Bioethik aktuell

Die Perversion des Altruismus: Suizid für ältere Menschen als soziale Pflicht?

Schweizer Ärzte verklären den assistierten Suizid älterer Menschen als „Opfertod für die Gemeinschaft“

Lesezeit: 07:04 Minuten

Am 11. Dezember 2020, mitten in der Corona-Krise, erklärte der österreichische Verfassungsgerichtshof das Verbot der Beihilfe zum Suizid für verfassungswidrig. Ludwig A. Minelli, Gründer des Schweizer Sterbehilfe-Verein Dignitas, verbuchte diesen Schritt als persönlichen Erfolg. Minelli, der bis zuletzt öffentlich auftrat, nahm sich nun im Alter von 92 Jahren unter Mithilfe seiner Mitarbeiter selbst das Leben. Prominente Ärzte propagieren mittlerweile den „Senizid“ als ehrenwerte und sozialverträgliche Lösung.

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Dignitas wurde 1998 vom Journalisten und Juristen Ludwig A. Minelli gegründet. Klares Ziel des Vereins ist es, durch Musterprozesse und Lobbying die Freigabe der „Sterbehilfe“ weltweit durchzusetzen. Bereits 2018 kündigte Minelli an: „Wir sind bereit, derartige Verfahren zu finanzieren, denn es ist unsere Aufgabe und unser Auftrag, auch in Österreich das Licht der Freiheit anzuzünden. Das wird wohl in den nächsten zwei bis drei Jahren vonstattengehen.“

Das Kalkül der Sterbehilfe-Missionare (Swissinfo, 18.11.2018) ging auf. Dignitas finanziert weltweit Anwälte, die Klagen bei den nationalen Verfassungsgerichtshöfen einbrachten. Minelli verbuchte zahlreiche „Pro-Sterbehilfe-Urteile“ als seine persönlichen Erfolge: In Österreich führte eine von Dignitas angestiftete Klage zum Verfassungsgerichtsurteil von 2020 ebenso wie in Deutschland. Auch in der Legalisierung der Euthanasie in Kanada (2016), einigen australischen Bundesstaaten und Frankreich (2025) sieht Minelli seine Handschrift. Im Gesetzesentwurf von Frankreich zur „aktiven Sterbehilfe“ soll das Verhindern eines (Selbst-)Tötungswunsches mit bis zu 30.000 Euro Strafe belegt werden (Bioethik aktuell, 24.6.2025).

Kurz nach der Verkündung des VfGH-Erkenntnisses trat die Österreichische Gesellschaft für Humanes Lebensende (ÖGHL) auf den Plan, die sich als erster Sterbehilfe-Verein des Landes präsentierte. Damaliges Mitglied des Beirats war Dignitas-Gründer Ludwig Minelli. Die ÖGHL ist Mitglied der World Federation of Right to Die Societies (WFRTDS), die koordiniert an der weltweiten Verbreitung eines „Rechtes auf einen würdigen Tod“ arbeitet. Nicht nur für Kranke, auch für Gesunde, etwa im Seniorenalter.

Deutschland: Die Kessler-Zwillinge und der Trend zum „Altersfreitod“

Erst jüngst hatte in Deutschland der Suizid der „Kessler-Zwillinge“ für Debatten gesorgt. Die 89-jährigen Unterhaltungskünstlerinnen hatten ihren Tod mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben geplant. Bei der DGHS hatten sich den Angaben zufolge 2022 noch 229 Menschen für eine solche Form des begleiteten Sterbens entschieden, in diesem Jahr waren es bereits um die 800 Menschen. Der Großteil der Betroffenen sei 80 bis 90 Jahre alt (Die Zeit, 18.11.2025). Kritiker warnten vor einem Anstieg der Suizide aufgrund der unkritischen Berichterstattung über den assistierten Suizid des prominenten Geschwisterpaares.

Die umstrittene Finanzierung: Wucher und Millionenerbschaften

Dignitas geriet wiederholt selbst ins Visier der Justiz. Seinem Gründer Minelli wurde vorgeworfen, sich persönlich mit Erbschaften seiner „Kunden“ bereichert zu haben bis hin zum Verdacht der Anstiftung zum Selbstmord. Verurteilungen blieben jedoch aus.

Besonders brisant war der Fall eines 34-jährigen depressiven Österreichers aus einer wohlhabenden Kärntner Unternehmerfamilie. Per Testament vermachte er einem Minelli nahestehenden Verein einen Teil seines Erbes in Millionenhöhe. Auf Intervention der Mutter widerrief das Opfer sein Testament im März 2013 – wenige Minuten vor seinem mithilfe von Dignitas durchgeführten Suizid. Minelli klagte daraufhin, der Rechtsstreit endete in einem Vergleich.

In der Schweiz ist die Zahl der Selbsttötungen mithilfe Dritter zwischen 2010 und 2023 um 385 Prozent gestiegen (Die Presse, 5.9.2025). Die Sterbehilfe-Organisation finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Erbschaften. Der Verein zählte nach eigenen Angaben 2025 rund 10.000 Mitglieder aus mehr als 80 Ländern. Dignitas legt seine Einnahmen nicht offen.

Die größte Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit unterstützt explizit den „Altersfreitod“ für „Personen, die im und ums Alter leiden“. Exit hat derzeit knapp 182.00 zahlende Mitglieder. Alleine 2024 sind knapp 20.000 neue Mitglieder dazu gekommen, vorwiegend ältere Menschen. Das Durchschnittsalter bei Durchführung des Suizids war 80,7 Jahre bei Frauen und 79 Jahre bei Männern. Exit hat mittlerweile nach eigenen Angaben ein Bruttovermögen von 49,4 Millionen Schweizer Franken angehäuft.

Von der Selbstbestimmung zur Last: Senizid als altruistische Pflicht?

Während die WHO den Suizid als tragisches Ereignis bezeichnet und weltweit in Prävention investiert, versuchen prominente Schweizer Ärzte, den assistierten Suizid älterer Menschen umzudeuten (International Journal of Public Health, Oct 2025). Unter dem Deckmantel der „individuellen Autonomie“ wird der Weg für eine Gesellschaft bereitet, in der der Alterssuizid als ehrenwerter Akt sozialer Pflicht gilt.

„Altruismus“ als Euphemismus für sozialen Druck

Die drei Schweizer Mediziner, unter ihnen der Gynäkologe Uwe Güth, Berater von Exit und Bewürworter einer „Sterbehilfe“ für alle als Krankenkassenleistung, interpretieren den Suizidwunsch alter Menschen als „Verantwortung“ und „altruistische Leistung“. Senioren könnten ihren Tod als „letzten großen Akt der Selbstbestimmung“ und gleichzeitig als „Opfertod für die Gemeinschaft“ verstehen – ein moralisches Narrativ, das Suizid zur sozialen Tugend verklärt.

Diese Argumentation verkehrt die Grundlagen menschlicher Solidarität ins Gegenteil. In einer humanen Gesellschaft sorgt die Gemeinschaft für ihre schwächsten Glieder – nicht umgekehrt. Aus der Fürsorgepflicht der Gesellschaft wird eine Sterbepflicht des Individuums.

Altern als Indikation: Das utilitaristische Menschenbild

Der assistierte Suizid solle auch bei alten Menschen ohne schwere terminale Erkrankung erlaubt sein, sagen die Autoren – ganz im Sinne von Exit. Als Indikation nennen sie „altersbedingte Polymorbidität“ – also normale Begleiterscheinungen des Alterns wie eingeschränkte Mobilität, Inkontinenz, nachlassendes Seh- und Hörvermögen oder Einsamkeit nach dem Verlust von Angehörigen.

Dahinter steht ein zutiefst utilitaristisches Menschenbild: Der Mensch zählt nicht in seiner unveräußerlichen Würde, sondern nach Kosten-Nutzen-Kalkül. Reduziert auf gesellschaftliche „Nützlichkeit“, soll er sich selbst eliminieren, wenn er nicht mehr „beiträgt“ – unter dem moralischen Siegel des „Altruismus“.

Die ökonomische Dimension: Wenn Kosteneffizienz über Menschenleben entscheidet

Ökonomische Überlegungen mischen sich immer offener in die Debatte. Der belgische Gesundheitsmanager Luc Van Gorp, Vorsitzender der größten belgischen Gesundheitskasse „Christelijke Mutualiteiten“, schlug 2024 vor, dass „lebenssatte“, jedoch ansonsten gesunde Menschen die Möglichkeit haben sollten, auf Wunsch getötet zu werden. Angesichts der demographischen Entwicklung – bis 2050 soll sich die Zahl der über 80-Jährigen in Belgien auf 1,2 Millionen verdoppeln – sieht Van Gorp in der Euthanasie eine Lösung für Personalknappheit und steigende Kosten (Bioethik aktuell, 24.4.2024).

In den Niederlanden wurden 2024 offiziell bereits 9.958 Menschen gemeldet, die auf Wunsch durch Tötung starben – zehn Prozent mehr als im Vorjahr, das sind 27 Personen pro Tag. Mehr als 70 Prozent der Betroffenen waren älter als 70 Jahre.

In Kanada hatten Ökonomen bereits 2017 errechnet, wie viel Geld sich das Gesundheitssystem durch die Einführung der Tötung auf Verlangen einsparen kann. Wer unter den Folgen von Long-COVID oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, gerät mangels Alternativen in den Sog, aktive Sterbehilfe als letzten Ausweg zu wählen – oder wählen zu müssen. Sterbehilfe ist kostengünstiger als soziale Unterstützung oder eine Therapie (Bioethik aktuell, 6.9.2022).

Das Paradox: Palliative Care als „zu billig“ für Krankenhäuser

Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, sieht ein grundlegendes Paradox: Palliative Care wird in Krankenhäusern noch immer viel zu wenig implementiert – nicht. weil sie zu teuer, sondern weil sie zu billig ist. Die spezialisierte Begleitung sterbender Menschen bringt den Kliniken im gegenwärtigen Abrechnungssystem nicht genügend Erlöse, so Melching beim Nationalen Palliative Care Kongress in der Schweiz. Außer in Schleswig-Holstein sei der Bereich in keinem deutschen Bundesland auskömmlich finanziert, kritisiert Melching. „Kein Pflegeheim kann aus den dafür vorgesehenen Mitteln eine vernünftige Palliativversorgung bezahlen.“

Studien belegen: Palliativmedizin kann tatsächlich Kosten senken, indem unnötige Krankenhausaufenthalte und intensivmedizinische Maßnahmen am Lebensende vermieden werden. Doch das erfordert politischen Willen und strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem. Die Alternative – die Ausweitung von assistiertem Suizid aus Kostengründen – wird öffentlich kaum thematisiert, obwohl sie de facto die preiswertere „Lösung“ darstellt.

Ausblick Österreich: Wer schützt die Freiheit der Institutionen?

Auch in Österreich zeigt sich nach Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes 2022 eine beunruhigende Entwicklung. Zwar hat der VfGH im Dezember 2024 mehrere Beschwerden gegen das Sterbeverfügungsgesetz zurückgewiesen und die gesetzlichen Schutzmaßnahmen ausdrücklich bestätigt. Dennoch steigt die Zahl rasant an: 2023 waren es noch 98 assistierte Suizide, bis Juli 2025 wurden bereits 719 Sterbeverfügungen errichtet und 588 Präparate in Apotheken ausgegeben. Das Muster wiederholt sich mit erschreckender Präzision: Auf die Frage, warum Menschen die Option der Selbsttötung wählen, spielen die Angst vor Abhängigkeit und Verlust an Würde die größte Rolle. Schmerzen rangieren erst an vierter Stelle, so das Ergebnis einer österreichischen Studie von 2025. Mediziner berichten, dass das Angebot palliativer Versorgung unter Patienten oft weniger bekannt sei als die Möglichkeit einer „Sterbeverfügung“.

Der österreichische Gesetzgeber hat ausdrücklich vorgesehen, dass Institutionen sich auf das Freiwilligkeitsgebot berufen können. Auch sie haben Grundrechte, betont Arbeitsrechtsexperte Wolfgang Mazal (IMABE-Interview 29.4.2025). Stattdessen werden sie etwa von der Volksanwaltschaft zunehmend unter Druck gesetzt (Bioethik aktuell, 24.2.2024).

Schweiz: Zürich gegen Zwangsverpflichtung für Institutionen

Zumindest in einem Punkt ist die Schweiz in ihren kantonalen Entscheidungen pluralistischer: Der Zürcher Kantonsrat entschied kürzlich, dass private Alters- und Pflegeheime nicht dazu gezwungen werden dürfen, Sterbehilfe-Organisationen in ihren Räumen zuzulassen (Swissinfo, 30.10.2025). Die Mehrheit der vorbereitenden Kommission lehnte eine entsprechende Volksinitiative ab und verwies auf den Respekt vor der Unternehmensfreiheit.

Institut für Medizinische
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