Wissenschaftler befragten 145 Pflegekräfte aus österreichischen Palliativ- und Hospizeinrichtungen zu ihren Erfahrungen mit dem seit Jänner 2022 geltenden „Sterbeverfügungsgesetz“. Die Studie wurde im International Journal of Environmental Research and Public Health (2025) veröffentlicht und stellt eine der ersten systematischen Untersuchungen zum assistierten Suizid in Österreich nach dessen Legalisierung dar.
Unsicherheit und Sprachlosigkeit im Umgang mit Sterbewunsch
Die Haltung der befragten Pflegekräfte zeigt eine wichtige Differenzierung zwischen Verstehen und Befürworten. 84,7 Prozent können die Entscheidung ihrer Patienten für den assistierten Suizid zumindest teilweise verstehen. Sie wissen aber oft nicht, wie sie angemessen reagieren sollen.
Die Unsicherheit und Sprachlosigkeit, mit Sterbewünschen umzugehen, hält aber nicht davon ab, den assistierten Suizid als Option zu befürworten: 50,3 Prozent unterstützen das neue Gesetz grundsätzlich, ein Drittel lehnt die Legalisierung ab. 62 Prozent fühlten sich in den Entscheidungen gar nicht eingebunden. Mehr als die Hälfte der Befragten arbeitet in Einrichtungen, die Beihilfe zum Suizid in der eigenen Institution grundsätzlich ablehnt.
Suizidwunsch: Abhängigkeit und Würdeverlust überwiegen körperliche Leiden
Besonders auffällig sind die Gründe, die Patienten für ihren Wunsch nach Beihilfe zur Selbsttötung anführen: Nicht Schmerzen stehen im Vordergrund, sondern psychosoziale Faktoren: 76,4 Prozent litten unter Autonomieverlust, 63,6 Prozent unter dem Gefühl, ihre Würde zu verlieren, 66,9 Prozent unter Angst und Unsicherheit. Nur gut die Hälfte nannte starke Schmerzen als Hauptgrund. „Diese Befunde unterstreichen die Bedeutung psychosozialer Unterstützung in der Palliativversorgung“, erklärt die Präsidentin der Österreichischen Palliativgesellschaft und Co-Autorin, Gudrun Kreye.
Ausbildungsdefizite im Umgang mit existenziellem Leiden
Insgesamt ergab die Studie, dass das Pflegepersonal massive Ausbildungsdefizite hat, um Gespräche über das Lebensende/Sterben zu führen: Nur 25,5 Prozent führte regelmäßig Gespräche über Sterbewünsche; 26,2 Prozent sprach nie oder nur selten darüber. Viele Pflegekräfte wissen daher auch nicht, wie sie mit Anfragen zum Sterbewunsch umgehen sollen.
Die Autoren sehen darin ein Kernproblem: Pflegekräfte erhalten keine systematische Schulung im Umgang mit Suizidwünschen, obwohl sie oft als erste Ansprechpartner für entsprechende Patientenanfragen fungieren. Dies führt zu emotionalen, moralischen und professionellen Hemmungen bei der Gesprächsführung.
Anfragen als Ausdruck existenzieller Not
Viele der Befragten wiesen darauf hin, dass Anfragen nach Beihilfe zur Selbsttötung oft Ausdruck existenzieller Not und nicht unbedingt fester Sterbeabsicht seien. Der Auftrag der Hospizarbeit – Leiden lindern, Sinnfragen begleiten, Würde bewahren – scheint für viele Mitarbeitende im Widerspruch zu einer aktiven Rolle bei der Suizidassistenz zu stehen.
Deutsche Studie: Zwischen Verständnis und massiver Überforderung
Während Österreich bereits praktische Erfahrungen sammelt, debattiert Deutschland noch über eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid. Eine Befragung von 558 Hospizmitarbeitenden in 32 Einrichtungen in Deutschland, veröffentlicht 2025 im Fachjournal Healthcare, zeigt ähnliche Herausforderungen. Knapp die Hälfte der Befragten äußerte Zustimmung zu ärztlich begleitetem Suizid: 28,9 Prozent „stimmen eher zu“, 19,1 Prozent „stimmen voll zu“. Gleichzeitig lehnten 40,7 Prozent eine Beteiligung aus persönlicher Überzeugung ab.
Angst vor emotionaler Belastung und Mehrarbeit
Ein Drittel der Befragten (34,1 Prozent) befürchtet, durch die Auseinandersetzung mit Beihilfe zum Suizid emotional stark belastet zu werden. Fast ebenso viele (32,6 Prozent) erwarten eine deutliche Mehrarbeit, sollte der assistierte Suizid gesetzlich geregelt und in den Alltag integriert werden. Jeder Dritte (31,7 Prozent) geht zudem von häufiger werdenden Konflikten mit Patienten aus.
Sorge um Verdrängung palliativer Möglichkeiten
Besonders groß ist die Sorge, dass die Beihilfe zum Suizid zu schnell als vermeintlich einfacher Ausweg gesehen wird: 39,2 Prozent „stimmen eher zu“, dass dies passieren könnte, 31,9 Prozent sogar „voll und ganz“. Statt als letzte Option in extremen Situationen fürchten viele, dass Suizidassistenz zur vermeintlich pragmatischen Lösung werden könnte – und damit die Grundidee der Hospizarbeit, Leiden zu lindern und Leben bis zuletzt zu begleiten, in den Hintergrund gerät. Fast 40 Prozent befürchten, dass suizidassistierte Angebote palliative Möglichkeiten verdrängen könnten, bevor diese überhaupt ausgeschöpft wurden.
Deutsche Institutionen völlig unvorbereitet
Am deutlichsten ist vielleicht der Befund zur institutionellen Ebene. Es fehlen klare Leitlinien, Weiterbildungsangebote, psychologische Unterstützung oder gar Strategien, wie mit Anfragen nach assistiertem Suizid umgegangen werden soll. Fast 80 Prozent erleben ihre Institutionen als unzureichend vorbereitet angesichts der Herausforderungen des Wunsches von Patienten nach vorzeitiger Beendigung ihres Lebens. Viele Mitarbeiter fühlen sich damit allein gelassen und sehen sich einer gesellschaftlichen Erwartung gegenüber, die ihnen keine Orientierung bietet.
Geteilte persönliche Haltungen der deutschen Hospizkräfte
Auch die persönlichen Einstellungen der Mitarbeitenden sind von Ambivalenz geprägt. Diese Zahlen spiegeln wider, dass die Fachkräfte nicht losgelöst von persönlichen Werten agieren. Vielmehr geraten sie in Konflikt zwischen individuellem Glauben, beruflichem Auftrag und gesellschaftlicher Erwartung.
Viele Befragte berichten zudem, dass Anfragen nach assistiertem Suizid oft weniger ein fester Sterbewunsch sind, sondern Ausdruck existenzieller Not: Angst vor Kontrollverlust, Vereinsamung, Schmerz. In solchen Momenten sehen sich Hospizkräfte in der Rolle, Alternativen aufzuzeigen und nicht darin, den Tod aktiv zu beschleunigen.
Psychosoziale Unterstützung kann Sterbewünschen entgegenwirken
Psychosoziale Unterstützung kann Sterbewünschen präventiv entgegenwirken, betonen die Forscher. Die österreichische Studie hebt hervor, dass die Thematisierung unerfüllter Bedürfnisse „einige Patienten sogar davon abhalten könnte, assistierten Suizid zu verfolgen“. Dafür braucht es jedoch dringend klare Ausbildungsstandards und interdisziplinäre Schulungen für Pflegekräfte, um den ethischen und emotionalen Herausforderungen des assistierten Suizids professionell zu begegnen.
DACH-Forum: Expertenwarnung vor verkürztem Autonomiebegriff
Beide Studien decken sich mit den Forderungen des D-A-CH-Forums Suizidprävention und assistierter Suizid - einem interdisziplinären Expertennetzwerk aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Forum kritisiert, dass der öffentliche Diskurs zu stark von einem verkürzten Autonomieverständnis geprägt sei und wichtige Forschungsergebnisse aus Psychiatrie, Psychotherapie und Suizidprävention ausblende.
Wunsch nach Suizid ist kein Handlungsauftrag
In ihrer aktuellen Ittinger Erklärung 2025 stellt das Forum klar: „Die Anfrage nach assistiertem Suizid sollte nicht als Handlungsauftrag, sondern in aller Regel als eine Form der Beziehungsaufnahme verstanden werden.“ Suizidalität sei in den meisten Fällen „Ausdruck einer Not, der Mensch möchte 'so' nicht mehr weiterleben“. Rein rational begründete und sich allein auf Autonomie stützende Erklärungen ließen das Wissen aus Suizidforschung und Psychotherapie außer Acht.
Gesellschaftliche Entsolidarisierung als Gefahr
Das Forum warnt vor besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwicklungen: „In der Langzeitversorgung ist zu beobachten, dass insbesondere hilfe- und pflegebedürftige Menschen zunehmend assistierten Suizid einfordern, der als ein gutes Ende hochstilisiert wird und das vermeintliche Ideal des 'Nur-nicht-zur-Last-Fallens' erfüllen soll.“ Diese Stimmung führe zunehmend zu einer Entsolidarisierung, und die Selbstverständlichkeit der mitmenschlichen Hilfeleistung gehe verloren.
Alle Gesundheitseinrichtungen müssen ihre Mitarbeitenden „im Umgang mit Suizid- und Todeswünschen und in Suizidprävention schulen“. Zudem müsse die Verweigerung der Mitwirkung beim assistierten Suizid respektiert werden, ohne berufliche Nachteile zu befürchten.
Psychiater und Palliativmediziner: „Mensch ist ein soziales Wesen“
Das Forum, das 2023 in Schloss Hofen gegründet wurde, betont in seiner Ittinger Erklärung 2025: „Der Mensch als soziales Wesen ist während seines ganzen Lebens auf andere bezogen, auf sie angewiesen und verwiesen. Angewiesenheit ist somit eine Grundverfasstheit des Menschen.“ Die Entwicklung des Selbst und damit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung sei nur durch andere und mit anderen Menschen möglich.
Die grundlegende Erkenntnis der Suizidforschung, dass suizidale Menschen „nicht sterben, sondern 'so' nicht mehr leben wollen“, müsse Richtschnur im Umgang mit Sterbewünschen werden. Das Forum setzt sich für eine „menschenfreundliche und lebensbejahende Gesellschaft“ ein, in der alle Menschen ihren Platz haben und sich als vollwertige Mitglieder erleben können.