Der Autonomiebegriff im bioethischen Diskurs der 1990er Jahre

Imago Hominis (2016); 23(4): 199-211
Axel W. Bauer

Zusammenfassung

Der Diskurs um die Themen Autonomie und Selbstbestimmung hat zu einer begrüßenswerten Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten geführt. Auf der anderen Seite entfaltet der rhetorische Kult um den Autonomie-Begriff gerade seit den 1990er Jahren in der Medizinethik eine zunehmende Eigendynamik, deren Beschleunigung bis in die Gegenwart anhält und die nicht ohne Sorge betrachtet werden kann. Medizin- und Bio-ethik verwandeln sich vor unseren Augen seit einem Vierteljahrhundert allmählich in Disziplinen, die allzu oft den Tod im Gepäck haben, dessen vorzeitige Herbeiführung sie philosophisch zu rechtfertigen suchen. In diesem Beitrag werden tragende Elemente des bioethischen Autonomie-Diskurses der 1990er Jahre aufgesucht und in einen zeithistorischen Kontext gestellt.

Schlüsselwörter: Autonomie, Selbstbestimmung, Patientenrechte, Fremdbestimmung, assistierter Suizid

Abstract

The discourse on autonomy and self-determination has led to a praiseworthy strengthening of patients’ rights. On the other hand, since the 1990s, the rhetorical cult around the concept of autonomy in medical ethics has developed an increasing momentum of its own. This acceleration has continued today and cannot be considered without worry. For than 25 years, medical ethics and bioethics have been turning into disciplines which too often cause death and whose untimely occurrence they have tried to justify philosophically. This paper explores fundamental elements of the bioethical discourse during the 1990s and puts them in historical context.

Keywords: autonomy, self-determination, patients’ rights, heteronomy, assisted suicide


1. Autonomie als Schlüsselbegriff und Passepartout im medizinethischen Diskurs

Die philosophische Idee der Autonomie des Individuums wird in der Regel darauf bezogen, dass jemand eine Person ist, die ihr Leben nach Gründen und Motiven führt, welche ihre eigenen sind und nicht etwa Produkte der Manipulation durch andere Menschen oder Resultate äußerer Zwänge. Das Prinzip Autonomie hat darüber hinaus als spezifische Quelle der vernunftgebundenen Sittlichkeit des Menschen in der Philosophie Immanuel Kants (1724 – 1804) eine überragende Bedeutung, doch kommt ihm auch ein fundamentaler Status im utilitaristischen Liberalismus von John Stuart Mill (1806 – 1873) zu. Die Autonomie spielt außerordentlich unterschiedliche Rollen im Hinblick auf Personen, auf die Konzeption moralischer Pflichten und Verantwortlichkeiten, auf die Rechtfertigung sozialpolitischer Maßnahmen und auf zahlreiche Aspekte der politischen Theorie.

Die Autonomie bildet den Kern von Kants Konzept der praktischen Vernunft.1 Gleichzeitig wird sie aber auch als diejenige Eigenschaft einer Person angesehen, die paternalistische Eingriffe in deren Leben verhindern soll.2 Der Begriff der moralischen Autonomie bezieht sich bei Kant primär auf die Fähigkeit des Menschen, das – als objektiv betrachtete – Moralgesetz auf die eigene Person anzuwenden. Andererseits wird das, was heute für gewöhnlich die Autonomie der Person genannt wird, als ein Individualrecht aufgefasst, das der einzelne Staatsbürger – nicht nur begrenzt auf Fragen der moralischen Pflicht – für sich beanspruchen kann.3

In der jüngeren Medizinethik hat nun die Autonomie als Thema, häufig in unterschiedlicher Weise kombiniert oder vermischt mit dem Begriff der Selbstbestimmung, seit den 1980er Jahren eine bis heute anhaltende steile Karriere erlebt, nicht zuletzt dank der nachhaltig erfolgreichen Verbreitung der Formel Respect for Autonomy, die 1979 als eines von vier ursprünglich gleichberechtigten Prinzipien durch die beiden amerikanischen Bioethiker Tom L. Beauchamp und James F. Childress geprägt und seither in den USA und in Europa in zahllosen Variationen zitiert und rezipiert wurde.4 In geringerem Umfang trifft dieser publizistische Erfolg auf das ebenfalls in den 1990er Jahren von H. Tristram Engelhardt Jr. propagierte Principle of Permission zu, das der Autor mit dem fundamentalen Recht des Menschen begründete, von anderen „in Ruhe gelassen zu werden."5 Der amerikanische Bioethiker und Soziologe Paul Root Wolpe sprach schon 1998 von einem „Triumph" der Autonomie in der amerikanischen Medizinethik.6 Es lässt sich indessen nicht übersehen, dass dieser äußerliche Triumph mit einer inhaltlichen Heterogenität und Unschärfe des Begriffs Autonomie erkauft wurde; doch womöglich ist das eine Phänomen die unausbleibliche Konsequenz des anderen.

In einem 2016 erschienenen Sammelband über Autonomie und Vertrauen als Schlüsselbegriffe der modernen Medizin schlägt der Philosoph Holmer Steinfath eine synonyme Verwendung der Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung vor. Er sieht darin primär ein Abwehrrecht, das Patientinnen und Patienten dazu legitimiere, eine vom Arzt oder vom medizinischen Personal vorgeschlagene Maßnahme abzuwehren.7 Steinfath weist darauf hin, dass die individuelle Autonomie, von der im Bereich der ärztlichen Praxis, des Medizinrechts und der Medizinethik zumeist die Rede ist, keinesfalls mit Kants abstrakter Konzeption autonomer Prinzipien identifiziert werden dürfe, die der („reinen praktischen") Vernunft entsprängen und so beschaffen seien, dass ihre Befolgung von allen vernünftigen Personen gewollt werden könne8 – und, so möchte der Verfasser dieses Beitrags ergänzen, geradezu gewollt werden müsse. Die Besonderheit des Autonomie- und Selbstbestimmungsdiskurses in der Medizin liegt demgegenüber jedoch darin, dass ein Patient selbstbestimmt dazu berechtigt sein muss, auch einmal etwas anscheinend „Unvernünftiges" zu wollen und diesen seinen Willen gegenüber Ärzten und Pflegenden durchzusetzen, vielleicht mit dem Ziel, dass diese ihn „in Ruhe lassen" sollen.

Die folgende Darstellung möge dazu dienen, anhand eines kursorischen Einblicks in einige an prominenter Stelle im deutschsprachigen Raum veröffentlichte medizinethische Publikationen aus den 1990er Jahren die in dieser Zeit mit den Termini Autonomie beziehungsweise Selbstbestimmung konkret verknüpften Themenfelder genauer zu identifizieren. Auf diese Weise sollen zugleich tragende Elemente zu einer noch ausstehenden Ideengeschichte der Medizin- und Bioethik während jener für die fachliche und institutionelle Entfaltung der Disziplin entscheidenden Dekade beigesteuert werden. Es geht dabei weder um Vollständigkeit noch darum, eine mustergültige repräsentative Stichprobe der gesamten einschlägigen Literatur vorzulegen. Das Ziel der folgenden Ausführungen liegt vielmehr in der heuristischen Aufgabe, die Vielgestaltigkeit und multiple Verwendbarkeit, aber auch die suggestive rhetorische wie manipulative Kraft des Zentralbegriffs Autonomie innerhalb medizinethischer und biopolitischer Debatten aufzuzeigen.

2. Der Beginn des medizinethischen Autonomie-Diskurses in Deutschland um 1990

Bereits am Ende der 1980er Jahre wurde auch in Deutschland der Begriff Autonomie gelegentlich schon auf medizinischen Kongressen und in ärztlichen Fachzeitschriften unter ethischen Aspekten aufgegriffen, was damals allerdings noch keineswegs der übliche Standard war. So hatte im Dezember 1988 an der Klinik für Psychiatrie der Marburger Philipps-Universität ein interdisziplinäres Symposium über ethische Aspekte in der Psychiatrie und Psychotherapie stattgefunden, dessen Schwerpunkte die beiden Problembereiche Autonomie und Suizidalität bildeten. Erst im August 1989, also acht Monate später, erschien im Deutschen Ärzteblatt ein Bericht des Mitveranstalters dieser Tagung. Karl-Ernst Bühler wies in dem Beitrag einleitend darauf hin, dass die Ethik als Disziplin den modernen Wissenschaften zwar „hinterherhinke"; sie lasse sich aber von diesen nicht abschütteln. „Infolge der ungeahnten Möglichkeiten der modernen Medizin entwickelte sich stetig, aber unabweisbar ein neuer Zweig der Ethik heraus, die Bioethik. Sie findet in unserem Lande immer mehr Beachtung. Auch in der Psychiatrie entstand vor dem Hintergrund der Euthanasie- und der Eugenik-Problematik zur Zeit des Nationalsozialismus ein Gespür für die ethischen Implikationen des ärztlichen Tuns."9

Die referierte Tagung belegt, dass das Thema Autonomie schon am Ende der 1980er Jahre vor allem unter dem Aspekt der beschleunigten Lebensbeendigung diskutiert wurde, die aber ihrerseits jede zukünftige Autonomie unmöglich macht. So behandelte der junge Philosoph Dieter Birnbacher, damals Privatdozent an der Universität Essen, die grundlegende Frage, unter welchen Rahmenbedingungen eine „Freiheit zur Selbsttötung" akzeptiert werden müsse. Seine These dazu lautete, dass paternalistische Verpflichtungen auch in der Medizin ein Ende finden müssten, sobald „Vernunftgründe" eine Handlung, zum Beispiel die Selbsttötung, überzeugend legitimierten. Autonomie wurde von Birnbacher hier als die Fähigkeit zur Präsentation vernünftiger Gründe verstanden.

Einzig durch das unscheinbare Wort „überzeugend" ließ Birnbacher erahnen, dass er in Wirklichkeit ein heteronomes Element in die vorgebliche Autonomie des Betroffenen einführte und diese dadurch geradezu konterkarierte. Denn wann genau eine Begründung überzeugt, entscheidet letztlich ihr Adressat, hier also vornehmlich der Arzt, und nicht der Suizidwillige selbst, der im Gespräch mit dem Adressaten seine Argumente vorträgt. Vernunft und Autonomie präsentieren sich jenseits eines transzendentalphilosophischen Horizonts am Ende des 20. Jahrhunderts nämlich keineswegs mehr als miteinander identische, sondern als eher antagonistische Phänomene. Denn in demselben Maß, in dem die Autonomie als eine dem Patienten intrinsisch zukommende „Freiheit zur eigenen Entscheidung" verstanden wird, trennt sie sich von der strikten Bindung an einen rigiden Vernunftbegriff, der aufgrund rationaler Überlegung letztlich doch nur eine einzige richtige Antwort zuließe, die vor dem Urteil des (philosophischen oder medizinischen) Experten bestehen könnte. Löste man diesen Konflikt zugunsten der „vernünftigen" Rationalität auf, nähme der Spielraum für die „freie Wahl" des Suizidenten zugunsten eines klassischen Paternalismus ab; stärkt man hingegen das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, so dürfen die Ansprüche an die logische Stringenz seiner Gründe nicht allzu hoch angesetzt werden.

Zur selben Zeit wurde die Selbstbestimmung des Patienten in medizinischen Fragen auch von theologischer Seite konfessionsübergreifend behandelt. In der 1989 publizierten gemeinsamen Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) Gott ist ein Freund des Lebens, die sich mit dem Thema Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe beschäftigte, wurde die Autonomie als medizinethischer Zentralbegriff zwar noch nicht explizit erwähnt, doch kamen die wesentlichen Elemente der Selbstbestimmung und ihrer Grenzen am Lebensende aus christlicher Perspektive in diesem Text zur Geltung. Christen wünschten und wollten, so hieß es zu Beginn der Erklärung, dass der Betroffene sein Sterben „als die letzte Phase seines Lebens selbst lebt, nicht umgeht und nicht auslässt." Jeder Sterbende sei „als der zu achten, der sein Sterben selbst lebt." Deshalb könne auch beim Sterben eines Menschen alle Hilfe nur Lebenshilfe sein, die ihm darin beistehen wolle, sein körperliches Leid ertragen und den bevorstehenden Tod selbst annehmen zu können. Darin werde sie die Würde des Sterbenden, seine letzte, ihm als Person angehörende Unantastbarkeit, wahren und achten.10

Für den Fall der Äußerungsunfähigkeit sah die gemeinsame Erklärung allerdings die Ersetzung der Selbstbestimmung des Sterbenden durch das an dessen wohlverstandenem Interesse orientierte Handeln des Arztes vor, der „wie ein guter Anwalt" vorzugehen habe. Dieser Grundsatz könne im Einzelfall sehr wohl das Unterlassen oder Einstellen medizinischer Eingriffe zur Folge haben, wenn diese – statt das Leben dieses Menschen zu verlängern – nur dessen Sterben verlängern würden.11 Aus der retrospektiven Distanz eines Vierteljahrhunderts fällt auf, dass die heute geläufige Patientenverfügung als ein mögliches Instrument der Willensantizipation des Patienten im Jahre 1989 ebenso wenig Erwähnung fand wie die Rechtsfiguren des Bevollmächtigten beziehungsweise des gesetzlichen Betreuers. Der Grund hierfür liegt darin, dass dieses zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts gedachte rechtliche Instrumentarium in Deutschland erst durch das Betreuungsgesetz (BtG) vom 12. September 1990 eingeführt wurde, dessen Bestimmungen am 1. Januar 1992 in Kraft traten.12

3. Autonomie und Patientenrechte im internationalen und interkulturellen Kontext

Als ein wichtiges internationales Dokument zum Themenkomplex der Autonomie trat vier Jahre später die Deklaration der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die Förderung der Patientenrechte in Europa in Erscheinung, die auf einer im März 1994 in Amsterdam mit Unterstützung der niederländischen Regierung abgehaltenen Konferenz von 60 Experten aus 36 Staaten ausgearbeitet worden war.13 Die Konferenz stand am Ende eines langen Vorbereitungsprozesses, durch den das in Kopenhagen ansässige WHO-Regionalbüro für Europa die aufkommende Bewegung zugunsten der Rechte von Patienten stärken wollte. Die Deklaration sollte eine solide Referenz und ein dynamisches Werkzeug zur Verbreitung eines neuen Denkens im Gesundheitswesen bieten.

Der gemeinsame Rahmen zu einer umfassenderen Ausarbeitung und Durchsetzung von Patientenrechten, der hier angestrebt wurde, hatte nach Meinung der WHO nicht allein ethische, sondern ebenso soziale, ökonomische, kulturelle und politische Wurzeln. Das Konzept des Respekts für die Person und für ein gerechtes Gesundheitswesen habe zur Folge gehabt, dass nun ein stärkerer Akzent auf die Förderung individueller Wahlentscheidungen des Patienten und auf die Möglichkeit, diese Wahl ungehindert auszuüben, gelegt werde. Gerade angesichts der steigenden Komplexität des modernen Gesundheitswesens, der zunehmenden Behandlungsrisiken, der Unpersönlichkeit und Enthumanisierung müsse mehr Nachdruck auf die Bedeutung des Individualrechts auf Selbstbestimmung gelegt werden.

Postuliert wurden in der Deklaration unter anderem das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht zur vollen Information über den eigenen Gesundheitszustand, aber auch das Recht auf Nichtwissen, die informierte Zustimmung als obligater Voraussetzung jeder medizinischen Intervention sowie der Teilnahme an einer klinischen Patientenvorstellung und der wissenschaftlichen Forschung, das Recht darauf, eine solche Intervention zu verweigern, schließlich das Recht, im Krankheitsfall die Unterstützung der Familie, der Verwandten und Freunde sowie geistlichen Beistand zu erhalten. Gerade das zuletzt genannte, allerdings kaum einklagbare Recht auf mitmenschliche Hilfe aus dem persönlichen Umfeld deutet darauf hin, dass die WHO die elementare Bedeutung und die Unverzichtbarkeit kommunikativer, emotionaler und spiritueller Voraussetzungen für die Entfaltung einer autonomen Entscheidungsfähigkeit des Patienten bereits in der Mitte der 1990er Jahre klar erkannt hatte, sodass sie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht auf ein solipsistisches Monodrama im Kopf des Betroffenen reduziert sehen wollte.

In Westeuropa und in den USA hatte sich seit den 1980er Jahren zunehmend ein ethischer Konsens herausgebildet, wonach der Patient mit dem Informed Consent einen Anspruch darauf hat, vom Arzt über Diagnose und Prognose seines Leidens informiert zu werden, um über die ihm angebotene Behandlung selbst entscheiden zu können. Eine 1995 publizierte Studie aus dem multikulturell besiedelten südlichen Kalifornien deckte indessen auf, dass die Realität mit diesem damals zum Teil auch schon rechtlich verankerten Postulat noch längst nicht überall harmonierte. Für diese Untersuchung wurden über 65 Jahre alte Personen aus vier ethnischen Gruppen befragt, ob der Arzt dem Patienten eine infauste Krebsdiagnose mitteilen und wer über lebensverlängernde Behandlungen entscheiden sollte. Befragt wurden jeweils 200 Euroamerikaner, Afroamerikaner, sowie Amerikaner mexikanischer und koreanischer Abstammung.

Von den befragten Euroamerikanern meinten 87 Prozent und von den Afroamerikanern 88 Prozent, dass der Patient die Krebsdiagnose erfahren sollte. Bei den nach Kalifornien eingewanderten Mexikanern meinten das lediglich 65 Prozent, bei den Befragten koreanischer Herkunft sogar nur 47 Prozent. Von den Euroamerikanern wollten 65 Prozent, von den Afroamerikanern 60 Prozent, von den eingewanderten Mexikanern 41 Prozent und von den Koreanern nur 28 Prozent über die Therapie selbst entscheiden. Bei den beiden letztgenannten Gruppen trat an die Stelle des Patienten als der zu Informierende und als Entscheidungsbefugter in weit höherem Ausmaß als bei den anderen Befragten die Familie. Die Autoren der Studie folgerten, dass das Insistieren auf den „modernen" westlichen Auffassungen von Patientenautonomie bei ethnischen Gruppen, die aus anderen kulturellen Kontexten stammen, als eine neue Form des überwunden geglaubten ärztlichen Paternalismus empfunden werden könnte. Ärzte müssten bei der Behandlung von Patienten aus fremden Kulturkreisen deren Werte berücksichtigen und sich darauf einstellen, dass die Familie und nicht unbedingt der Kranke selbst Ansprechpartner sei.14

4. Sterbehilfe als Prüfstein der Autonomie? Konträre Positionen von 1995 bis 2000

„Die Autonomie des Patienten und sein daraus abgeleitetes Selbstbestimmungsrecht spielen in der US-amerikanischen Bioethik eine zentrale Rolle."15 Mit diesem Satz leitete 1995 der junge deutsche Medizinethiker Jochen Vollmann, damals Gastwissenschaftler am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown University in Washington, D.C., einen Bericht über den nationalen Bioethik-Kongress in Pittsburgh ein. Doch bereits im folgenden Satz ging es dann um die Frage, wer entscheiden soll, wenn der Patient selbst aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr selbstständig entscheiden kann, wie zum Beispiel ein Bewusstloser auf der Intensivstation. Die vier Schwerpunktthemen des Kongresses betrafen 1. Ethikkommissionen und Ethikberatung, 2. Patienten- und Betreuungsverfügungen, 3. die von Präsident Bill Clinton geplante Reform der Krankenversicherung und 4. die Tötung auf Verlangen, in den USA geläufig unter dem Begriff Physician-assisted dying.

Es fällt auf, dass bei der Mehrzahl der abgehandelten Themen gerade nicht die Selbstbestimmung des Patienten im Mittelpunkt stand, sondern ganz im Gegenteil mehr oder minder fragwürdige Surrogate, bei denen – der Natur der Sache nach – stets Elemente der Fremdbestimmung eine entscheidende Rolle spielen (müssen). Doch bereits Mitte der 1990er Jahre waren unangenehme Gegebenheiten offenbar im medizinethischen Diskurs leichter zu vermitteln und für die am Diskurs Beteiligten akzeptabler zu machen, wenn man ihrer Beschreibung den Begriff Autonomie voranstellte. Jochen Vollmann brachte sein Unbehagen gegenüber dem ärztlich assistierten Suizid in den USA mit einem sozialpolitischen Argument zum Ausdruck, indem er schrieb: „Eine Gesellschaft versorgt ihre kranken Mitglieder nicht mit ausreichender medizinischer Versorgung, bietet ihnen aber die rechtliche und medizinische Möglichkeit des Getötetwerdens an! […] Wird da nicht moralisch etwas auf den Kopf gestellt?"16 Zwei Jahrzehnte später müsste dieselbe Frage auch in den Niederlanden, in Belgien, in der Schweiz und sogar in Deutschland gestellt werden; doch mittlerweile hat sich der medizinethische Mainstream deutlich zugunsten der sogenannten „Sterbehilfe" positioniert.

In einem Beitrag aus dem Jahre 1998 ging die Medizinethikerin Stella Reiter-Theil auf die Bedeutung des Gesprächs zwischen Patient und Arzt für die Entwicklung und Umsetzung einer selbstbestimmten Entscheidung des Betroffenen im Fall einer Therapiebegrenzung am Ende des Lebens ein. Die Autorin vertrat die These, dass der existenziell betroffene Kranke ein spezifisches Bedürfnis nach argumentativ-kritischer Bewertung der Handlungsoptionen im Gespräch mit dem Arzt an diesen herantrage. Reiter-Theil formulierte ein integratives Modell, das ein vertieftes Verständnis der Abläufe und Probleme im Gespräch zwischen Arzt und Patient ermöglichen sollte.17 Die Autorin illustrierte diese Gesprächsdimension, die für die Selbstbestimmung des Patienten von entscheidender Bedeutung sei, am Beispiel des Zürcher Strafrechtsprofessors Peter Noll (1926 – 1982), der im Alter von 56 Jahren an Blasenkrebs starb, weil er gegen den Rat seiner Ärzte eine kurative Therapie ablehnte. Dennoch fiel es Noll offenbar schwer zu akzeptieren, wenn die ärztlichen Gesprächspartner seine Entscheidungen kognitiv und emotional nicht nachvollziehen konnten oder wollten.18 Das von Reiter-Theil vorgestellte Modell Sprache und Beziehung zwischen Arzt und Patient sollte dazu dienen, nicht bloß dem „Buchstaben" des Informed Consent Genüge zu tun, sondern auch dem „Geist" seiner Begründung im Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten zu entsprechen.19

Mit dem historischen Wechsel des Blickwinkels von der traditionellen „Heiligkeit des Lebens" zur modernen „Autonomie" befasste sich der Philosoph Michael Quante 1996 und 1998 ebenfalls anhand des Themas Sterbehilfe. Die Brisanz, welche die Debatte gerade bei diesem Thema in den westlichen Industrienationen erreicht hatte, die es zu einem dominierenden gesellschaftlichen Konfliktfeld werden ließ, führte Quante darauf zurück, dass religiöse Vorstellungen einer Unverfügbarkeit des eigenen Lebens nicht mehr allgemeinverbindlich vorausgesetzt werden könnten. An ihre Stelle trete der Wert der Selbstbestimmung, der – aufgefasst als formale Kompetenz von Subjekten zu autonomen Entscheidungen – besser zur individualistischen und pluralistischen Gesellschaft passe.20 In der Medizin entspreche dieser Wandel der Vorstellung einer Interaktion zwischen autonomem Patienten und Arzt, die sich in der Priorität des Modells der informierten Zustimmung manifestiere. Für Quante lag es auf der Hand, dass angesichts einer solchen Umwertung der Werte sowohl aufseiten der Ärzte wie der Patienten das „Recht" auf einen selbstbestimmten Tod plausibler und vehementer eingefordert werde als unter den Rahmenbedingungen einer paternalistisch orientierten ärztlichen Ethik.21

Die Schlussfolgerungen, die Quante zur moralischen Zulässigkeit einer Tötung auf Verlangen durch Ärzte zog, erscheinen aus der Retrospektive des Jahres 2016 beklemmend, nicht zuletzt wegen der aus historischer Sicht unangemessenen Verwendung eines durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schwer belasteten Terminus, nämlich des „Gnadentodes". Hier zeigt sich beispielhaft, wie leicht eine historisch nicht reflektierte philosophische Ethik entgleisen kann. Quante schrieb: „Die Vorstellung des Gnadentodes oder des Todes als Erlösung sind [sic!] sicher auch für das ärztliche Ethos keine inkompatiblen oder fremden Elemente. […] Intrinsische Begründungen können im Fall des Vorliegens eines autonomen Tötungswunsches [sic!] letztlich nur begründen, daß ein Arzt für sich selbst das Recht hat, diesem Ansinnen nicht nachzukommen. Eine generelle intrinsische, sich auf das ärztliche Berufsethos stützende Begründung ist dagegen […] im Falle der freiwilligen absichtlichen Herbeiführung des Todes nicht plausibel."22 Indem Quante die „Autonomie" des Patienten zum logischen Gegenpol der „Heiligkeit des Lebens" stilisierte, konnte er mittels der schlichten Negierung dieser metaphysischen Eigenschaft des Lebens die assistierte Selbsttötung und sogar die Tötung auf Verlangen aus ethischer Perspektive als scheinbar legitime Optionen eines „autonom" Handelnden darstellen.

Im Rahmen des damaligen Sterbehilfediskurses in der Schweiz artikulierte der katholische Theologe und Sozialethiker Alberto Bondolfi im Jahr 2000 Unsicherheiten in Bezug auf Eigen- und Fremdverantwortlichkeit beim assistierten Suizid. Noch in den 1990er Jahren wurde bei Schweizer Sterbehilfeorganisationen wie etwa Exit versucht, die Beihilfe zum Suizid als eine vollständig dem Suizidenten zurechenbare Handlung anzusehen, bei der die helfende Person nur die Bereitstellung der dazu notwendigen Mittel organisierte und sich kaum moralisch mitverantwortlich für den Vollzug der (Selbst-)Tötung fühlen sollte. Nach Bondolfis Auffassung macht sich jedoch diejenige Person, die dem Suizidenten „hilft", entweder dessen Motive und Argumente zu eigen, oder sie meint, die autonom gefallene Entscheidung eines Suizidenten sei im Prinzip immer zu respektieren und unter Umständen auch zu unterstützen. Indessen werde auf diese Weise der tatsächliche Sachverhalt bagatellisiert, indem man die ethische Beurteilung des Suizids und der Beihilfe dazu argumentativ entkopple.23

Gleichwohl wehrte sich Bondolfi dagegen, dass Suizidenten per se als „heteronom" gesteuerte Menschen gelten sollten und insofern kaum in der Lage wären, den Sinn ihrer suizidalen Tendenzen und Wünsche nachzuvollziehen. Vor allem Personen im Zustand einer Depression seien zwar auch in ihrem Willen ambivalenter und unentschiedener als psychisch Gesunde. Diese Feststellung impliziere aber nicht, dass man sie vorschnell alle als urteils- und entscheidungsinkompetent einstufen müsse. Bondolfi stellte die Frage, ob Vertreter und Vertreterinnen von Sterbehilfeorganisationen unmoralisch handelten, wenn sie den Suizidwünschen solcher Personen nachgingen und nachgäben. Seine Antwort war ebenso desillusionierend wie entwaffnend: „Ich muss zugeben, dass ich hier relativ ratlos bin."24

Ebenfalls am Ende der 1990er und am Beginn der 2000er Jahre bezog der evangelische Theologe und Ethiker Ulrich Eibach aus Bonn beim Thema Patientenautonomie angesichts des Todes eine deutliche Gegenposition.25 Eibach führte die seit den 1960er Jahren zunehmende Betonung der Selbstbestimmung des Patienten auf eine Individualisierung und Säkularisierung der Lebens- und Wertvorstellungen zurück. Im Zuge dieses Wertewandels werde die Autonomie zum vorherrschenden moralischen und rechtlichen Leitbegriff. Der Begriff Menschenwürde reduziere sich inhaltlich fast nur noch auf Autonomie, und diese werde immer mehr als eine empirisch feststellbare Entscheidungs- und Handlungsautonomie verstanden, jedoch nicht mehr – wie noch bei Immanuel Kant – als transempirisches beziehungsweise transzendent(al)es Postulat. Entsprechend werde die Selbstbestimmung zu einem Recht auf absolute Selbstverfügung über das eigene Leben und dessen Beendigung ausgedehnt. Religiöse und metaphysische Auffassungen, in denen der Mensch unter dem Aspekt seiner bleibenden Abhängigkeit von Gott und den Naturbedingungen des Lebens sowie unter dem Aspekt seines Angewiesenseins auf die Zuwendung der Mitmenschen betrachtet wird, würden zunehmend als Widerspruch zur zentralen Forderung nach autonomer Selbstbestimmung empfunden und entsprechend abgelehnt. Die Rechtsprechung sei dieser Entwicklung gefolgt und habe immer mehr die alleinige Entscheidungsbefugnis des Patienten herausgestellt.26

Eibach machte den sich ausbreitenden ethischen Relativismus für die ständige Beschwörung der „Selbstbestimmung" des „mündigen" Patienten mitverantwortlich: Dem Patienten werde die Fähigkeit zugesprochen und dann auch die Pflicht auferlegt, die Entscheidung selbst herbeizuführen, zu der andere sich wegen der ethischen Verunsicherung nicht mehr in der Lage sähen. Weil man nicht mehr zu gemeinsam geteilten Überzeugungen über das finde, was gutes und richtiges Handeln ist, müsse jeder für sich selbst bestimmen, was für ihn gut und richtig sei. Der Autor stellte zudem die Frage, ob es ernsthaft kranken und todkranken Menschen in erster Linie tatsächlich auf die autonome Selbstbestimmung über ihr Leben und ihre autonome Entscheidung über die Art ihrer Behandlung ankomme: „Ist der ‚autonome‘ Patient nicht ein weitgehend realitätsfernes theoretisches Konstrukt?" Eine sittliche „Pflicht zum autonomen Patienten" hielt der Verfasser für inhuman.27 Wie die tatsächliche Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte jedoch gezeigt hat, sind sowohl Medizinethik als auch Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung exakt in jene von Eibach damals kritisierte Richtung unbeirrt – und wie es scheint irreversibel – weiter vorangeschritten.28

5. Die reproduktive Autonomie der Frau und das Lebensrecht des Embryos

Wenn in medizinethischen Zusammenhängen während der 1990er Jahre der Begriff Autonomie fiel, dann wurde unter dem positiv konnotierten Mantel dieses Begriffs bereits damals nur allzu oft der Tod im Gepäck mitgeführt. Beim Thema Autonomie am Lebensende ging es in der Regel jeweils um eine bestimmte Form von Sterbehilfe, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zunächst „nur" um das Unterlassen oder um den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, später auch um die Tötung auf Verlangen sowie um den assistierten Suizid. Doch auch am Lebensbeginn wurde in dieser Zeit bereits die Autonomie zumindest rhetorisch dann bemüht, wenn es darum ging, ein unerwünschtes Menschenleben gar nicht erst zur Entfaltung gelangen zu lassen.

Beispielhaft für diese Begriffsverwendung ist ein Beitrag der Frauenärztin, Geburtshelferin und Psychotherapeutin Ingeborg Retzlaff (1929 – 2004), die von 1983 bis 1994 Präsidentin der Ärztekammer Schleswig-Holstein war, im Deutschen Ärzteblatt vom 5. Februar 1993. Es ging darin um die sogenannte Abtreibungspille RU-486, ein pharmazeutisches Präparat, das in der Lage ist, frühe Schwangerschaften auf rein medikamentöse Weise abzubrechen. Der darin enthaltene Wirkstoff Mifepriston ist ein Progesteron-Rezeptorantagonist; seine Einnahme in der Schwangerschaft führt innerhalb von 48 Stunden zum Öffnen des Muttermundes und zur Ablösung der Gebärmutterschleimhaut. Das Mittel hat die höchste „Erfolgsrate" bei der Einnahme während der ersten 7 Wochen der Schwangerschaft.

Mifepriston wurde in den 1980er Jahren entwickelt. Bereits vor der Zulassung erregte das Präparat Aufsehen: Teile der Frauenbewegung begrüßten die Entwicklung des Wirkstoffes, Abtreibungsgegner liefen Sturm dagegen. Zunächst erfolgte die Zulassung von Mifepriston29 1988 in Frankreich. Bereits einen Monat nach der Markteinführung musste es aus politischen Gründen jedoch wieder zurückgezogen werden, erst auf ausdrücklichen Wunsch des Gesundheitsministers wurde der Einsatz wieder freigegeben. 1991 folgte die Zulassung in Großbritannien, 1992 in Schweden. Die Zulassung in Deutschland gelang nach langen Debatten erst 1999.

Wenige Monate vor dem damals mit Spannung erwarteten 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der grundgesetzkonformen Ausgestaltung des Schwangerschaftsabbruchs30 (§§218 ff. StGB) vom 28. Mai 1993 schlugen die emotionalen Wellen des kontrovers geführten Diskurses bei diesem Thema hoch. Einerseits, so schrieb Ingeborg Retzlaff, gehe es um die Frage, wieviel Schutzrecht des Staates und der Gesellschaft dem ungeborenen Embryo zukomme und ob dieser Schutz durch das Strafrecht garantiert werden müsse. Andererseits aber „geht es doch genau so sehr um die Frage, wieviel Verantwortung und wieviel autonome Entscheidungsfähigkeit in dieser Frage den betroffenen Frauen zugebilligt werden." 31 Die Autorin prognostizierte, dass in Zukunft für jede Frau die Möglichkeit bestehen werde, postkoital eine Schwangerschaft frühestmöglich abzubrechen, und dies eventuell sogar – abgesehen von der Rezeptur – ohne jede Mithilfe eines Arztes. Man nenne dies schon heute (also im Jahre 1993) „Menstruationsregelung".

Zwar bezog sich die Verfasserin in ihren Ausführungen im Folgenden ausdrücklich auf die „vier Prinzipien medizinethischer Reflexion" von Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Doch bedeutete für sie der „Respekt für die Autonomie der Patientinnen" im vorliegenden Kontext vor allem die Möglichkeit, völlig unabhängig und in absoluter Privatheit „Konzeptionsverhinderung, Menstruationsregulierung und Frühaborte" durchzuführen, sodass die Frauen in die Lage versetzt würden, in eigener Verantwortung und unter eigener Regie ihre Fruchtbarkeit zu regulieren, ohne langfristige Antikonzeptionsstrategien anzuwenden. Es sei wohl diese Utopie der „absoluten Autonomie der Frau" auf diesem Gebiet, die von vielen so heftig bekämpft werde und die für viele eine vollkommene Verschiebung der Weltsicht mit sich bringe, ganz besonders für Männer, denn „mehr Autonomie" in den Bereichen Sexualität und Fortpflanzung löse immer Angst aus. Man werde, so sagte Retzlaff voraus, in weiterer Zukunft nicht umhinkönnen, die Autonomie der Frauen zu respektieren, „wenn sie sich eines für sie verfügbaren Medikamentes zur Regulierung ihrer Fruchtbarkeit bedienen können und werden."32

Der Autorin gelang es durch den Kunstgriff, den Diskurs ganz auf die Ebene der angeblich emanzipatorischen Funktion des in Rede stehenden Präparates für die Rechte der Frau zu lenken, das Problem der damit verbundenen Tötung des Embryos völlig auszublenden. In der Tat war diese rhetorisch geschickt mit dem negativ konnotierten Angst-Begriff operierende Darstellung dazu geeignet, die brachiale Reduzierung von Autonomie auf die pure Willkür potenzieller Anwenderinnen der besagten Abtreibungspille zu verschleiern.

Am Ende der 1990er Jahre rückte auch die bis 2011 in Deutschland nach dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) verbotene oder doch jedenfalls nicht ausdrücklich geregelte Präimplantationsdiagnostik (PID) erstmals ins Blickfeld der Medizinethik.33 Die deutsche Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, die damals am Ethikzentrum der Universität Zürich tätig war, reflektierte 1999 in einem Zeitschriftenbeitrag über das Verhältnis der PID zur Entscheidungsautonomie der Frau beziehungsweise der (potenziellen) Eltern im Rahmen der Reproduktionsmedizin.34 Den ethischen Dissens beim Thema PID rekonstruierte die Autorin nicht nur als einen Widerstreit zwischen dem Primat elterlicher Autonomie und dem Schutz embryonalen Lebens, sondern auch unter dem grundsätzlichen Aspekt, ob Autonomie überhaupt möglich sei. Dabei gelangte sie zu einer eigenen Definition der Bedingungen für autonome Entscheidungen: Nach Auffassung Schöne-Seiferts, die sich in diesem Kontext insbesondere auf eine Arbeit von Ruth Faden und Tom Beauchamp aus dem Jahre 1986 berief,35 muss eine als autonom zu bezeichnende Entscheidung fünf Bedingungen erfüllen: 1. Kompetenz der entscheidenden Person, 2. Absichtlichkeit der Entscheidung, 3. Freiheit von Zwang oder Optionsmanipulation durch Dritte, 4. Hinreichende Kenntnisse der entscheidenden Person, 5. Authentizität der Entscheidung. Im Fall der PID müsse, so schloss Schöne-Seifert, eine institutionelle Stärkung der Autonomie durch Einführung einer Beratungspflicht, einer kontrollierten Berater-Ausbildung sowie durch psychosoziale Begleitforschung und eine Kommerzialisierungs-Kontrolle angestrebt werden.

6. Am Ende der 1990er Jahre: Ökonomie als Gegenspielerin der Autonomie

Eine weitere Facette des inzwischen in den medizinethischen Diskurs eingeführten und dort weitgehend positiv konnotierten Autonomie-Begriffs findet sich am Ende der 1990er Jahre in einer Überschrift des Deutschen Ärzteblattes, in der von einem „Anschlag" auf die Autonomie die Rede ist. Hier ging es jedoch nicht um die Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten, sondern vielmehr um die Tarifautonomie im Krankenhaus, die zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls aus der Sicht der beteiligten Gewerkschaften, als bedroht erschien. Die Gesundheitsreform 2000 sei darauf angelegt, so hieß es in dem Artikel vom 10. September 1999, den bisherigen „Dauerausreißer" aus der Ausgabendisziplin, das Krankenhaus, „an die Kandare zu nehmen". Die Auseinandersetzungen um eine tragbare Kompromisslösung in den krankenhausrelevanten Reformbestimmungen hätten zusätzlich das Klima bei den Tarifauseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den öffentlichen Arbeitgebern in der Umsetzung krankenhausspezifischer Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes und weiterer arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften verschlechtert.36

Der Autonomie-Begriff hatte am Ende des Jahrzehnts durch seine Verwendung in der Medizinethik ein so hohes Ansehen gewonnen, dass diese Aura sich offenbar auch metaphorisch auf das profane Gebiet berufspolitischer Dispute übertragen ließ. Ein „Angriff auf die Autonomie" – hier die institutionelle Freiheit von Krankenhausverwaltungen und Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen betreffend – erzeugte allein als bloßes rhetorisches Stilmittel eine intuitive Abwehrhaltung beim vorwiegend ärztlichen Leserkreis der Zeitschrift. Es dürfte kaum einen besseren Hinweis darauf geben, wie nachhaltig positiv sich der Terminus Autonomie mittlerweile in der Medizin etabliert hatte, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sein Bedeutungsgehalt diffus und in zahlreichen Nuancen schillernd geblieben war.

Ebenfalls unter wirtschaftlichen Aspekten – und insoweit ein gravierendes ethisches Dilemma des frühen 21. Jahrhunderts antizipierend – betrachtete 1999 die Gesundheits- und Sozialwissenschaftlerin Ellen Kuhlmann das Spannungsfeld zwischen dem rhetorisch stets geforderten Informed Consent und der Konflikte vermeidenden Fehlinformation im Rahmen einer empirischen Studie über Patientenaufklärung unter ökonomischen Zwängen. Die von der Autorin erhobenen Befunde waren wenig ermutigend: Das Arzt-Patient-Verhältnis werde zunehmend von ökonomischen Interessen überlagert. Trotz einer mehrheitlichen Präferenz für die wahrheitsgemäße Aufklärung über ökonomische Aspekte dominiere das Bestreben, solche Motive hinter medizinischen Begründungen zu verschweigen. Die ärztliche Informationspolitik weise eine uneinheitliche und für Patienten undurchschaubare Praxis auf.37 Das offizielle Plädoyer für das Wahrheitsprinzip sei nur solange relativ konsensfähig, wie es nicht mit den realen Interessen, Wünschen und Möglichkeiten von Patienten ebenso wie von Ärzten konfrontiert werde. Die Entscheidungsfindung eines Patienten werde zum Produkt ärztlicher Steuerungs- und Manipulationstaktiken, doch Patienten würden in dem Glauben gelassen, es sei ihre eigene Entscheidung.38

7. Der Vorhang zu und alle Fragen offen?

Am Ende seiner epischen Parabel Der gute Mensch von Sezuan, die 1943 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde, stellte Bertolt Brecht (1898 – 1956) die Zuschauer vor eine schier unlösbare Aufgabe, die sich für ihn aus der Enttäuschung über die Unmöglichkeit, in der realen (kapitalistischen) Welt moralisch gut zu handeln, ergab: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen. […] Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!"39

An jene zwischen Resignation und Appell oszillierenden Sätze fühlt sich der Verfasser dieses Beitrags beim Blick auf den Autonomie-Diskurs in der Medizin- und Bioethik der 1990er Jahre erinnert. Man darf sicherlich feststellen, dass in den letzten drei Jahrzehnten eine durch diesen philosophisch, vor allem aber juristisch und politisch geprägten Diskurs beförderte Stärkung des Patientenrechts auf Selbstbestimmung stattgefunden hat, die nach einer allzu langen Prädominanz des ärztlichen Paternalismus während des 20. Jahrhunderts notwendig geworden war und die ungemein befreiend gewirkt hat. Niemand, der als Medizinstudierender oder als junger Arzt noch in den 1970er oder den frühen 1980er Jahren sozialisiert wurde, möchte sich selbst oder seine Patienten heute erneut der autoritären Hierarchie und den willkürlichen Launen damaliger (Chef-)Ärzte ausgeliefert sehen, die den Begriff der Selbstbestimmung im Krankenhaus allenfalls auf ihre eigene Person bezogen.

Auf der anderen Seite entfaltet der rhetorische Kult um den Autonomie-Begriff gerade seit den 1990er Jahren in der akademischen Medizinethik eine zunehmende Eigendynamik, deren Beschleunigung bis in die Gegenwart anhält und die nicht ohne Sorge betrachtet werden kann. Während auf der argumentativen Vorderbühne, der Front of House im Sinne des Soziologen Erving Goffman (1922 – 1982), vor allem der positiv konnotierte Begriff Respekt für die Selbstbestimmung geradezu obsessiv ins Zentrum der Debatten gerückt wird, geht es hinter den Kulissen, also Backstage, häufig darum, den Schutz des menschlichen Lebens im Interesse der biologischen Forschung oder der „reproduktiven Freiheit" von Bürgerinnen und Bürgern einerseits so spät wie möglich beginnen, ihn andererseits aber unter dem Druck demografischer und vermeintlicher ökonomischer Notwendigkeiten eher früh enden zu lassen. Medizin- und Bioethik, die dem Wortsinn nach Bereichsethiken des Heilens beziehungsweise des Lebendigen schlechthin sein sollten, verwandeln sich vor unseren Augen seit einem Vierteljahrhundert allmählich in Disziplinen, die allzu oft den Tod im Gepäck haben, dessen vorzeitige Herbeiführung sie auch noch philosophisch zu rechtfertigen suchen.40

Auf die Gefahr einer neuen Fremdbestimmung unter dem Deckmantel der Autonomie muss deshalb umso mehr hingewiesen werden, je häufiger mit diesem schillernden Terminus in der Medizinethik jongliert wird. Wie der Philosoph Roland Kipke zutreffend dargelegt hat, gibt es in der Bioethik bis heute keinen zureichenden Diskurs darüber, aus welchen Gründen Autonomie so wichtig ist und warum wir dazu verpflichtet sein sollen, sie zu achten. Für Kipke „drängt sich der Verdacht auf, dass eine im engeren Sinne moralische Begründungsstrategie, das heißt eine Begründung allein durch moralphilosophische Überlegungen, die auf Anleihen bei einem Konzept des guten Lebens verzichtet, weithin insgeheim für unmöglich gehalten wird und man den Versuch daher lieber unterlässt."41 Es empfiehlt sich angesichts dieser schwachen Begründungslage umso mehr, im Einzelfall sehr genau zu prüfen, ob überall dort Selbstbestimmung enthalten ist, wo Autonomie postuliert und rhetorisch in Anspruch genommen wird. Zweifel daran sind erlaubt, ja vielleicht sogar geboten.

Referenzen

  1. Reiter-Theil S., Therapiebegrenzung und Sterben im Gespräch zwischen Arzt und Patient. Ein integratives Modell für ein vernachlässigtes Problem, Ethik in der Medizin (1998); 10: 74-90
  2. ebd., S. 77-78. Siehe dazu auch das autobiografische Werk: Noll P., Diktate über Sterben & Tod, mit einer Totenrede von Max Frisch, Pendo Verlag, Zürich (1984)
  3. ebd., S. 88-89
  4. Quante M., Zwischen Autonomie und Heiligkeit: Ethik am Rande des Lebens, Philosophischer Literaturanzeiger (1996); 49: 270-294
  5. Quante M., Passive, indirekte und direkt aktive Sterbehilfe – deskriptiv und ethisch tragfähige Unterscheidungen?, Ethik in der Medizin (1998); 10: 206-226
  6. ebd., S. 220-221
  7. Bondolfi A., Beihilfe zum Suizid: grundsätzliche Überlegungen, rechtliche Regulierung und Detailprobleme, Ethik in der Medizin (2000); 12: 262-268, hier S. 263
  8. ebd., S. 266
  9. Eibach U., Vom Paternalismus zur Autonomie des Patienten? Medizinische Ethik im Spannungsfeld zwischen einer Ethik der Fürsorge und einer Ethik der Autonomie, Zeitschrift für medizinische Ethik (1997); 43: 215-231; Eibach  U., Patientenautonomie angesichts schwerer Krankheit und des Todes? Eine empirisch-kritische Betrachtung eines philosophisch-juristischen Postulats, Institut für Glaube und Wissenschaft, Marburg (2002), www.iguw.de/uploads/media/Patientenautonomie.pdf (letzter Zugriff am 29.8.2016)
  10. Eibach (2002), vgl. Ref. 25, S. 1
  11. ebd., S. 2, S. 4 und S. 7
  12. siehe dazu auch Bauer A. W., Normative Entgrenzung. Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland, Springer VS, Wiesbaden (2017), hier Teil V: Sollen wir sterben wollen? Der Mensch am Lebensende, S. 219-273
  13. Der Handelsname lautet(e) Mifegyne®
  14. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 28.05.1993 (Az.: 2 BvF 2/90), Karlsruhe (1993), BVerfGE 88, 203 ff., www.jurion.de/Urteile/BVerfG/1993-05-28/2-BvF-2_90 (letzter Zugriff am 29.8.2016)
  15. Retzlaff I., RU 486: Angst vor der Autonomie der Frauen?, Deutsches Ärzteblatt (1993); 90: A254-A256, hier und im Folgenden S. A254
  16. ebd., S. A256
  17. Zur Geschichte der PID in Deutschland bis zum Jahr 2011 siehe Bauer  A. W., vgl. Ref. 28, Kapitel 17: Die Präimplantationsdiagnostik als Gefahr für den Lebensschutz, S. 193-202
  18. Schöne-Seifert B., Präimplantationsdiagnostik und Entscheidungsautonomie, Ethik in der Medizin (1999); 11: S87-S98
  19. Faden R. R., Beauchamp T. L., A History and Theory of Informed Consent, Oxford University Press, Oxford (1986)
  20. Clade H., Krankenhäuser: Anschlag auf Autonomie, Deutsches Ärzteblatt (1999); 96: A2173
  21. Kuhlmann E., Im Spannungsfeld zwischen Informed Consent und konfliktvermeidender Fehlinformation: Patientenaufklärung unter ökonomischen Zwängen. Ergebnisse einer empirischen Studie, Ethik in der Medizin (1999); 11: 146-161, hier S. 146-147
  22. ebd., S. 154, 155, 159. Siehe auch Sulmasy D. P., Managed Care and the New Medical Paternalism, Journal of Clinical Ethics (1995); 6: 324-326
  23. Brecht B., Der gute Mensch von Sezuan. Parabelstück, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main (1964)
  24. Bauer A. W., vgl. Ref. 28, Vorwort, S. IX-X
  25. Kipke R., Autonomie als Element des guten Lebens. Über die Begründung eines zentralen Prinzips in der Medizinethik, in: Anselm R., Inthorn J., Kaelin L., Körtner U. (Hrsg.), Autonomie und Macht. Interdisziplinäre Perspektiven auf medizinethische Entscheidungen, Edition Ruprecht, Göttingen (2014), S. 67-83, hier S. 72

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. med. habil. Axel W. Bauer
Leiter des Fachgebiets Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Medizinische Fakultät Mannheim der
Universität Heidelberg
Ludolf-Krehl-Straße 7-11, D-68167 Mannheim
axel.bauer(at)medma.uni-heidelberg.de

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Anthropologie und Bioethik
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