Bioethik Aktuell

Sterben als Freiheit? Europas neues Gewissen und der stille Kulturwandel zur „Sterbehilfe“

IMABE-Direktorin Susanne Kummer analysiert Entwicklungen der „Sterbehilfe“ in Europa und warnt vor Risiken

Lesezeit: 05:58 Minuten

In immer mehr europäischen Ländern wird die sog. "Sterbehilfe" legalisiert oder diskutiert. Sie soll unnötiges Leiden verhindern und Selbstbestimmung garantieren. Anhand der Entwicklungen in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien zeigte IMABE-Direktorin Susanne Kummer beim Kongress Leben.Würde auf, wie sich das Angebot des organisierten Todes auf Suizidraten, ärztliches Handeln und den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod auswirkt. 80 Prozent aller Betroffenen, die sich unter Mithilfe anderer das Leben nehmen, sind Pensionisten und Hochaltrige.

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Ist „Sterbehilfe“ das das neue Normal? Mit dieser provokanten Frage eröffnete die Ethikerin Susanne Kummer ihren Vortrag auf dem Kongress Leben.Würde am 8. Mai 2025 und führte ihr Publikum durch eine dichte Analyse der aktuellen Entwicklungen rund um assistierten Suizid und Tötung auf Wunsch in Europa. Die Vorstellungen vom „guten Leben“ und damit auch vom „guten Sterben“ haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch gewandelt – mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen, so die Direktorin des Wiener Bioethik-Instituts IMABE.

Gemeinsame Anliegen, gegensätzliche Antworten

Zunächst betonte Kummer, dass es bei dieser Debatte einen gemeinsamen Nenner gibt: Niemand will unnötiges Leiden, es müsse gemeinsames Anliegen sein, Leid zu lindern und Menschen nicht sinnlos Schmerzen auszusetzen. Ebenso sei Selbstbestimmung ein zentrales Anliegen, das Kummer persönlich teilt. „Auch ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich zu leben oder zu sterben habe“, betonte sie. Doch die Legalisierung der „Sterbehilfe“ sei keine Antwort auf diese berechtigten Anliegen, sondern vielmehr Symptom eines fragwürdigen Menschenbildes. „Die Utopie einer leidfreien Gesellschaft führt uns in eine Dystopie“, so ihre eindringliche Warnung.

Drei Faktoren des kulturellen Wandels

Weshalb viele Menschen dennoch für die Legalisierung der „Sterbehilfe“ eintreten, obwohl die Schmerztherapie so weit entwickelt ist wie nie zuvor, erklärte Kummer mit einem grundlegenden kulturellen Wandel. Ihrer Analyse nach prägen drei Faktoren diesen Paradigmenwechsel: Erstens steht die Forderung nach radikaler Selbstbestimmung im Zentrum, die sich zunehmend vom Gemeinwohl und von zwischenmenschlicher Verantwortung ablöst. Der Tod wird als letzte Möglichkeit zur Selbstverfügung verstanden, der Suizid wird nicht mehr als Ausdruck von Verzweiflung oder Gewaltakt, sondern als Befreiungsakt persönlicher Freiheit interpretiert.

Zweitens, so Kummer, fürchten viele Menschen vor allem den Kontrollverlust am Lebensende. Der Tod soll planbar, beherrschbar und kontrolliert sein. Das bringt eine psychologische Erleichterung, die aber im letzten nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der Tod unausweichlich und für jeden kommt – und damit ein Moment der äußersten Fremdbestimmtheit bedeutet.

Drittens diagnostizierte sie eine zunehmende Manipulation der Sprache: Begriffe wie „Sterbehilfe“, „Selbstbestimmung“ oder „Würde“ werden widersprüchlich verwendet. Würde wird daran genknüpft, dass das Leben nur unter bestimmten Bedingungen gewollt ist. "Ist also der Wille für die Würde ausschlaggebend?" „Die einen meinen mit ‚Sterbehilfe‘ Tötung, die anderen Beistand und Palliativ Care. Die einen sagen „Recht auf Sterben“, die anderen sagen: „Sterben ist kein Recht, das müssen wir alle. Was wir aber brauchen, ist ein Recht auf gutes Leben bis zuletzt“ so Kummer.

Was die Zahlen wirklich zeigen

Besonders deutlich wurde die Problematik durch den Blick auf konkrete Zahlen und Entwicklungen in europäischen Ländern. In der Schweiz, so zeigte sie, lag die Zahl der assistierten Suizide von Schweizern im Jahr 2023 bei 1.729 Fällen – zusätzlich zu 995 „normalen“ Suiziden. Damit ergibt sich eine Gesamtzahl von 2.724 Fällen pro Jahr, ein klarer Beleg dafür, dass die Legalisierung nicht bestehende Suizide ersetzt, sondern neue Anreize bringt.

Auch in den Niederlanden sei die Lage alarmierend. Dort verzeichne man derzeit etwa 27 Todesfälle durch „Sterbehilfe“ pro Tag – rund 10.000 pro Jahr. Zusätzlich hat eine offizielle Statistik (Stand 2023) ergeben, dass Ärzte angaben, in mehr als 33.000 Fällen medizinische Maßnahmen entweder gesetzt oder unterlassen wurden mit dem ausdrücklichen Ziel, den Tod herbeizuführen. Besonders besorgniserregend sei zudem, dass Ärzte in 517 Fällen zugaben, Euthanasie, wie sie in den Niederlanden unverblümt genannt wird, auch ohne Einwilligung des Patienten durchgeführt zu haben.

Wenn Altsein pathologisiert wird

In Belgien sei die Lage ähnlich brisant: Dort gilt inzwischen das sogenannte „multiple geriatrische Syndrom“ – also typisches Altersleiden wie Schwäche, Rückenschmerzen oder Hörverlust – als gültige Indikation für „Sterbehilfe“. Mehr als 26 Prozent der 4.000 Euthanasiefälle in Belgien im Jahr 2024 lassen sich auf diese "Diagnose" zurückführen. Kummer warnt davor, dass damit Alter selbst zur Krankheit und Tötung auf Wunsch zur Therapie gemacht werde.

Frauen und alte Menschen „wollen“, was ihnen „gespiegelt“ wird

Ein weiteres Thema, das sie eindrücklich schilderte, ist die besondere Betroffenheit von alten Menschen, insbesondere Frauen. In der Schweiz betreffe jeder zweite assistierte Suizid eine Person über 80 Jahre. Zudem sei auffällig, dass bei den klassischen Suiziden Männer dominieren, während bei der „Sterbehilfe“ Frauen überrepräsentiert seien. Hier entsteht eine toxische Kombination aus erwarteten Handlungsmustern, sozialem Druck und der Suche nach Bestätigung durch das Umfeld. Viele Frauen fühlten sich zur Last und übernähmen diesen Eindruck schließlich als eigenen Wunsch – ein Phänomen, das Kummer als „internalisierte Fremdbestimmung“ bezeichnet.

Vertrauensverlust in der Medizin

Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis verändere sich unter dem Einfluss der Gesetzgebung zur „Sterbehilfe“. Wo früher der Arzt als Garant des Lebens galt und suizidale Menschen ihre Verzweiflung offen mitteilen konnten, bestehe nun Unsicherheit: Der Arzt könnte zustimmen und den Wunsch nach einem assistierten Suizid befürworten. In den Niederlanden gebe es inzwischen sogar Leitfäden, wie man ein Gespräch mit dem Arzt so führt, dass er einer Tötung auf Wunsch zustimmt – etwa, indem man seine Freude an kleinen Dingen verschweigt, um nicht als „noch lebensfähig“ zu gelten.

Gewissensfreiheit gerät unter Druck

Besonders bedrückend sei die Lage in Spanien, wo seit 2021 Euthanasie als Teil der Gesundheitsversorgung finanziert wird. Ärztinnen und Ärzte, die sich weigern mitzuwirken, müssen sich öffentlich registrieren. Kummer sprach in diesem Zusammenhang von einem „Pranger“ und einer bedenklichen Erosion der Gewissensfreiheit. „Anstatt zu sagen, wo man Euthanasie bekommt, sagt man, wo man sie nicht bekommt – und das mit Sanktionen.“

Ein realistischer Blick auf Autonomie

In ihrem Ausblick warb Kummer für eine Alternative zur gegenwärtigen Entwicklung. Sie plädierte für eine Kultur der Sorge, die mehr ist als bloße Versorgung. Für sie steht fest: Ein Gesundheitssystem muss den Menschen nicht nur technisch, sondern auch menschlich begegnen. Sinn und Hoffnung müssten wieder zentrale Kategorien werden. Dabei bezog sie sich auf Viktor Frankl, der sagte: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Für Kummer bedeutet das konkret, dass Selbstbestimmung nur in Beziehung gelingen kann. Sie ist keine isolierte Entscheidung, sondern eingebettet in eine tragende Gemeinschaft.

Die Gewissensfreiheit von Ärzten und Pflegekräften muss verteidigt werden

Zudem, so Kummer, brauche es eine palliative Grundhaltung, die nicht erst in Spezialstationen beginnt, sondern alle medizinischen Fachrichtungen durchdringt. Eine klare Sprache sei ebenfalls unverzichtbar: „Wir sollten aufhören, von ‚Sterbehilfe‘ zu reden, wenn wir eigentlich Töten meinen – denn Töten ist keine Therapieoption.“ Human ist eine Gesellschaft „Wir brauchen eine neue Kultur des Sterbens. Und wir müssen das Berufsethos und die Gewissensfreiheit von Ärzten und Pflegekräften verteidigen. Aufgabe des liberal-demokratischen Rechtsstaates sei es nicht, Tötungsregeln festzulegen und Berufe zur Ausführung zu zwingen, sondern das Leben und die Rechte aller zu schützen, betont die Wiener Ethikerin.

Zum Abschluss ihres Vortrags zeigte Kummer das Bild eines Kindes, das von einem Erwachsenen getragen wird und später selbst erwachsen den zum Greis Gealterten, der ihn einst getragen hat, umsorgt. „Wir sind füreinander da – von Anfang bis Ende. Das ist der Kern jeder menschlichen Gesellschaft.“ Genau das sei auch die ethische Herausforderung unserer Zeit: Schwäche nicht als Makel, sondern als Auftrag zu begreifen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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