Therapiebegrenzung

Imago Hominis (2012); 19(3): 177-186
Kurt Lenz

Zusammenfassung

Unter einer Therapiebegrenzung wird der Vorenthalt oder Abbruch, bzw. Begrenzung kurativer Maßnahmen verstanden. Primär sollte immer geklärt werden, ob durch die Therapie eine Beherrschung der akuten Erkrankung erreicht werden kann. Sind die Maßnahmen in diesem Sinne wirkungslos, so sind diese nicht (mehr) durchzuführen. Eine Therapie bzw. Diagnostik setzt immer die Zustimmung des Patenten voraus. Ist der Patient nicht mehr fähig, dieses Einverständnis zu erteilen, bzw. besteht keine (rechtlich) verbindliche Patientenverfügung, so muss der mutmaßliche Patientenwille eruiert werden. Diese Entscheidung erfolgt nach einer ausführlichen Diskussion im gesamten Intensivteam und mit den Angehörigen. Therapiebegrenzung bedeutet aber auch, dass alle Maßnahmen ergriffen werden, dem Patienten ein Sterben in Würde und möglichst ohne Qualen durch palliative Maßnahmen zu ermöglichen.

Schlüsselwörter: Therapiebegrenzung, Therapieabbruch, Intensivtherapie am Lebensende

Abstract

Many deaths in the Intensive Care Unit are preceded by a decision to withdraw or withhold life support. To make a decision for therapy requires that life sustaining treatments must be effective in stabilizing and curing the critical illness and the patient is willing to tolerate the burden of intensive care. Decisions often need to be made about the usefulness of life sustaining treatment not only in terms of the probalitity of survival, but also the quality of life associated with survival. Most critically ill patients do not have the capacity to make decisions.

Rationale for the decision to withdraw or withhold life support should be discussed with family members, the whole ICU team and noted in the medical record. Withdrawal of curative therapies does always mean, that palliative care for treating patient`s distress and discomfort comes to the fore.

Keywords: End of Life Decision, Treatment Limitation, Withdrawal, Withhold


Einleitung

Es ist sittliche Pflicht des Arztes, menschliches Leben zu erhalten. In der Intensivmedizin stehen hierfür die Intensivüberwachung, die Intensivpflege und die Intensivtherapie zur Verfügung. Voraussetzung ist, dass durch diese intensivmedizinischen Maßnahmen menschliches Leben erhalten werden kann. Die immensen Fortschritte in der Intensivmedizin ermöglichten in den letzten 20 Jahren zunehmend, Patienten mit bislang nicht beherrschbaren Krankheitszuständen effektiv zu behandeln. Trotz all dieser Fortschritte sind auch der Intensivmedizin Grenzen gesetzt, d.h. das Ziel der Heilung kann nicht mehr erreicht werden. In dieser Situation muss die kurative Therapie aufgrund der fehlenden Wirkung beendet und durch eine palliative Therapie ersetzt werden. Eine Therapiebegrenzung am Ende des Lebens bedeutet daher eine Begrenzung der kurativen Therapie, die nun durch eine palliative Therapie ersetzt wird. Hat der Sterbeprozess begonnen, besteht die einhellige Auffassung, dass alle kurativen Therapien zu beenden und durch eine adäquate palliative Therapie mit Schmerzmedikamenten in ausreichendem Maße zu ersetzen sind, um das Leiden zu lindern und den Sterbeprozess nicht zu verlängern.1 In der neueren Literatur wird daher der bisher übliche Begriff DNR (Do Not Resuscitate) durch den Begriff AND (Allow natural death) ersetzt.

Sehr häufig jedoch ist die Prognose auch bei Patienten mit „ernster Prognose“ nicht klar, sodass die Entscheidung, eine kurative Therapie durch eine palliative Therapie zu ersetzen, häufig sehr schwierig ist. Meist wird hier in Abhängigkeit von den Überlebenschancen primär eine Entscheidung zu einem Therapievorenthalt (z. B. DNAR DoNotAttemptResuscitation-Order, kein Beginn einer extrakorporalen Therapie usw.) gefällt, um erst zu einem späteren Zeitpunkt die kurativen Therapien entweder schrittweise oder abrupt zu beenden und parallel durch eine palliative Therapie zu ersetzen.2

Möglichkeiten (Formen) der Therapiebegrenzung

Dies umfasst den Therapievorenthalt (withhold), das klassische Beispiel stellt hierbei die DNAR Order dar. Der Therapievorenthalt umfasst auf der Normalpflegestation v. a. neben der DNAR Order die Nichtaufnahme in die Intensivstation, auf der Intensivstation neben der DNAR den Nichtbeginn von Maßnahmen wie die einer invasiven Beatmung, einer extrakorporalen Therapie, Vasopressorentherapie, Antibiotika u. ä. Weitere Therapiebegrenzungen umfassen die fehlende Steigerung von Maßnahmen (keine Steigerung der Katecholamintherapie u. ä.), sowie das Absetzen (withdrawal) von Therapien wie Antibiotika, Vasopressoren, extrakorporale Therapien, Beatmung u. ä.

Häufigkeit einer Therapiebegrenzung an der Intensivstation

In einer Studie an 31.417 Patienten die an 37 Intensivstationen in 17 europäischen Ländern durchgeführt worden ist (ETHICUS Studie3), bestand bei 3.086 (72,6%) von 4.248 Patienten, die verstarben, eine Therapielimitierung, d. h. bei 10% aller auf der Intensivstation aufgenommenen Patienten wurde eine Therapiebegrenzung durchgeführt. Es fand sich hierbei in den einzelnen Regionen eine weitgehend gleiche Verteilung bei Therapievorenthalt, während die Therapiebegrenzung in den nördlichen und zentralen Regionen Europas deutlich häufiger durchgeführt worden ist als in den südlichen Regionen. Eine aktive Verkürzung des Sterbeprozesses wurde sehr selten, hier vor allem in den zentralen Regionen durchgeführt.

Folgen der Therapiebegrenzung

In einer kürzlich publizierten Studie aus Belgien wurde gezeigt,4 dass etwa die Hälfte der Patienten in der Intensivstation schlussendlich an den Folgen einer Therapiebegrenzung sterben. Andererseits konnte in der Ethikstudie gezeigt werden, dass etwa 20% der Patienten, bei denen auf der Intensivstation eine oder mehrere Therapien vorenthalten wurden, die akute Erkrankung überlebten.

Entscheidung zur Therapiebegrenzung

Bei der Entscheidung zur Therapiebegrenzung bei einem Intensivpatienten müssen mehrere Fragen beantwortet werden. Primär muss für jede Therapie eine Indikation bestehen. Weitere Voraussetzung ist das Einverständnis des Patienten. Ist der Patient nicht entscheidungsfähig, so muss abgeklärt werden, ob eine Patientenverfügung besteht, wenn ja, ob es sich um eine verbindliche oder um eine beachtliche Verfügung handelt. Bei Nichtvorhandensein einer Patientenverfügung müssen die Patientenwünsche eruiert werden und der natürliche Verlauf der Erkrankung überlegt werden, bzw. ob noch Untersuchungen notwendig sind, um die Prognose besser beurteilen zu können. Spezieller Beachtung bedarf der religiöse Hintergrund.5 In einer Studie fand sich ein geringerer Prozentsatz an Therapieabbrüchen bei religiösen Menschen. Bei orthodoxen Juden besteht ein Verbot des Therapieabbruchs aus religiösen Gründen, ein Therapievorenthalt hingegen ist jedoch gestattet.

Folgende Fragen sollten vor einer Entscheidung zur Therapiebegrenzung beantwortet werden (modifiziert nach J. W. Snyder et al.6)

  1. Ist der Patient hirntot?
  2. Was ist der natürliche Verlauf, das Ausmaß und die Ursache der schweren Erkrankung?
  3. Was ist die Prognose, brauche ich noch Untersuchungen, um die Prognose exakter zu eruieren?
  4. Soll eine Behandlung vorenthalten oder abgebrochen werden?
  5. Welche Behandlung soll abgebrochen bzw. vorenthalten werden?
  6. Sind die vorgesehenen Maßnahmen physiologisch sinnvoll oder führen diese nur zu einer Verlängerung des „Sterbens“?
  7. Ist der Patient entscheidungsfähig, bzw. besteht eine Patientenverfügung?
  8. Was sind die Patientenwünsche?
  9. Welche Angehörigen wurden involviert?
  10. Welche anderen Faktoren sollten mitberücksichtigt werden: religiöse, moralische, ethische, rechtliche Probleme? Conflict of interest – Organspender?
Medical futility – quantitative DefinitionMedical futility – qualitative Definition
Therapie physiologisch sinnlosLebensqualität nicht mehr ausreichend
Wahrscheinlichkeit, dass der Patient von der Therapie profitiert, ist gering
fehlendes Ansprechen auf einen Therapieversuch über eine gewisse Zeit
Tab. 1: Gründe für eine Therapiebegrenzung

Patientenwunsch

Die Entscheidung zur Durchführung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, bzw. deren Vorenthalt oder Beendigung wird durch den betroffenen Patienten nach einer entsprechenden Aufklärung durch seinen Arzt getroffen. Sehr schwierig gestaltet sich dieses Gespräch bei Schwerstkranken. Sollen alle entscheidenden Fragen mit dem Patienten besprochen werden? Diese Frage muss individuell behandelt werden.7 So wird man bei Patienten, bei denen alle therapeutischen Maßnahmen bereits ausgeschöpft wurden, keine Reanimation durchführen. In der Regel wird dies dann auch nicht mehr mit dem Patienten diskutiert, da hier schon die Indikation fehlt. Die Schwierigkeit besteht darin, ob Patienten darüber überhaupt sprechen wollen. Aus Untersuchungen in den USA8 geht hervor, dass von den 77% der Schwerkranken, die die Therapie einer Reanimation nicht besprochen haben, weniger als 50% darüber sprechen wollten. Bei der Frage einer Beatmung hatten dies 12% mit ihrem Arzt besprochen, von den 88% wollten nur mehr 20% dies besprechen. Werden Patienten in einer Akutsituation in ein derartiges Gespräch gedrängt, so könnten sich eventuell daraus negative Folgen mit Zunahme von Angst u. ä. ergeben.9 In einer eigenen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass Patienten ein Gespräch über Therapieentscheidungen in der Akutphase nicht führen wollen. In einer stabilen Krankheitsphase sind sie jedoch diesem Gespräch gegenüber sehr positiv eingestellt und fühlen sich durch ein derartiges Gespräch nicht belastet (siehe Tabellen 2 bis 4).10

<50a ja51-70a ja>71 a ja<50a nein51-70a nein>70a nein
CPR20 (47%)36 (59%)24 (43%)23 (23%)25 (41%)31 (57%)
ICU21 (49%)36 (59%)24 (43%)22 (51%)25 (41%)31 (57%)
Beatmung20 (47%)36 (59%)24 (43%)23 (53%)25 (41%)31 (47%)
Extrakorporale Therapie20 (47%)36 (59%)24 (43%)23 (53%)25 (41%)31 (47%)
Tab. 2: Wunsch, während des stationären Aufenthalts über Vorenthalt oder Beendigung von Therapien im Fall einer akuten Verschlechterung zu sprechen
<50a ja51-70a ja>71 a ja<50a nein51-70a nein>70a nein
<0 (0%)5 (8%)1 (2%)39 (100%)61 (92%)59 (98%)
Tab. 3: War das Gespräch betreffend Therapiebegrenzung belastend?
<50a ja51-70a ja>71 a ja<50a nein51-70a nein>70a nein
17 (44%)30 (46%)13 (22%)22 (56%)36 (54%)46 (78%)
Tab. 4: Wäre ein Gespräch betreffend Therapiebegrenzung kurz nach der Aufnahme im Krankenhaus für Sie belastend gewesen?

Dies bedeutet, dass das Problem nur durch eine frühzeitige und ausreichende Information des Patienten und ein vertrauensvolles Gespräch zwischen dem behandelnden Arzt und dem Patienten gelöst werden kann.

Zur frühzeitigen Erfassung von Patientenwünschen betreffend terminaler Situationen sind folgende zwei Punkte wichtig zu beachten:

  • Bei der Aufklärung des Patienten über dessen Erkrankung und notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen sollten auch Fragen des Therapieverzichts und Therapieabbruchs besprochen werden.
  • Der Patient sollte während seines Krankenhausaufenthalts in die Gespräche über das weitere Vorgehen eingebunden werden, soweit er dies wünscht und physisch wie psychisch dazu in der Lage ist.

Weiters ist zu bedenken, dass schlechte Kommunikation und mangelnde oder unvollständige Information zu einer Zunahme von Angst und Unsicherheit beim Patienten führen können.

Wichtig ist zu beachten, dass entsprechende Entscheidungen auf Seiten des Arztes einerseits ein hohes Maß an sachlichem Wissen, andererseits aber auch Erfahrung und die Entwicklung spezifischer ärztlicher Tugenden voraussetzen.11

Bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten wird das weitere Vorgehen vom mutmaßlichen Wunsch des Patienten geleitet. Liegt eine „verbindliche Patientenverfügung“ (entsprechend dem Bundesgesetz 2006/55 über Patientenverfügungen §4 – §7)12 vor, ist das weitere Vorgehen festgelegt, d. h. der behandelnde Arzt ist verpflichtet, den in dieser Verfügung sehr klar dargestellten Wunsch des Patienten einzuhalten. Zu beachten ist, dass vom Gesetzgeber in Österreich, sofern nicht anders vereinbart, ein Ablaufdatum von 5 Jahren für diese konkrete auf die Erkrankung bzw. auf mögliche Therapien eingegangene Verfügung vorliegt. Meist können nicht alle Eventualitäten, v. a. wenn es sich um eine Vorausschau über einen größeren Zeitraum und um chronische Behandlungen handelt, berücksichtigt werden.

Unter Umständen möchten jedoch Patienten diese Entscheidungen in den kritischen Phasen nicht so detailliert vorausplanen. So findet sich in einer Befragung von Dialysepatienten, dass von vielen Patienten auch bewusst für derartige Situationen dem behandelnden Arzt ein Freiraum eingeräumt wird, in dem er nach seinem besten Wissen in Abschätzung von Nutzen zu Schaden für den Patienten entscheiden soll.13 Hier handelt es sich dann um eine sogenannte beachtliche Patientenverfügung.

Kriterien für die Entscheidungsfindung bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten 

Irreversibilität von Organfunktionen: Besteht bei einem Patienten ein Hirntod, so ist der Therapieabbruch gesetzlich geregelt. Ist ein schwerster irreversibler Hirnschaden zu erwarten (Hirnmassenblutung etc.), sind hier ebenfalls frühzeitig lebensverlängernde Maßnahmen zu beenden. Sehr häufig ist bei Hirnschäden jedoch die Prognose nicht so klar und damit das weitere Vorgehen schwierig. Die Erfahrung des einzelnen Arztes spielt hierbei sicherlich eine Rolle. So konnte in einer Umfrage gezeigt werden, dass der erfahrene Arzt in einer aussichtlosen Situation eher eine Therapie beendet als der unerfahrene.14 Besteht die Möglichkeit, ein Organversagen durch therapeutische Maßnahmen zu überbrücken, ist das Vorgehen ebenfalls nicht immer sehr einfach zu beurteilen. Einfach ist es bei der Möglichkeit einer langzeitigen Überbrückung, z. B. Hämodialyse beim Nierenversagen; schwieriger beim kardialen Versagen durch Assistsysteme, die nur bei der Möglichkeit einer Transplantation sinnvoll erscheinen, bzw. Leberunterstützungssysteme bei Patientem mit akut auf chronischem Leberversagen. Auch beim Lungenversagen muss die Reversibität in die Überlegungen miteinbezogen werden.

Fehlende Wirksamkeit der laufenden Therapie bzw. geplanter therapeutischer Maßnahmen: Eine intensivmedizinische Maßnahme ist nur dann sinnvoll, wenn durch diese Therapie eine entsprechende Wirkung erwartet werden kann. Ist dies nicht der Fall, ist diese Therapie physiologisch sinnlos, d.h. sie wird nicht begonnen (Therapievorenthalt) bzw. abgebrochen (Therapieabbruch). Darunter ist auch die weitere Steigerung der Katecholamindosis bei Patienten mit Multiorganversagen und Laktazidose zu verstehen, wenn dadurch zwar der Blutdruck angehoben wird, die Zeichen des Organversagens – der Laktazidose – jedoch weiter zunehmen.15 Insgesamt muss man sich allerdings im Klaren sein, dass die Entscheidung nicht immer mit einer Entscheidung des Patienten (im Falle einer Entscheidungsfähigkeit) übereinstimmen muss. So konnte in einer französischen Studie gezeigt werden, dass Ärzte und Pflegepersonen sich eher für einen Therapieabbruch bzw. Therapievorenthalt bei fast aussichtslosem Ausgang entscheiden würden, als Patienten, die einen Intensivaufenthalt überstanden haben und Angehörige von Intensivpatienten.16

Zeitpunkt der Entscheidung

Die Entscheidung zur Therapiebegrenzung wird meist sehr früh, d.h. in den ersten Tagen an der Intensivstation getroffen. In einer Selbstbefragung von Intensivstation-Mitarbeitern wurde bei über 80% der Zeitpunkt als rechtzeitig eingestuft. Die Begrenzung kurativer Therapie geht mit dem Beginn der palliativen Therapie einher, wobei meist die kurative Therapie stufenweise beendet wird, sodass sich eine überlappend zunehmende palliative Therapie ergibt.

Durchführung

Wer soll die Entscheidung treffen? Bei entscheidungsfähigen Patienten ist die Situation gesetzlich geregelt. Bei nicht entscheidungsfähigen Patienten entscheidet der Arzt im Sinne des Patienten – bei Vorliegen einer verbindlichen Patientenverfügung ist dies ebenfalls geregelt, bei allen anderen Situationen entscheidet letztendlich der behandelnde Arzt. Dieser Entscheidung muss eine Diskussion mit allen in die Betreuung des Patienten involvierten Personen (Ärzte, Pflegepersonen, etc.) vorausgehen.

Wem ist die Entscheidung über einen Therapievorenthalt oder Therapieabbruch zu kommunizieren?

  • dem Patienten, sofern er aufnahmefähig ist (muss nicht gleichbedeutend mit einwilligungsfähig sein);
  • dem autorisierten Stellvertreter des Patienten (Bevollmächtigten, Sachwalter);
  • allen Ärzten und Pflegekräften, die mit der Sorge um den Patienten betraut sind;
  • den Angehörigen.

Im klinischen Alltag wird dies allerdings nicht immer so durchgeführt. So meinten in einer französischen Umfrage17 an 133 Intensivstationen, dass Pflegepersonen nur zu 50% (Ansicht der Ärzte) bzw. 27% (Ansicht der Pflegepersonen) in diesen Prozess involviert sind. Diese Entscheidung sollte weiters auch im Einklang mit den Angehörigen erfolgen. In einer kürzlich veröffentlichten Befragung waren über 80% der Meinung, dass Ärzte und Angehörige zusammen diese Entscheidung treffen sollten, falls einmal diese Situation bei ihnen eintreffen sollte. Dieses Vorgehen ist zwar allgemein empfohlen, wird in der Praxis aus verschiedenen Gründen jedoch nicht immer so durchgeführt. Die Einbindung von Angehörigen ist sehr wichtig, allerdings sollte hierbei unbedingt darauf geachtet werden, dass Angehörigen nicht die Verantwortung über die Entscheidung aufgebürdet wird. Zudem ist bekannt, dass die Entscheidungen von Angehörigen nicht unbedingt mit den Wünschen des Patienten im Einklang stehen. Es muss daher hier von Fall zu Fall die Rolle des Angehörigen entschieden werden, v. a. bei sehr akuten Situationen. Bei Patienten etwa, die aus einer relativen Gesundheit heraus eine schwerste Erkrankung erleiden, ist die Gefahr, dass Angehörige mit dieser Situation im Moment nicht fertig werden, groß.18

Die Begrenzung kurativer Therapie geht mit dem Beginn der palliativen Therapie einher, wobei meist die kurative Therapie stufenweise beendet wird, sodass sich eine überlappend zunehmende palliative Therapie ergibt. Ein Therapievorenthalt erfolgt meist initial in Form einer DNAR Order. Therapiereduktionen oder Beendigung von kurativen Therapien beginnen meist mit der antibiotischen Therapie, danach Kreislauftherapien, extrakorporale Therapien, Beatmung und zuletzt künstliche Ernährung und Flüssigkeitsersatz, wobei keine einheitlichen Konzepte vorliegen und dies in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird.

Parallel nimmt aber immer die Intensität der Sedoanalgesie und anderer palliativer Maßnahmen zu. Vor einigen Jahren wurde in einer französischen Studie ein Konzept vorgestellt, das in ähnlicher Weise sehr häufig auch auf anderen Stationen Anwendung findet. Das Intensivteam entscheidet hierbei täglich bei jedem Patienten über eine mögliche Therapiebegrenzung nach einem vierstufigen Protokoll aus:19

  1. Keine Limitierung
  2. DNAR, Limitierung der Dopamindosis < 20 μg/kg/min
  3. Aktive Beendigung aller therapeutischer Maßnahmen mit Ausnahme jener, die dem Komfort der Patienten dienen. Beatmung‘: Fi02 auf 0.21, PEEP auf 0, Sedierung Ramsay 3 – 4
  4. Atemminutenvolumen (AMV) Reduktion auf 5 l/min; Sedierung Ramsay 6; Vorraussetzung alle Mitglieder des Intensivteams und alle Familienmitglieder sind mit dem Vorgehen einverstanden

Dokumentation

Die Entscheidung muss entsprechend dokumentiert werden, v. a. um die Information an alle Mitarbeiter jederzeit abrufbar zu machen. Diese Dokumentation sollte die Entscheidungsgrundlagen beinhalten, die betroffenen kurativen Therapien, die involvierten bzw. benachrichtigten Personen sollten angeführt sein und die Entscheidung sollte daraus nachvollziehbar sein. Diese Dokumentation kann entweder in Form eines Freitextes oder in Form eines eigens dafür entwickelten Dokumentationsblattes (siehe Anhang) erfolgen.

Was bedeutet Therapieabbruch?

Therapieabbruch bedeutet nicht Abbruch aller Therapien, sondern Abbruch der kurativen Therapie und Einsetzen bzw. Verstärkung der palliativen Maßnahmen.

Symptomkontrolle auf der Intensivstation: Viele Intensivpatienten sind während ihres Aufenthaltes auf der ICU bewusstlos, daher sind sowohl körperliche als auch psychische Beschwerden nur schwer zu erfassen. Diese sind jedoch sehr häufig. So berichten über 50% ehemaliger Intensivpatienten über Durst, Hunger, Schlafstörungen und Schmerzen während ihres Aufenthaltes auf der Intensivstation. Es ist daher sehr wichtig, mögliche Ursachen für diese Beschwerden zu erkennen, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen.20

Eine Gefahr besteht darin, dass die Palliativmedizin in der Intensivmedizin auf die Beherrschung von Beschwerden reduziert wird, bedenkt man, dass eine der zentralen Aufgaben der Palliativmedizin es ist, die Kommunikation zu ermöglichen und Patientenwünsche in den Mittelpunkt der Entscheidungen zu stellen. Die Schwierigkeit in der intensivmedizinischen Praxis besteht darin, dass fast alle Patienten zu schwer krank sind, um an einem Gespräch über ihre Behandlung teilnehmen zu können. Patientenverfügungen sind eine wichtige Hilfe, bislang wurde diese Hilfe jedoch nur sehr selten in Anspruch genommen. Das Gespräch mit Angehörigen ist wichtig, dieses muss jedoch mit großer Sorgfalt geführt werden, es sollten Angehörige nicht das Gefühl bekommen, die Entscheidung zum Abbruch oder Vorenthalt kurativer Therapien selbst übernehmen zu müssen. Die Kommunikation mit den Angehörigen dient jedoch nicht nur dazu, um mögliche Patientenwünsche besser zu erfahren, sondern auch, um Angehörigen eine Hilfe in der Bewältigung einer meist sehr schwierigen Situation anzubieten. Aus einer Untersuchung aus den USA geht hervor,21 dass über 50% der Angehörigen mehr Information, über 20% mehr psychologische Unterstützung für sich im Rahmen der Betreuung des auf der Intensivstation verstorbenen Patienten gewünscht hätten. Dazu gehört die gut verständlich gehaltene Aufklärung über die Erkrankung und den Krankheitsverlauf. Es muss hier auch klar gestellt werden, dass ein Rückzug kurativer Therapien, kein Ende der Therapien beinhaltet, sondern ein Umstieg auf Maßnahmen, die ein Sterben ohne Qualen und in Würde ermöglicht.

Referenzen

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Anhang

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Kurt Lenz
Interne Abteilung mit Intensivstation
Konventhospital Barmherzige Brüder Linz
Seilerstätte 2, A-4020 Linz
kurt.lenz(at)bblinz.at

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