Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2001); 8(4): 309-311
Walter Rella

Bevor ich mich der Problematik dieses Falles widme, möchte ich die Geschichte noch einmal vorbeiziehen lassen, um dabei jene Charakteristika herauszuarbeiten, die die Grundlage für eine ethische Beurteilung bilden können.

Geschildert wird zu Beginn die kleine Welt einer Frau mittleren Alters, die als Gattin und Hausfrau ihr Leben mit einem Bauarbeiter in einer schlichten Siedlungswohnung teilt. Der Beruf des Mannes legt nahe, dass die Frau, die für keine Kinder zu sorgen hatte, in den engen Wänden ihrer Wohnung zumeist alleine war. Sie schien auch außer Haus bis auf ein förmliches Verhältnis zu Nachbarn keine gesellschaftlichen Kontakte zu pflegen. Auch über einen größeren Garten, in welchem die Frau Beschäftigung oder Zerstreuung hätte finden können, verfügte das Reihenhaus wahrscheinlich nicht. So lebte die Frau zurückgezogen und brachte ihre Zeit damit zu, auf die Rückkehr ihres Gatten zu warten. In dieser Situation der Beschäftigungsarmut und des Bewegungsmangels verwundert es nicht, dass die Frau an Gewicht zunahm und dass eine wohl angeborene Venenschwäche zu einem manifesten Venenleiden führte.

Zum Zeitpunkt des Einstiegs in die Geschichte wird ein BMI von weit über 40, also eine pathologische Adipositas, begleitet von einer Glukosetoleranzstörung und Bluthochdruck, sowie venöse Ulcera beider Beine beschrieben. Die Patientin bemerkte selbst die Verschlechterung ihres Zustandes und ein ums andere Mal mochte ihr Arzt ihr die Zusammenhänge ihrer Leiden erläutert haben und auf die Notwendigkeit eines Bewegungstrainings und einer Gewichtsabnahme hingewiesen haben. Statt die Ratschläge zu beherzigen zog sich die Frau indes noch mehr zurück und vermied es, den Arzt weiterhin zu bemühen, der ihr Gewissen doch nur belastet hätte. Sie behandelte sich fortan, so gut sie es vermochte, selbst.

So ist es nicht erstaunlich, dass sich die Leiden der Frau immerzu verschlechterten. Insbesondere führten die Größenzunahme und die Sekundärinfektion der venösen Beingeschwüre dazu, dass diese üblen Geruch verbreiteten, was im Gefolge die belästigten Nachbarn und eine verwandte Krankenschwester auf den Plan rief, die schließlich unter Vorhaltungen über den katastrophalen Zustand seiner Patientin den Arzt herbeizitierte, er möge endlich aktiv werden. Dieser war wohl verärgert darüber, dass man nun ihm die Schuld zuschob und mochte gewiss argumentiert haben, dass nun eingetreten sei, wovor er schon immer gewarnt hatte und dass nun nichts übrig bleibe als raschest ins Krankenhaus zu fahren. Dort stellte man eine irreparable Situation fest, sodass das rechte Bein amputiert werden musste. Das linke Bein konnte erhalten und das Ulcus in einem langwierigen Verfahren hinreichend verkleinert werden. Auch der Blutdruck und der Diabetes waren nun gut eingestellt, nachdem die Patientin im Krankenhaus erheblich abgenommen hatte. Mit entsprechenden Diät- und Behandlungsanweisungen kehrte die Frau nach Hause zurück und war nach all den Erlebnissen zunächst auch motiviert, diese einzuhalten.

Die Lebensumstände zuhause hatten sich jedoch nicht geändert und auch ihre alten Gewohnheiten nicht. So kam es, dass nach einigen Monaten dieselben Probleme wie vor dem Krankenhausaufenthalt auftraten. Gewicht, Blutzucker und Blutdruck liefen „aus dem Ruder“ und das plastisch gedeckte Geschwür vergrößerte sich wieder. Trotz der bereits gemachten Erfahrung war die Patientin wieder sehr uneinsichtig und lehnte jegliche Behandlung ab. Was sollte oder konnte nun geschehen?

Ziel der Behandlung muss es sein, unter Wahrung der persönlichen Freiheit der Patientin einen optimalen Behandlungserfolg zu erzielen. Innere Widerstände eines Patienten gegen die Behandlung erleben wir immer wieder, ja bilden sogar die Regel. Denn sehr oft ist es die Mächtigkeit der Umstände und des Schicksals, welche eine Krankheit erst hervorrufen, eine Mächtigkeit die stärker ist, als das Verlangen des Menschen nach seiner Heilung. Die Krankheit entpuppt sich so wie ein Konsens zwischen dem, was das Schicksal fordert und dem, was der Mensch zu tragen imstande ist.

In unserem Fall, der diesen Konsens ins Extreme verzerrt und der deshalb die alltäglichen Herausforderungen ins Dramatische steigert, reichen die üblichen einem Arzt zur Verfügung stehenden Maßnahmen, – Beratung, Medikation, Überwachung – nicht aus, bzw. werden nicht angenommen. In dieser Situation die Behandlung abzulehnen wäre eine ethisch gewiss zu rechtfertigende Option, denn in Wirklichkeit lehnt ja nicht der Hausarzt seine Hilfestellung, sondern die Patientin selbst jegliche Hilfe ab. Eine solche Option in die Tat zu setzen würde aber eher dem Missmut des Arztes entsprechen, der sich mit einer solchen Patientin keine Lorbeeren verdienen kann, als dem gerecht zu werden, was die Patientin selbst am meisten braucht, was also das eigentliche Anliegen des Arztes sein sollte und worin er seine Herausforderung sehen muss. Abgesehen davon steht hier der Ruf des Arztes auf dem Spiel: Verweigert er die Behandlung, so werden die Leute sagen: „Zuerst hat er sich um seine Patientin nicht gekümmert und jetzt lässt er sie sitzen.“ Bleibt er seiner Patientin treu, so werden die Leute ebenfalls murren und meinen: „Soweit hat es kommen müssen, dass er sich um seine Patientin kümmert!“ Diesen Vorwurf zu entkräften wird aber dem Arzt leichter fallen als sich gegenüber jenem zu rechtfertigen.

Vor jeder Behandlung geht es darum, die eigentliche Manifestationsursache der Erkrankung zu erkennen und in diesem Fall das Verhalten der Patientin zu sich selbst und zu ihrem Arzt als wesentlichen Teil der Erkrankung wahrzunehmen. Es geht hier um die psychische Verfassung einer Frau, welche sich infolge ihrer Lebensumstände gezwungen sieht, der Erkrankung freien Lauf zu lassen. Es ist ja keine Frage, dass die Frau gesund sein möchte, aber die Umstände sind zu mächtig, als dass sie gegen sie etwas ausrichten könnte. Sie befindet sich gefangen wie in einem ausbruchsicheren Kerker.

Grundmotiv jeder Heilbehandlung, welche nicht auf Gewinn und Ehre blickt, ist das Erbarmen. Deshalb ist als erste Maßnahme wohl angebracht, Verständnis und Mitleid für die Not der Patientin aufzubringen und sie so von dem schlechten Gewissen zu befreien, das unsere Patientin in der Begegnung mit dem Arzt und anderen gutwilligen Helfern erdrückt. Vielleicht könnte der Arzt sagen: Ich weiß, wie schwer Sie es haben in Ihrer Lage – und sogar empathisch hinzufügen: Unter Ihren Umständen würde es mir auch nicht besser ergehen. Durch solche Worte könnte ein Stein vom Herzen der Patientin weggewälzt werden und es könnte eine neue Gesprächsbasis entstehen. Ist dieser Zugang einmal geschaffen, wird es notwendig sein, der Frau die „Freiheit gegenüber sich selbst“ (Frankl) bewusst zu machen und bei den verbleibenden realen Möglichkeiten der Trendumkehr im Krankheitsverlauf anzusetzen. Dazu sollte man auch die Einwilligung der Patientin zu sanften Zwangsmaßnahmen einholen und ihr bewusst machen, dass die Annahme solcher Maßnahmen Teil dieser Freiheit gegenüber sich selbst ist.

Angesprochen wurde in diesem Zusammenhang beim geschilderten Fall ein strikter Diät- und Speiseplan und dessen Überwachung durch die Hauskrankenpflege. Ob diese allerdings mittel- bis längerfristig die Verantwortung für eine derartige Überwachung übernehmen wollen wird, möchte ich aus meiner Erfahrung eher verneinen. Vielleicht ließe sich hingegen der eigene Gemahl für eine Mitarbeit und Überwachung des Behandlungsplanes gewinnen. Dazu wäre er auf Grund des Ehebundes und im Namen ehelicher Liebe gewiss verpflichtet. Die Überwachung könnte in diesem Fall durch ein rationiertes Kostgeld und die Kontrolle des Einkaufszettels erfolgen, sowie auch durch Beobachtung der Konsumation am gemeinsamen Speisetisch. Da der tagsüber schwer arbeitende Gatte wohl kaum die spartanische Kost seiner Frau mitmachen kann, wird das Erstellen und Durchhalten eines doppelten Menüs für die Eheleute eine nicht leichte Aufgabe sein. Wichtig wäre auch, dass der Mann seine Frau, sobald sie - durch die Hauskrankenpflege – Sicherheit im Umgang mit Gehstützen erlangt hat, zu Bewegung und Spaziergängen animiert und, wenn immer möglich, Zeit für gemeinsame Ausgänge findet, wohl auch um ihr besonders zu Anfang bei der Überwindung der Scham vor der Öffentlichkeit zu helfen. Um all das zu erreichen wird es ständiger motivierender Gespräche bedürfen und der wiederholten Erläuterung des Erkrankungszusammenhangs.

Weiters sollten auch die medikamentösen Maßnahmen ausgeschöpft werden. In Anbetracht der Lebensumstände unserer Patientin – häufiges Alleinsein, wenig Zukunftsperspektiven – könnte die Erkrankung von einer Depression überlagert sein, welche durch geeignete Antidepressiva zu behandeln wäre. Weiters sollte eine hochdosierte entstauende Therapie mit Aescinextrakten und Enzymen (z.B. Wobenzym®) nicht unversucht bleiben. Schließlich wäre bei der bestehenden pathologischen Adipositas der Einsatz eines spezifischen Lipidaufnahmehemmers zur Unterstützung der Gewichtsabnahme zu rechtfertigen. Die Einnahme eines solchen Medikamentes würde überdies einen zusätzlichen Anreiz zur strengen Fettlimitierung im Speiseplan darstellen, da sonst unangenehme Nebenwirkungen drohen.

Insgesamt impliziert die Behandlung dieses Falles ein hohes Engagement aller beteiligten Helfer, wobei der Hausarzt die Schlüsselposition innehat. Obwohl seine Bemühungen jene eines Routinefalles weit überschreiten müssen, bleibt der Ausgang des Unternehmens auch bei bester Sachkompetenz ungewiss. Dies birgt die Gefahr der Frustration in sich, ja kann sogar bei einem engagierten Arzt den Ausbruch eines Burnout-Syndroms heraufbeschwören. Das wäre bei der ethischen Beurteilung dieses Behandlungsfalles mit zu berücksichtigen. Dementsprechend sollten bei drohendem Scheitern des Behandlungsplanes mögliche Ausstiegsszenarien vorhanden sein. Dazu zählen die Beantragung von Kuraufenthalten oder eine neuerliche Spitalseinweisung. Eine besondere Tugend aller Beteiligten wird die Geduld sein müssen und die nüchterne Einsicht, dass nicht alles was vernünftig wäre unter den Bedingungen des Alltags auch durchgesetzt werden kann. Trotz aller Schwierigkeiten sollte die Patientin keinesfalls sich selbst überlassen werden.

Anschrift des Autors:

Dr. Walter Rella
Arzt für Allgemeinmedizin
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Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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