakt mit uns aufnehmen und sich möglicherweise nach überstandener Krise nicht mehr erneut mit der Problematik befassen möchten.

Die Überprüfung der von Experten dargestellten medizinischen Sachverhalte, bezogen auf den konkreten Einzelfall, ist Angehörigen meistens nicht möglich. Aussagen zu Prognose und Therapieoptionen können sie kaum auf der Basis ihres Wissens und ihrer Erfahrungen verifizieren. Jedoch ist Angehörigen aufgrund ihrer Lebenserfahrung die Beurteilung der Vorgehensweise bei der Entscheidungsfindung möglich. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich ihre aktive Einbeziehung in das Fallgespräch.

Gründe gegen die Einbeziehung von Angehörigen

Wir befürworten keineswegs die Beteiligung von Angehörigen bei allen Fallgesprächen, was nachfolgend aufzuzeigen ist. 

N%
Fallgespräche insgesamt184100,0
Mit Patientenbeteiligung147,6
Patientenverfügung vorhanden2614,1
Mit Beteiligung von Angehörigen
2007
2008
2009
2010
2011
2007 - 2011

7 von 14
13 von 27
26 von 46
30 von 49
17 von 48
93 von 18

50,0
48,1
56,5
61,3
35,4
50,5

Die hohe Beteiligung von Familienangehörigen im Vergleich der Jahre 2007 – 2011 (50%, 48,1%, 56,5%, 61,3% und 35,4%) ist wahrscheinlich auf den erlebten Nutzen für das Behandlungsteam zurückzuführen. Unsere Daten zeigen, dass Abteilungen, in denen mindestens drei Mal ein Fallgespräch durchgeführt wurde, auch in den Folgejahren regelmäßig die Ethikberatung anfordern. Als Gründe dafür werden von den Mitarbeitern die Entlastung des Einzelnen und die Entwicklung einer neuen Grundhaltung und Gesprächskultur im Team durch die Ethikberatung genannt. (Das Absinken der Quote von 61,3% im Jahr 2010 auf 35,4% im Folgejahr erklärt sich aus der 2011 gehäuft deutlich verkürzten Vorlaufzeit zwischen der Anforderung eines Fallgesprächs und dessen Durchführung.)

Auf der anderen Seite wurde aber etwa die Hälfte der Fallbesprechungen in den vergangenen Jahren ohne die unmittelbare Einbeziehung von Angehörigen durchgeführt. Dieser Umstand ist größtenteils Ausdruck der folgenden Gründe, die im Einzelfall gegen eine Beteiligung von Familienangehörigen sprechen. Hier sind in erster Linie vier Faktoren zu nennen:

  1. Die Angehörigen wünschen keine Teilnahme, was zu akzeptieren ist.16
  2. Das moderierte, multidisziplinäre Gespräch ist bislang in der anfordernden Abteilung nicht etabliert. In diesem Fall kann es ratsam sein, erste Erfahrungen mit der Beratungsmethode innerhalb der Gruppe der Mitarbeiter zu ermöglichen.17 Wenn Abteilungen beispielsweise erstmals ein ethisches Fallgespräch wünschen, verfahren wir bei Bedarf zweistufig: Nach einem ersten Gespräch im Behandlungsteam folgt dann eine erneute Beratung unter Einbeziehung der Familie.
  3. Die Gründe für die Anfrage liegen in einem ungelösten Konflikt zwischen verschiedenen Berufsgruppen mit keinem oder nur geringem Bezug zu einem konkreten Patienten. In diesem Fall wäre eine Einbeziehung der Angehörigen weder der Lösung des Problems dienlich noch würde daraus ein Nutzen für sie resultieren.
  4. Die Mitarbeiter wünschen ausdrücklich die Reflexion einer ethischen Fragestellung innerhalb des Teams, beispielsweise um sich selbst Klarheit in einer unübersichtlichen Behandlungssituation zu verschaffen. Auch in diesen Fällen folgt in der Regel ein zweites Gespräch mit der Beteiligung der Angehörigen.

Fazit

Ethische Fallgespräche dienen der Entscheidungsfindung. Ein Hauptziel ist dabei, die Behandlungswünsche eines nicht-einwilligungsfähigen Patienten zu ergründen, um so sein Selbstbestimmungsrecht zu stützen. Dabei ist es wichtig, dass alle relevanten Perspektiven (die von Patienten, Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern und anderen) in angemessener Weise eingeschlossen und berücksichtigt werden.

Fürsprecher des Patienten sind dabei idealerweise seine Angehörige und Vertrauten. Wir befürworten grundsätzlich ihre direkte Beteiligung an den Gesprächen, da sie die Kommunikation zwischen den beteiligten Personen und die Entscheidungsfindung positiv beeinflussen.

Zudem profitieren Angehörige oft von der Partizipation, indem diese Erfahrung ihnen bei der Bewältigung der existentiellen Krise helfen kann.18

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Anschrift des Autors:

Dr. Klaus Kobert, MAS
Leitender Klinischer Ethiker
Ev. Krankenhaus Bielefeld
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klaus.kobert(at)evkb.de

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