Bioethik Aktuell

Pandemie: Krise entschuldigt keine niedrigen Wissenschaftsstandards

IMABE: Schlampig konzipierte Studien können schweren Schaden anrichten

Lesezeit: 02:30 Minuten

© Pixabay_4835301_mattthewafflecat

Forscher und Ärzte auf der ganzen Welt befinden sich derzeit in einem Wettlauf, um Impfstoffe gegen das neue Corona-Virus oder Therapien für COVID-19-Patienten zu entwickeln. Der Zeitdruck dürfe aber nicht auf Kosten der Qualität gehen, mahnen Ethiker nun in einem aktuellen Beitrag in Science (Science 23 Apr 2020: eabc1731, DOI: 10.1126/science.abc1731).

„Krisen sind keine Entschuldigung dafür, wissenschaftliche Standards abzusenken“, betonen Alex John London, Direktor des Zentrums für Ethik und Politik an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (USA), und Jonathan Kimmelman, Direktor der Abteilung für biomedizinische Ethik an der McGill University in Montreal (Kanada). Sie rufen dazu auf, die Corona-Pandemie nicht als Grund dafür zu betrachten, bei der Therapie- und Impfstoff-Suche die strengen Forschungsstandards aufzuweichen.

Der weltweite Ausbruch von COVID-19 habe zu zahlreichen Studien geringer Qualität geführt, die schlecht konzipiert waren, in voreingenommener Weise Schlüsse zogen und ohne die sonst übliche Beurteilung durch Fachkollegen („Peer-Review“) veröffentlicht wurden. Dabei werde oft die Auffassung vertreten, dass Notfälle im Bereich der öffentlichen Gesundheit Ausnahmen von den üblicherweise hohen Forschungsstandards erfordern würden (vgl. ORF Science, online, 23.4.2020).

Doch die Probleme in Studien würden nicht einfach angesichts der Dringlichkeit verschwinden – im Gegenteil: Viele der Mängel in der Art und Weise, wie medizinische Forschung unter normalen Umständen durchgeführt wird, scheinen sich während der Pandemie zu verstärken, argumentieren die beiden. Die Verbreitung schlecht konzipierter Studien verstärke das Risiko, knappe Ressourcen auf falsche Hinweise und ineffektive Praktiken umzulenken, während gleichzeitig die Unsicherheit darüber zunehme, wie Patienten am besten behandelt werden können oder das öffentliche Gesundheitswesen reagieren soll. Die Autoren ziehen Vergleiche zum Ausbruch der Ebola-Epidemie, bei der Standardforschungsmethoden vernachlässigt worden und dadurch unschlüssige Ergebnisse entstanden seien. Dadurch sei wertvolle Zeit vertan worden. Dasselbe Muster beobachten die beiden nun mit Blick auf COVID-19.

„Schlampige Studiendesigns oder die Zurückhaltung von Studienprotokollen können schweren Schaden anrichten“, betont auch IMABE-Generalsekretär Enrique H. Prat. „Derzeit schaffen es wegen der Aktualität des Themas etliche Studien in Top-Journals, die sich allerdings nur auf wenige Fälle stützen, daher kaum aussagekräftig sind und die Interpretation der Ergebnisse nicht über Spekulationen hinausgehen kann.“ Prat erinnert daran, wie der Skandal um das Grippemittel Tamiflu die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und Pharmaindustrie stark erschüttert hat (vgl. Bioethik aktuell, 14.5.2014). Bereits 2014 hatte The Lancet eine Debatte um die Zukunft des Wissenschaftsbetriebs aufgegriffen (vgl. Bioethik aktuell, 11.2.2014).

Die Studienautoren betonen, dass trotz aller Herausforderungen der Krise „der moralische Auftrag der Forschung derselbe ist: Es geht darum, die Unsicherheit zu verringern und die Pflegekräfte, Gesundheitssysteme und politischen Entscheidungsträger in die Lage zu versetzen, besser auf die individuelle und öffentliche Gesundheit einzugehen.“ „Strenge Forschungspraktiken können nicht alle Unsicherheiten in der Medizin beseitigen“, so London und Kimmelman, „aber sie können den effizientesten Weg zur Klärung der kausalen Zusammenhänge darstellen, die Kliniker bei Entscheidungen mit folgenschweren Konsequenzen für Patienten und Gesundheitssysteme auszunutzen hoffen“.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: